Die Zahl der Corona-Fälle und -Toten steigt, doch die Regierenden setzen diesem Trend nur unvollständige Gegenmaßnahmen entgegen. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Lohnabhängigen. Das Sekretariat der ISO fordert deshalb einen Aktionsplan für die Zeit nach Corona.
1. Einen Erfolg hat der „Lockdown light“ bisher nicht gebracht.
Die Regierung hat die Kontrolle über die Entwicklung der Pandemie verloren, die Zahlen der Infizierten und der Toten steigen unverdrossen weiter, Krankenhäuser und Gesundheitsämter geraten an ihr Limit. Hotspots können nicht lokalisiert werden. Klar ist nur eins: Das Virus zirkuliert in der jüngeren Bevölkerung und wird von ihr in die älteren Altersgruppen getragen. Es infizieren sich die Jungen, sterben tun die Alten. Laut Robert-Koch-Institut ist die 7-Tage-Inzidenz bei den jungen Erwachsenen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren besonders hoch. Von den bislang 17.602 Corona-Toten insgesamt waren bislang jedoch über 11.000 in einem Alter über 80. In der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen gab es mehr als 1500 Tote und bei den 50- bis 59-Jährigen noch über 500.
Es hat auch nicht den Anschein, als wollten Bund und Länder noch ernsthaft etwas tun, um Infektionsverläufe nachzuvollziehen. Sie hangeln sich jetzt mit blinden Maßnahmen (AHA-Regeln und ungezielte Kontaktverbote) durch die kommenden Wochen, bis die ersten Impfungen da sind. Dann wird ihre Strategie aufgegangen sein, die Pandemie mit Kontaktverboten einzudämmen und auf einen schnellen Impfstoff zu hoffen ‒ an den zutage getretenen Schwachstellen der öffentlichen Infrastruktur jedoch nichts zu verändern und den bisherigen Stiefel weiterzufahren, dass der Staat seine Infrastrukturaufgaben mehr und mehr Privaten überlässt.
Die Strategie der Regierenden wird aufgegangen sein, und trotzdem wird sie ein Beispiel für eine gescheiterte Seuchenbekämpfung genannt werden müssen. Denn der Impfstoff nimmt nur kurzfristig den Druck aus dem Kessel; an den Ursachen der zunehmenden Verbreitung von Seuchen ändert sich dadurch nichts. Ursachenbekämpfung haben die Herrschenden nicht betrieben, sie können es auch nicht, ohne ihre Wirtschaftsweise in Frage zu stellen.
2. Warum hat die Regierung die Kontrolle verloren?
Im wesentlichen aus zwei Gründen:
► Beim ersten Lockdown im Frühjahr ist zutage getreten, warum er überhaupt notwendig war: weil nicht ausreichend Masken, Beatmungsgeräte, Krankenhausbetten, insbesondere in der Intensivmedizin zur Verfügung war; und weil es in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen und in den Gesundheitsämtern an Personal fehlte. Kurz: Weil die verschiedenen Bundesregierungen seit den 90er Jahren das öffentliche Gesundheitssystem durch seine Ausrichtung an betriebswirtschaftlicher Rationalität ausgeblutet haben.
Schutzmaterial ist danach angeschafft worden, an der Personalknappheit und -überlastung hat sich trotz Applaus nichts geändert, nicht einmal durch Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Nach wie vor werden Krankenhäuser stillgelegt, auf die Gesundheit des Personals wird hier so wenig Rücksicht genommen wie in den Betrieben überhaupt. Das ist der Hintergrund für die Panik der Regierenden, das Gesundheitssystem könnte kollabieren, bevor ein Impfstoff in ausreichender Menge parat steht. Die Panik ist berechtigt, doch dass es soweit kommt, haben sie selbst verursacht.
► Die Maßnahmen, die flächendeckend verhängt werden, zielen darauf ab, den zwischenmenschlichen Kontakt zu unterbinden, damit das Virus sich nicht ausbreitet. Das ist an sich richtig, wenn es denn erstens konsequent und zweitens situationsgerecht durchgesetzt würde. Beides ist nicht der Fall. Nur zwei Beispiele: Kinos und Theater werden geschlossen, obwohl sie vorschriftsgemäß aufgerüstet haben; Jugendliche werden von der Parkbank gescheucht, aber der „Black Friday“ darf stattfinden, der spült ja Geld in die Kassen. Menschengedränge in Geschäften wird geduldet, überfüllte Busse auch, aber in den Pflegeheimen gibt es keine Kontrollen, ob sich das Personal an die Vorschriften hält (in anderen Betrieben im übrigen auch nicht).
Was in den nicht konsum- und dienstleistungsnahen Betrieben passiert, darüber erfährt man kaum etwas. Die Gewerbeaufsicht wird nicht aufgestockt, damit mehr Kontrollen durchgeführt werden können. Der Staat übt weiterhin keinen Druck aus, dass gerade in Branchen, die als „systemrelevant“ gelten wie etwa Transport und Logistik, Belegschaften nicht behindert werden in ihren Versuchen, Interessenvertretungen aufzubauen, die auch auf die Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze achten könnten.
Technische und organisatorische Maßnahmen wie der Einbau von Filteranlagen in öffentlichen Räumen, die kostenlose Ausgabe von FFP2-Masken, die Aufstockung von öffentlichen Transportmitteln finden nicht statt. Dabei wären sie billiger als die Subventionierung von Einnahmeausfällen bei Großbetrieben, die nur Mitnahmeeffekte produzieren.
