„Corona“ (alias COVID-19) begann seinen Zug um die Welt in der zentralchinesischen Millionenstadt Wuhan. Vermutlich sprang auf dem dortigen Markt ein mutiertes Virus von Tieren (womöglich von Fledermäusen) auf Menschen über und verbreitete sich dann rasch durch Ansteckung (Tröpfchen-Infektion).
Anders als frühere Epidemien, die den europäischen und den amerikanischen Kontinent nicht erreichten oder nur streiften, machte sich der Erreger der neuen Seuche die von Millionen frequentierten Reise- und Handelsstraßen der Gegenwart zunutze, sprang binnen Tagen und Wochen von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent. COVID-19 wurde zur Pandemie.
Ohne Immunität, unvorbereitet, ohne Vorbeuge- oder Heilmittel befinden wir uns in einer Lage, die derjenigen gleicht, in der sich die Bevölkerungen der altamerikanischen Kulturen Mittel- und Südamerikas befanden. Europäische Eroberer, die selbst „immunen“ Konquistadoren, infizierten sie mit ihnen unbekannten Krankheiten, an denen sie in Massen zugrunde gingen.
Auch die europäische Bevölkerung wurde Jahrhunderte lang stets wieder von Seuchen heimgesucht, denen sie die längste Zeit hilflos gegenüberstand. Pest und Cholera haben sich dem Kollektivgedächtnis am tiefsten eingeprägt.
Manche dieser Epidemien entvölkerten ganze Landstriche, kehrten gelegentlich wieder oder verschwanden ganz. Außer Hygiene- und Quarantäne-Maßnahmen wusste man ihnen jahrhundertelang nichts entgegenzusetzen.
Unkontrollierbare Feinde des Menschen
Die Auseinandersetzung zwischen der von ihm vorgefundenen „Umwelt“ und dem eigentümlichen Naturwesen Mensch (samt seinen Vorläufern) währt schon etwa eine Million Jahre. Als „Invalide seiner höheren Kräfte“ (nämlich der Sprache und der Technik) und als „nicht festgestelltes“, darum außerordentlich anpassungsfähiges Tier – wie Herder und Nietzsche ihn charakterisierten – hat dieser transkontinentale Räuber und Wanderer, vor allem seit der „neolithischen Revolution“, dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht, seinen Bedürfnissen entsprechend mittels Rodung und Wasserbau weite Territorien umgestaltet und unter der Fauna aufgeräumt.
Selbst ein Allesfresser, hat er sich – im Schutzraum seines kulturellen Lebensraums – dem Schicksal des Gefressen-Werdens entzogen. Manche Tiere (wie Mammuts) hat er ausgerottet, ihm gefährliche (wie Bären, Tiger und Wölfe…) dezimiert und die überlebenden in Zoos und Reservate gesperrt.
Doch den Kampf gegen die (wie die atomare Strahlung) ohne spezielle Geräte für ihn nicht wahrnehmbaren Menschenfresser, gegen die mikroskopisch kleinen, stets mutierenden parasitären „Virionen“, die zu ihrer Reproduktion auf Wirtszellen von Pflanzen oder Tieren angewiesen sind, hat er noch längst nicht gewonnen.1 Die Entdeckung von und der Kampf gegen Viren ist ungefähr 150 Jahre alt (der gegen „Bakterien“ währt schon dreieinhalb Jahrhunderte).
Die Suche nach der Erklärung
Bis in die (europäische) Neuzeit gab es auf die quälende Frage nach Herkunft und „Sinn“ der großen Seuchen nur eine, nämlich die magische Antwort: Die Menschen haben den Kult der irdischen und himmlischen Götter, denen sie Leben und Nahrung verdanken, vernachlässigt, ihre Gebote missachtet – sie sind also schuldig geworden.2 Diese Schuld muss abgegolten werden, und es genügt nicht, dass Götter und Dämonen sich selbst mit Hilfe der Krankheit beängstigend große Menschenopfer holen.
