Wider die deutsche Staatsräson
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Palästinasolidarität

Wider die deutsche Staatsräson

Von Koordination der ISO | 23.07.2023

Als Internationalist*innen stehen wir grundsätzlich auf der Seite der Unterdrückten, sei es in der Ukraine, im Sudan oder in Myanmar.

Im Falle Palästinas ist die internationalistische Solidaritätsbewegung mit einer besonderen Schwierigkeit konfrontiert: Es gehört zur hiesigen Staatsräson, den Staat Israel nicht nur in allen Konflikten mit seinen Nachbarn oder anderen Staaten zu unterstützen, sondern auch jede grundsätzliche Kritik an der Verfasstheit des israelischen Staates und seiner Politik zu verhindern. Dazu dient vor allem die Diffamierung und Kriminalisierung der Kritiker*innen als Antisemiten, was in aller Regel in keiner Weise sachlich belegt wird. Nach Auffassung der Regierenden und der sie unterstützenden Mainstreammedien reicht es, den Staat Israel mit dem Judentum gleichzusetzen, sodass jegliche Kritik an der Politik des Staates Israel per se antisemitisch ist.

Nicht nur widerspricht dies den tatsächlichen Verhältnissen, es führt in der Konsequenz auch dazu, dass Regierung und Medien hierzulande jede israelische Regierung unterstützen und sei sie noch so rechtsextrem und rassistisch, und zwar auch gegen die Kritik seitens jüdischer Menschenrechtsorganisationen in Israel oder anderswo.

Um die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung in der Rechtsauffassung des israelischen Staates zu verdeutlichen (eine Verfassung in unserem Sinn gibt es in Israel nicht), sei Shlomo Sand, einer der profiliertesten jüdischen Wissenschaftler*innen in Israel, zitiert, der in einem offenen Brief an Macron schreibt:

„Das israelische Innenministerium zählt 75 % der Bevölkerung des Landes als jüdisch, 21 % als arabische Muslime und Christen und 4 % als „andere“[sic!]. Und doch gehört Israel nach dem Geist seiner Gesetze nicht den Israelis insgesamt, wo es doch sogar all den Juden weltweit gehört, die keine Absicht haben, dort zu leben. Damit gehört Israel beispielsweise sehr viel mehr Bernard Henri-Lévy oder Alain Finkielkraut [zwei bekannte Juden in Frankreich] als meinen palästinensisch-israelischen hebräisch-sprechenden Studenten, die die Sprache manchmal besser sprechen als ich! Israel hofft, dass der Tag kommen werde, an dem alle Mitglieder des CRIF [Conseil représentatif des institutions juives de France, Vertreterrat der jüdischen Institutionen in Frankreich] und ihre ,Anhängerʻ nach Israel auswandern! Ich kenne sogar ein paar französische Antisemiten, die angesichts einer solchen Aussicht hocherfreut sind. Auf der anderen Seite könnten wir zwei israelische Minister, Vertraute von Netanyahu, finden, die die Meinung verbreiten, dass es nötig sei, den ,Transferʻ israelischer Araber zu ermutigen, ohne dass das bedeutet, dass irgendjemand ihren Rücktritt fordert.
[…] Ich bin ein Bürger, der wünscht, dass der Staat, in dem er wohnt, eine israelische Republik sein sollte, und kein Staat einer jüdischen Gemeinschaft. Als Nachkomme von Juden, die so sehr unter Diskriminierung litten, möchte ich nicht in einem Staat leben, der mich nach seiner eigenen Selbst-Definition zu einer privilegierten Klasse von Bürgern macht. Herr Präsident, glauben Sie, dass mich das zu einem Antisemiten macht?“[i]