Sicher gibt es, wie immer und überall, Menschen, die sich gegenüber ihren Mitmenschen nicht verantwortungsbewusst verhalten. Ihnen gegenüber müssen sinnvolle Maßnahmen auch mit Nachdruck durchgesetzt werden. Das Corona-Management der Regierungen ist jedoch geprägt von Vernachlässigung, Inkonsequenz und Willkür.
Die letzte Novelle des Infektionsschutzgesetzes setzt dem Ganzen die Krone auf: Ohne dass es im geringsten den Schutz vor Corona verbessern würde, werden der Bundesregierung vorauseilend umfangreiche Vollmachten erteilt, die ihr erlauben, das Parlament zu umgehen – und der Bundestag stimmt auch noch zu.
3. Milliarden für Milliardäre
Die Last der Pandemie wird auf die Privatmenschen abgewälzt, Freiheitsrechte werden ohne Not beschnitten, eine kollektive Schulterung in Form von Aufrüstung der Infrastruktur und Sonderhilfen für die prekären Teil der Bevölkerung, die in Notlagen nichts zuzusetzen haben, findet nicht statt. Die großzügig ausgegossenen Geldmittel kommen bei Hartz-IV-Beziehenden, Solo-Selbständigen, Kulturschaffenden, Obdachlosen oder Flüchtlingen nicht oder kaum an, die Vermögen der 119 Milliardär*innen in Deutschland hingegen sind seit Ausbruch der Pandemie im März um 20 Prozent gestiegen.
Unternehmen in der Informations- und Medizintechnik, in der Pharmaindustrie und im Internethandel verdienen mit Corona eine goldene Nase. Deutsche Milliardär*innen verzeichneten während der Pandemie einen Vermögensanstieg bis zu 77 Prozent.
4. Das dicke Ende droht noch.
Die Kontaktbeschränkungen bilden ein ernsthaftes Hindernis für die Mobilisierung einer Gegenwehr. Das nutzen viele Unternehmen für eine regelrechte Ausbeutungsoffensive, vor allem in der Automobilindustrie: Daimler etwa nutzt die Gunst der Stunde schamlos, um mehrfach gegebene Zusagen in Bezug auf Arbeitsplatzsicherungen zu brechen und sogar mit der Stilllegung des Stammwerks Untertürkheim zu drohen, Opel droht mit mehreren tausend betriebsbedingten Kündigungen in Rüsselsheim…
Das dicke Ende, nämlich die vollen ökonomischen Auswirkungen der Lockdowns, wird aber erst noch kommen. Trotz Kurzarbeitergeld lag die Zahl der Erwerbslosen im November um eine halbe Million über der des Vorjahrs. Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Regierungen die Milliarden, die sie so großzügig vorwiegend an die Vermögenden ausgeschüttet hat, von den Prekären und den abhängig Beschäftigten wieder zurückverlangt – wann also die Schuldenbremse wieder zum obersten Gebot wird.
5. Ein Aktionsplan auch für eine Zeit „nach Corona“!
In dieser Situation schlagen wir die folgenden Forderungen vor:
- Die Reichen müssen mit einer Sondervermögensabgabe („Corona-Steuer“) belastet werden; die Last der aufgenommenen Schulden darf nicht auf die Bevölkerung abgewälzt werden.
- Kein Geld für Großbetriebe, sondern für Prekäre.
- Sofortmaßnahmen für den Ausbau sowie mehr und besser bezahltes Personal in der Daseinsvorsorge und in der öffentlichen Infrastruktur.
- Masken, Impfstoffe und andere Schutzmaßnahmen müssen gerecht und kostenlos verteilt werden.
- Die Ökonomisierung des Gesundheitswesen muss gestoppt werden: keine weitere Privatisierung von Krankenhäusern, Beseitigung des Systems der Fallpauschalen.
- Am Gesundheitswesen dürfen Private nicht verdienen: der gesamte Gesundheitssektor gehört in öffentliche Hand, Pharmakonzerne gehören enteignet.
- Gewerkschaften und Betriebsräte müssen ihre Kontrollrechte in Bezug auf Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb wahrnehmen und sie dort erstreiten, wo sie ihnen verwehrt werden.
- Verbot von Entlassungen; Verbot jeglicher Einschränkung der Koalitionsfreiheit, insbesondere auf betrieblicher Ebene.
- Gerade die am meisten benachteiligten Menschen benötigen wirksamen Gesundheitsschutz. Das heißt auch Aussetzen von Sanktionen, Stromsperren und Zwangsräumungen, Anhebung des Regelsatzes, Bereitstellen von Hotelzimmern und Wohnungen für Obdachlose und Illegalisierte, Ausbau von Frauenhäusern für Opfer sexueller Gewalt. Niemand darf zurückgelassen werden!
- Massentierhaltung, Waldrodungen zugunsten von Verkehrsflächen, Ackerland und Siedlungen sowie der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft müssen verboten werden; Kohleausstieg jetzt!
- Internationale Solidarität mit den Opfern der Klimakatastrophe weltweit.
Trotz der Beschränkungen: Wir müssen aktiv werden.
Gesundheits- und Arbeitsschutz in den Betrieben selbst in die Hand nehmen.
Gegen Privatisierung und Ökonomisierung konsequent vorgehen.
Lasst uns eine starke soziale Front gegen Gewerkschaftsbekämpfung, Entlassungen und Spardiktate bilden!
Sekretariat der Internationale Sozialistische Organisation/Vierte Internationale