Es bedarf immer neuer Sühneopfer und Reinigungsrituale von Seiten der schuldig Gewordenen, die unter dem Druck ihrer Schuld andere Schuldige suchen und finden. Kandidaten dafür waren nicht nur Pestkranke oder Aussätzige, vermeintliche Brunnenvergifter und Brandstifter, Hostien- schänder, Hexer und Hexen, sondern auch Un- und Andersgläubige, „Sünder“ aller Art, „Gezeichnete“, Fremde und Kriegsgefangene … Und so war jede Epidemie, jede Katastrophe, jede Dürre, Überschwemmung und Missernte begleitet und gefolgt von Opferorgien.
„Psychische Epidemien“, heißt es in einer Geschichte der Medizin, „traten besonders nach dem Schwarzen Tod auf und fanden ihren Ausdruck in Akten des Massenwahns, wie der Verbrennung von Tausenden von Juden, den Prozessionen der Flagellanten [Geißler] und den Kinderkreuzzügen (1212).“3
Vorteilhafte Ausbreitungsbedingungen
Von der Frühgeschichte bis in die frühe Neuzeit waren die Menschen den Seuchenzügen hilflos ausgeliefert. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah.
Erst als auf der Grundlage der verallgemeinerten Warenproduktion Nutzenkalküle eine enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität, also der Natur- und Menschenbeherrschung ermöglichten,4 wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auch Biologie und Medizin revolutioniert.5 Seitdem sind Epidemien im Prinzip kontrollierbar geworden, man kann ihnen vorbeugen, sie eindämmen oder sie gar abschaffen.6
Seit 150 Jahren sind Infektionskrankheiten kein Schicksal mehr, so wenig, wie es die Kriege sind oder die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. An die Stelle vieler Naturkatastrophen von dermaleinst sind man-made-disasters [menschgemachte Katastrophen] getreten.
Wenn Epidemien antiquiert noch immer beschrieben und besprochen werden, als handele es sich um Phänomene wie Meteoriten-Einschläge, Tsunamis oder Vulkanausbrüche, dann wird der unbeherrschbaren Natur zugeschrieben, was nur mehr Produkt der unbeherrschten Weltgesellschaft ist. Sie wird von Imperativen der Kapitalakkumulation getrieben und taumelt planlos von einer Katastrophe in die nächste. Nicht wenige der vermeintlichen „Natur“-Katastrophen der Gegenwart sind in Wahrheit Sozial-Katastrophen, und deren „naturale“ Camouflage verhindert die Suche nach den Faktoren hinter den (epidemiologischen) Fakten.
Rückblickend auf die „Ära der Bakteriologie“ schrieb Erwin Ackerknecht: „Man machte die Erfahrung, dass die Kenntnis der parasitären Krankheitsursachen und ihrer wirksamen Behandlungsweise nicht zur Ausrottung der Krankheit führen kann, wenn bestimmte soziale und wirtschaftliche Faktoren für die volle Anwendung dieser Kenntnis ungünstig sind. Dies gilt besonders für die Cholera, für die Malaria, für die Tuberkulose und für die Syphilis. Das ärztliche Wissen würde beim [Ende des 19. Jahrhunderts] schon hohen Stand der Mikrobiologie wahrscheinlich ausreichend gewesen sein, um diese Krankheiten allmählich auszurotten. Doch die schlechten hygienischen und sozialen Bedingungen sicherten […] ihr Fortbestehen und lassen bis heute ihre Ausbreitung in der Dritten Welt zu.“7
Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte boten Höhlen, Häuser, Städte und Mauern relativen Schutz gegen Naturgewalten und sichtbare Feinde, nicht aber gegen unsichtbare und darum unbekannte. Das änderte sich erst in der Moderne, die es ermöglichte, auch zuvor Unsichtbares sichtbar und messbar zu machen und neuartige Schutzvorkehrungen und Heilmittel zu kreieren. Aufgrund der Forschungen von Pasteur, Koch und ihren Nachfolgern ist es möglich geworden, den menschlichen Lebensraum mit neuartigen, feineren Filtern besser gegen Bakterien und Viren zu schützen. Doch im Innern dieses Habitats herrscht noch immer die Ungleichheit und toben Verteilungskämpfe zwischen den Klassen. Von deren Ausgang hängt es nun ab, ob weitere Verfahren der Seuchenbekämpfung entwickelt und genutzt werden können und ob sie wenigen, vielen oder allen zugutekommen.8 Nicht mehr die Wölfe müssen wir fürchten, sondern Menschen, die – unkontrolliert – über finanzielle und militärische Machtmittel verfügen, nicht neue Viren, sondern die traditionell ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die es bisher unmöglich macht, Hunger, Krieg und Seuchen abzuschaffen. Die Ursache heißt Klassengesellschaft!
