Das türkischen Online-Magazin „el Yazmarı“ (zu deutsch: „Manuskript“) veröffentlichte am 9. Mai 2020 sowohl auf Englisch als auch auf Türkisch das folgende Interview mit Michael Löwy (Paris).
Vor vielen Jahren haben Sie in dem ökosozialistischen Manifest darauf hingewiesen, dass in der chaotischen Welt des globalen Kapitals spontan unzählige Orte des Widerstands entstehen, und behauptet, diese Orte des Widerstands seien zumeist ihrem Wesen nach ökosozialistisch. Sie haben dazu aufgerufen, dass diese Bewegungen sich die Möglichkeit verschaffen, zusammenzukommen und eine „ökosozialistische Internationale“ zu gründen. In den letzten 15 Jahren hat der Widerstand gegen die chaotische Welt der globalen Kapitalordnung zugenommen und sich ausgebreitet. Vor allem Ende 2019 und Anfang 2020 hat es zahlreiche Unruhen gegeben. Wo stehen wir heute in Bezug auf die Idee einer „ökosozialistischen Internationale“? Sind die Möglichkeiten dafür gewachsen?
Keine „ökosozialistische Internationale“ – aber ein internationales Netzwerk von Ökosozialist*innen…
Der sozial-ökologische Widerstand gegen das globale Kapital hat in der Tat zugenommen. Bäuerinnen und Bauern, indigene Gemeinschaften und Frauen stehen in diesem Kampf an vorderster Front, aber auch die Jugend: Nach dem Anstoß, der von Greta Thunberg ausging, sind Millionen auf die Straße gegangen. Eine solche internationale Mobilisierung für Klimagerechtigkeit ist ohne Beispiel. Das gibt uns Hoffnung, aber die Fossil-Oligarchie ist immer noch an der Macht, und sie setzt ihre katastrophale Regel „business as usual“ durch. Wir bewegen uns schnell auf die Katastrophe zu…
Es hat einige bescheidene, aber interessante Versuche gegeben, nicht eine „ökosozialistische Internationale“ zu bilden ‒ das wäre verfrüht ‒, sondern ein internationales Netzwerk von Ökosozialist*innen. Der jüngste Versuch, der in diesem Jahr gestartet wurde, ist das „Global Ecosocialist Network“[1], eine sehr vielversprechende Initiative.
In vielen Ländern ist über den Green New Deal diskutiert worden, vor allem von der radikalen Opposition in den Vereinigten Staaten, und dann auch über die Grenzen der USA hinaus. Was bedeutet der Green New Deal für Sie? Reicht er aus, um den Planeten zu retten?
Es gibt verschiedene Versionen des Green New Deal. Die interessanteste ist diejenige, für die Alexandra Ocasio-Cortez und die Democratic Socialists of America (DSA) in den USA eintreten. Die Annahme dieses Vorschlags würde nicht den Planeten „retten“, wäre aber ein sehr wichtiger Schritt nach vorne, ein Schritt gegen die hart gepanzerten Interessen der herrschenden kapitalistischen Elite und in Richtung eines ökologischen Übergangs. Um die Katastrophe der globalen Erwärmung zu verhindern, müssten jedoch zunehmend radikale Maßnahmen ergriffen werden, dank denen die Nutzung von fossilen Energien vollständig auslaufen wird und ein antikapitalistischer Transformationsprozess eingeleitet würde.
Kriminelle wie Trump und Bolsonaro sind bereit, Millionen von Toten in ihren Ländern hinzunehmen.
Für diejenigen, die sich mit dem ökologischen Kollaps befassen, war das Virus keine Überraschung. Die Tatsache, dass solche Desaster eine natürliche Folge des kapitalistischen Produktionsverfahrens sind, wird seit vielen Jahren von ökologischen Kämpfen thematisiert, auch von Ökosozialist*innen. Doch wenn Katastrophen ausbrechen, kann diese Perspektive vergessen werden, es können Verschwörungen herrschen. Es ist also gut, auf diese Perspektive näher einzugehen. Welche Beziehung besteht zwischen dem Virus und der Logik des Kapitalismus? Was verursacht die Ausbreitung des Virus?
Ich bin kein Spezialist für Infektionsforschung, daher kann ich dazu nicht viel sagen, außer dass die Verschwörungstheorien ein weiterer Trick der reaktionärsten Figuren des Systems (Trump, Bolsonaro) sind, um die öffentliche Meinung von den wirklichen Problemen abzulenken. Thema Nummer eins ist natürlich die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssystems durch alle neoliberalen Regierungen, indem sie Krankenhäuser schließen, sich weigern, Ärzt*innen und Krankenschwestern einzustellen, was zu einer katastrophalen Situation führte, als das Virus eintraf. Kriminelle wie Trump und Bolsonaro sind bereit, Millionen von Toten in ihren Ländern hinzunehmen, sie geben der Kontinuität der kapitalistischen Wirtschaftstätigkeit den Vorrang, um jeden Preis.
Mit den eintretenden Zerstörungsprozessen tritt die Nichtnachhaltigkeit des Kapitalismus immer deutlicher zutage. Wie ist der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit einer marxistisch-ökologischen Perspektive möglich?
Der Kapitalismus ist nicht nur ein nicht-nachhaltiges System. Er ist ein zerstörerisches System, das den Planeten und damit die Menschheit in Katastrophe führt, die eine in der Geschichte ohne Beispiel ist: globale Erwärmung, Anstieg der Temperatur auf unerträgliche Werte, Schmelzen der Eisflächen, Anstieg des Meeresspiegels ‒ mit dem Verschwinden von Amsterdam, Venedig, New York oder Hongkong ‒ und Austrocknen der Flüsse.
Aus unserer marxistischen Perspektive kann nur eine Revolution gegen das System, die mit den ehernen Gesetzen des Kapitalismus bricht, den Weg für eine neue Gesellschaft und eine ökosozialistische Zivilisation öffnen, die auf den Werten Solidarität, Freiheit, Demokratie und Achtung vor Mutter Erde beruht. Wird dies möglich sein, bevor es zu spät ist? Wir wissen es nicht… Aber wie Bertolt Brecht zu sagen pflegte: „Wer kämpft, kann verlieren, aber wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Aus dem Englischen übersetzt von Wilfried
http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article6597
[1] http://www.globalecosocialistnetwork.net/
Michael Löwy gehört dem siebenköpfigen „Steering Committee“ des GEN an (Anm. d. Übers.).