Nakba und fortgesetzte Politik der ethnischen Säuberung

Nicht nur sind die Palästinenser*innen heute Menschen zweiter Klasse (wenn sie in „Altisrael“, dem „1948er Gebiet“, leben) und dritter Klasse (wenn sie in der Westbank oder im Gazastreifen oder als Flüchtlinge in den Nachbarländern leben). Von vornherein war das Kolonisierungsprojekt auf die Vertreibung der ansässigen Bevölkerung ausgerichtet. Schon 1938 schrieb Staatsgründer Ben Gurion: „Wenn wir sagen, dass die Araber uns angreifen und wir uns verteidigen – so ist dies nur die halbe Wahrheit. Was unsere Sicherheit und unser Leben angeht, verteidigen wir uns. Aber das Kämpfen ist nur ein Aspekt des Konflikts, der seinem Wesen nach ein politischer ist. Und politisch gesehen sind wir die Aggressoren und sie verteidigen sich.“

Dass dies (10 Jahre vor der Staatsgründung) keine leeren Worte waren, zeigte sich mit der Katastrophe der Nakba (das erste Massaker war allerdings schon 1929 in Hebron): 1947/48 wurden 750 000 Menschen vertrieben, mehr als 400 Dörfer und Städte zerstört, 1967 wurden die Westbank und der Gazastreifen besetzt usw. Ähnlich wie die jüdischen kritischen Wissenschaftler (Shlomo Sand, Ilan Pappe, Moshe Zuckermann u. a.) kommt der israelische Menschenrechtsaktivist und langjährige Leiter des Alternativen Informationszentrums(AIC) Michael Warschawski zu dem Schluss:

„Für uns ist der Zionismus keine nationale Befreiungsbewegung, sondern eine Kolonialbewegung, und der Staat Israel ist und war immer ein kolonialer Siedlerstaat. Frieden, oder besser noch Gerechtigkeit, ist nicht zu erreichen, ohne eine vollkommene Entkolonialisierung (man könnte auch sagen ,Entzioni­sierungʻ) des israelischen Staates. Denn diese ist die Voraussetzung der legitimen Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser – der Flüchtlinge und derjenigen, die unter israelischer militärischer Besatzung leben oder als Bürger zweiter Klasse in Israel.“[ii]

Apartheidstaat

Zahlreiche internationale Untersuchungen belegen, was die israelischen Wissenschaftler*innen sowie die israelischen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen darlegen: Israel ist aufgrund seiner Struktur ein Apartheidstaat. Hier sei nur auf das verwiesen, was in den letzten Jahren dazu veröffentlicht wurde:

So haben 2021 sechs renommierte Organisationen Berichte zu Apartheid in den von Israel beherrschten Gebieten vorgelegt. Diese sehen den Tatbestand der Apartheid erfüllt, entweder für Israel-Palästina insgesamt (BTselem und Amnesty International) oder bezogen auf die besetzten Gebiete (Human Rights Watch, Yesh Din, der UN-Menschenrechtsrat und die IHRC Harvard Law School). Interessant dabei ist, dass selbst die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die bekanntlich vom bundesdeutschen Außenministerium finanziert wird und üblicherweise Vorlagen für die Begründung der deutschen Politik liefert, an den genannten Untersuchungen nicht vorbei kann.[iii] Es zeugt von der Unehrlichkeit der Herrschenden, dass dies allerdings keine Auswirkungen auf die Politik der Regierung hat, genauso wenig übrigens wie die unzähligen einschlägigen UN-Resolutionen. Dies geht sogar so weit, dass die Regierung Amnesty International vorwirft, unfreiwillig dem Antisemitismus Vorschub zu leisten.[iv] Das Gegenteil ist aber richtig: Die Menschenrechtsverletzungen in Israel und den besetzten Gebieten (dort werden weiterhin unablässig Häuser von Palästinenser*innen zerstört und neue israelische Siedlungen gebaut) dem Antisemitismus Vorschub leistet.