Reaktionen der Politik
In vielen Staaten der Erde gilt die jeweils verfolgte Politik als „alternativlos“. Weil es schon lange keine großen Parteien mehr gibt, die nicht nur bestimmte Mängel der bestehenden Gesellschaft reformieren, sondern ihre Struktur grundlegend ändern wollen, und weil Sozialwissenschaftler, denen es um solche Alternativen geht, marginalisiert werden, fungieren derzeit einzig Virologen als (wissenschaftliche) Berater jener Regierungen, die das System der Ungleichheit und der Unmündigkeit schlecht und recht verwalten.
Die aus ein paar Parteipolitikern spontan gebildeten „Corona-Stäbe“ erwiesen sich freilich in diesem, von der Seuche bestimmten Frühjahr 2020 als außerordentlich flexibel. Über Nacht schlugen sie große Breschen in den Käfig „alternativloser“ Reform- und Gedankenlosigkeit und verlegten sich, nach Jahren und Jahrzehnten der „Austeritäts“-Politik, um der Wirtschaft und der Volksgesundheit willen aufs Schuldenmachen und auf staatliche Eingriffe in die „Märkte“, deren Kommando ihnen doch bisher stets Gesetz war.
Inwieweit die jüngste Mutation des Corona-Virus durch Rodungen, Massentierhaltung und Klimawandel begünstigt wurde, steht dahin. Dass das Virus sich über die heutigen Reise- und Handelsrouten verbreitet, ist unverkennbar.
Dass Prophylaxe, Eindämmung, Erforschung und Bekämpfung von den verfügbaren Ressourcen (Viren-Spezialisten, Seuchenärzten, Forschungslabors, Pflegepersonal, Krankenhausplätzen, Intensivstationen, Desinfektionsmitteln, Masken, Beatmungsgeräten usw.), überhaupt vom jeweiligen Zustand des Gesundheitssystems abhängen, liegt auf der Hand. Und das heißt: Die Bevölkerungen der Gläubigerstaaten haben gegenüber denen der Schuldnerstaaten auch und gerade in Pandemiezeiten weitaus bessere Überlebenschancen, so wie im Innern der wenigen Wohlstandsinseln die privilegierten Schichten auch im Zeichen von Corona besser, sicherer und länger leben.
Plötzliche Aufmerksamkeit für schlecht bezahlte Jobs
Manager, Handelsagenten, Techniker, Entwicklungshelfer, Touristen und Missionare tragen das Virus in alle Welt. Doch weder in Albanien, noch in Kambodscha, weder auf Haiti, noch auf der Osterinsel wird ein Impfstoff gegen Corona gefunden werden, und falls einer gefunden wird, werden die Pandemie-Opfer in der Dritten und Vierten Welt zu allerletzt davon profitieren.