Auch nur die minimalsten Schlussfolgerungen aus all den Untersuchungen zu ziehen stünde offensichtlich im Widerspruch zur deutschen (und auch zur österreichischen) Staatsräson. Stattdessen wird jegliche Kritik an der israelischen Unterdrückungspolitik als antisemitisch bezeichnet, und zwar trotz der Gerichtsurteile, die diesen Behauptungen widersprechen.

BDS-Kampagne: eine politische Gegenwehr

In den 1960er Jahren hatten in der palästinensischen Bevölkerung Organisationen großen Zulauf, die den bewaffneten Kampf gegen den israelischen Staat propagierten. Der Guerillakampf scheiterte allerdings genauso kläglich wie die späteren Wellen von Selbstmordattentaten oder etwa der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist das militärische Kräfteverhältnis viel zu ungünstig für einen erfolgversprechenden militärischen Befreiungskampf (was auch mit der wirtschaftlichen Beherrschung und Kontrolle der besetzten Gebiete, der überlegenen technischen Ausstattung, dem umfangreichen Spitzelwesen des israelischen Geheimdienstes usw. zusammenhängt). Zum anderen schweißt ein solcher Kampf – wenn er auf dem Gebiet des Kernlands von Israel geführt wird – die Bevölkerung nur enger hinter der Regierung zusammen (anders sah es im Libanonkrieg 1982-2000 aus, als die israelische Regierung aufgrund der dort erlittenen Verluste und des daraufhin wachsenden Widerstands der eigenen Bevölkerung den Rückzug befahl).

Angesichts der krassen Erfolglosigkeit militärischer Anstrengungen und fehlender realer Unterstützung durch andere Staaten und angesichts fehlender wirkmächtiger Verbündeter in der jüdischen Bevölkerung bleibt nur der politische Weg, mit Hilfe der internationalen Solidaritätsbewegung wenigstens so viel Druck aufzubauen, dass Bewegung in die starren Verhältnisse kommt und Teile der jüdisch-israelischen Bevölkerung den Konsens der zionistischen Staatsverfasstheit infrage stellen. Die Episode der postzionistischen Debatten unter Wissenschaftler*innen zwischen 1994 und 2000 wurde durch politischen Druck und eine allgemeine Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft wieder abgewürgt.[v]

„Das Scheitern des Oslo-Prozesses bestätigt eine sehr alte geschichtliche Wahrheit: Jeder Versuch einer Versöhnung vor der Verwirklichung von Rechten sorgt nur für ein Weiterbestehen von kolonialen Herrschaftsbeziehungen. Wenn es die Israelis nichts kostet, warum sollten sie dann die kolonialen Herrschaftsbeziehung einstellen? Warum sollten sie eine tiefgreifende interne Krise riskieren?

Genau hier setzt die BDS-Kampagne ein und ist relevant: Sie bietet einen internationalen Rahmen, in dem es möglich ist, das palästinensische Volk bei der Erlangung seiner legitimen Rechte aktiv zu unterstützen und dabei sowohl auf der institutionellen Ebene (Staaten, internationale Institutionen) wie auf der zivilgesellschaftlichen Ebene zu agieren. Auf der einen Seite wendet sie sich an die internationale Gemeinschaft und fordert sie auf, einen Staat, der systematisch internationales Recht, UN-Reso­lutionen, die Genfer Konventionen und von ihm selber unterschriebene Vereinbarungen bricht, mit Sanktionen zu belegen. Auf der anderen Seite wendet sie sich mit dem Appell an die internationale Zivilgesellschaft, auf individueller Ebene wie auch auf der Ebene der sozialen Bewegungen (Gewerkschaften, Parteien, örtliche Gremien, Vereinigungen etc.) durch den Boykott von Waren. Repräsentanten, Institutionen usw., die für den Kolonialstaat Israel stehen, aktiv zu werden. Beides, Boykott und Sanktionen – wird für die israelische Bevölkerung schließlich einen Druck darstellen und sie zu der Einsicht bringen, dass Besatzung und Kolonialisierung einen Preis haben, dass die Verletzung internationaler Regeln früher oder später aus Israel einen Paria-Staat machen wird, der in der Gemeinschaft zivilisierter Nationen nicht willkommen ist – so wie Südafrika in den letzten Jahrzehnten der Apartheid.“[vi]

Diese Kampagne hat keine internationale Leitung und keine festen Strukturen. Das, was die Aktiven am Ort organisieren, entscheiden sie selbst, sei es auf der Ebene der Einschränkung kultureller Kontakte oder des wissenschaftlichen Austauschs, sei es auf der Ebene politischer Kundgebungen. Nicht selten wird dabei auf Waren hingewiesen, die in den besetzten Gebieten hergestellt wurden, aber zumeist falsch deklariert sind, nämlich so, als kämen sie aus dem „1948er Gebiet“. Große Bedeutung hat der akademische und kulturelle Boykott. Wir zitieren aus dem „Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel, bis es das Völkerrecht und die universellen Prinzipien der Menschenrechte einhält“ vom 9. Juli 2005, der von mehr als 300 Organisationen in der Westbank unterstützt wurde:

„Diese gewaltlosen Strafmaßnahmen sollten beibehalten werden, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, das unveräußerliche Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung anzuerkennen, und den Bestimmungen des Völkerrechts vollständig nachkommt, indem es folgende Schritte unternimmt:
1. die Besatzung und Kolonisierung des gesamten arabischen Landes zu beenden und die Mauer abzureißen;
2. die Grundrechte der arabisch-palästinensischen Bürger*innen Israels auf vollständige Gleichberechtigung anerkennt; und
3. das Recht der palästinensischen Flüchtlinge respektiert, schützt und fördert, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie dies UN-Resolution 194 vorsieht.“[vii]

Dafür politischen Druck aufzubauen, auch in Deutschland, ist eine internationalistische Pflicht, die nicht deswegen erlischt, weil der deutsche Faschismus für den Holocaust verantwortlich ist. Die Ermordung und Unterdrückung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe kann niemals rechtfertigen, dass deren Nachkommen heute eine andere Bevölkerung unterdrücken. Nicht die (zumeist sehr rechtsradikalen und rassistischen) israelischen Regierungen dürfen unsere Bündnispartner sein, sondern die jüdischen Menschenrechtsorganisationen und die kritischen Wissenschaftler*innen in Israel und anderswo (etwa die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, Jewish Voice for Peace und andere). Sich dem Druck der Mainstreammedien zu beugen oder die deutsche Staatsräson als Richtschnur zu nehmen, verkennt die Interessen der Herrschenden und widerspricht jeglicher humanistischen Verpflichtung.

Beschluss der Koordination der ISO, Mai 2023


[i] Original unter: https://www.counterpunch.org/2017/08/11/why-i-cannot-be-a-zionist-an-open-letter-to-emmanuel-macron/

[ii] Michael Warschawski, „Yes to Boycott, Divestment and Sanctions. An Answer to Uri Avnery“ (31. August 2009), https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article15225; auf Deutsch gekürzt in Inprekorr, Januar/Feb­ruar 2010, https://www.inprekorr.de/458-bds.htm.

[iii] https://www.swp-berlin.org/publikation/amnesty-international-und-der-apartheid-vorwurf-gegen-israel.

[iv] Siehe https://www.dw.com/de/deutschland-distanziert-sich-von-amnesty-bericht-zu-israel/a-60637004.

[v] Mehr hierzu in Ilan Pappes Buch Die Idee Israel. Mythen des Zionismus, aus dem Englischen übersetzt, Hamburg: Laika, 2015, (Laika theorie, Bd. 56).

[vi] Michael Warschawski, „Yes to Boycott, Divestment and Sanctions“, a.a.O.

[vii] „Palestinian Civil Society Call for BDS“, https://bdsmovement.net/call

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