Die sogenannten hotspots oder Virenschleudern, von denen die Seuche ausstrahlt oder in denen sie immer wieder aufflammt, sind, abgesehen von Lustbarkeiten (Karneval, Sportveranstaltungen, Après-Ski …), Gottesdiensten und politischen Meetings vor allem Kasernen, Schlacht- und Kreuzfahrtschiffe, Flüchtlings- und Gefangenenlager, Slums und die erbärmlichen Massenquartiere für Hunderttausende von billigen Wanderarbeitern, wie sie in der Landwirtschaft, auf Großbaustellen oder in Fleischfabriken eingesetzt werden.
Auf die Existenz dieser Billig-Lohn-Brigaden werden Politik und Öffentlichkeit jetzt, wo sie zu Seuchenopfern und damit zu Gefährdern geworden sind, zum ersten Mal ernsthaft aufmerksam. Kaum eine Gewerkschaft, kaum ein Philanthrop hat sich je für sie interessiert. In den „totalen Institutionen“ – in Gefängnissen, Psychiatrien, Alten- und Pflegeheimen – hält der Tod reiche Ernte. Und gilt das schon für die reichsten Länder, wie wird es erst in den Welt-Armutszonen sein?
Privilegien mit Auto oder Zweitwohnung
Corona wirft ein grelles Licht auf die feinen und weniger feinen Unterschiede, die, um des immerfort beschworenen, imaginären Zusammenhalts „aller“ Menschen willen, national und international geleugnet, beschönigt, relativiert und ignoriert werden.9 Zumindest für die, die überhaupt sehen wollen, werden im Zeichen von Corona die Klassenteilung und die Sprossen der Einkommensleiter, wird die gesamte Hierarchie der sozialen Schichtung sichtbar.10
Wie in Putsch-, Kriegs- oder Besatzungszeiten werden Ausgangssperren (quasi Hausarreste) verhängt. Mit denen ergeht es uns aber ganz dem berühmten Statement von Anatole France entsprechend, wonach das Gesetz es Arm und Reich gleichermaßen verbietet, unter den Brücken (nicht nur von Paris) zu schlafen.11
Stay home galt für normale Mieter, wobei es Balkon- und Gartennutzer schon besser getroffen hatten, erst recht die Hausbesitzer. Nicht betroffen war die Klasse der Autobesitzer, die sich jederzeit frei bewegen konnte, und freier noch waren die mobilisierten Datscha-, Zweitwohnungs- und Residenz-Eigentümer, die weder auf öffentliche Verkehrsmittel, noch auf Hotels angewiesen sind … „Freie Fahrt für freie Bürger!“
Widerstand gegen Maßnahmen
Maßnahmen-Konformität erzeugt auf die Dauer Unwillen. Der aber richtet sich kaum gegen die Privilegierten, deren Leben sich unter Corona-Bedingungen nicht ändert, nicht gegen diejenigen, die weder von Kurzarbeit und Verdienstausfall, noch von Arbeitslosigkeit betroffen sind, und ebenso wenig gegen die offiziellen Maßnahmen-Verordner und Schönredner, die nur im Fernsehen auftreten.
Aggression trifft zunächst die wenigen, die die neuen Regeln allzu strikt, weniger strikt oder gar nicht befolgen. Abstandswahrer attackieren Mitbürger, die es mit dem Abstand nicht so genau nehmen, und überall finden sich Ordner, die über Reihenfolge und Abstände von Schlangenstehern wachen. Schwitzende Maskenträger beschimpfen Unmaskierte. Sie empören sich über die kleinen Ungleichheiten, die ihnen die großen, lebensentscheidenden verdecken. Statt dass sie etwa Risikozuschläge und Lohnerhöhungen für das medizinische Personal verlangten, lassen im Gegenzug ganze Straßenzüge die imaginäre Einheit der Corona-Bedrohten hochleben, mit Musik und Tanz auf Balkonen, mit Nationalhymnen und Beifallklatschen, und wehe dem, der sich von solchen Ritualen dispensiert.
Nach Wochen aber macht sich nun der latente Frust Luft, erst in den „sozialen“ Medien, dann auf Straßen und Plätzen.