Als das neuartige Coronavirus SARS-CoV-19 nach Europa kam, begann es als erstes in Italien zu wüten. Dann griff es auch auf den Spanischen Staat über, wo bis Anfang März über 10.000 Menschen. [1] an den Folgen von Covid-19 gestorben sind. Das Land hat nach Italien damit weltweit die zweitmeisten Todesopfer. Ein Versagen der heimischen Politik, sagt die Aktivistin Laia Facet im Interview.
Besonders betroffen ist die Hauptstadtregion Madrid, mit Abstand gefolgt von Katalonien. Mitte März reagierte Premierminister Pedro Sánchez schließlich auf die immer stärker zunehmenden Opferzahlen und ordnete eine nationale Ausgangssperre an. [2] Diese könnte rund drei Wochen später erstmals Wirkung zeigen: Seit Anfang April gehen die Zahlen der Neuinfektionen und Toten offenbar langsam zurück, sie bleiben aber immer noch auf hohem Niveau.
Die Krise ist auch eine Herausforderung für die spanische Linke. Für die sozialen Bewegungen, bei denen feministische Gruppen zuletzt eine starke Rolle spielten und für die Gewerkschaften, sagt Laia Facet. [3] Sie ist Mitglied der revolutionär-sozialistischen Organisation „Anticapitalistas“. [4] Bereits Mitte März sprachen Genoss*innen des linksalternativen Internetblogs „No Borders“ mit der Aktivistin:
No Borders: Wie würdest du den Stand der Pandemie in deinem Land und deiner Stadt beschreiben. Wie viele Menschen sind infiziert? Wie viele sind gestorben? Mit welcher Ausbreitungsgeschwindigkeit rechnest du in den kommenden Wochen?
Laia Facet: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gab es bis zum 17. März mehr als 13.000 Fälle und 598 Todesfälle, am 20. März waren es bereits mehr als 1.000.[5] Viele der Eindämmungsmaßnahmen kamen zu spät, so dass wir erst in den kommenden Tagen sehen werden, ob die Kurve dadurch gesenkt wird oder nicht, was jetzt das wichtigste gesundheitspolitische Ziel ist.
Welche praktischen Maßnahmen hat die spanische Regierung als Reaktion auf diese Krise ergriffen? Haben sie verantwortungsbewusst gehandelt oder waren sie unvorbereitet? Beschreib kurz die Maßnahmen, die die Regierung jetzt ergreift, um das Virus einzudämmen und mit Covid-19 infizierte Menschen zu behandeln. Besteht ein Ausnahmezustand, sind Schulen geschlossen usw.?
Wie ich schon sagte, die Eindämmungsmaßnahmen kamen spät. Die Regierung hat zu keinem Zeitpunkt damit gerechnet, welche Ansteckungsrate das Virus erreichen würde und wie schnell es sich ausbreiten würde. Wir haben Covid-19 unterschätzt.
Dies hat zu einer Verknappung solch kritischer Vorräte wie Schutzmasken und anderen medizinischen Hilfsmitteln geführt, die jetzt in medizinischen Zentren und Krankenhäusern im ganzen Spanischen Staat fehlen. Beispielsweise sind Tests zum Nachweis des Virus knapp. Zur Zeit gibt es viele Menschen mit Symptomen, die sich nicht testen lassen konnten.
Die Regierung hat zu keinem Zeitpunkt damit gerechnet, welche Ansteckungsrate das Virus erreichen würde und wie schnell es sich ausbreiten würde.
Seit Freitag, den 13. März, waren alle Hochschulen, Institute und Universitäten geschlossen. Und am Wochenende und in den ersten Tagen dieser Woche wurden mehrere Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ergriffen: Schließung einiger kommerzieller Einrichtungen (Restaurants, Bars usw.); Homeoffice, wo immer möglich; Einschränkung der Mobilität für alle anderen wichtigen Arbeiten, Betreuung von Menschen, die Unterstützung benötigen oder einkaufen gehen; die Schließung der Landesgrenzen und ein Verbot von Sport- und Kulturveranstaltungen. Indem die Regierung jedoch nicht die Schließung aller Unternehmen ‒ mit Ausnahme von Betrieben an der Front wie Apotheken und Supermärkten ‒ anordnet, setzt sie die Bevölkerung weiterhin einem Risiko aus, das völlig unnötig ist.
Wie hat das Gesundheitssystem auf die Krise reagiert? Was sind die größten Schwächen dieses Gesundheitssystems? Was sind seine größten Stärken?
Der Spanische Staat hat im Vergleich zu anderen Ländern in der Europäischen Union ein ziemlich solides öffentliches Gesundheitssystem. Es gibt jedoch erhebliche Defizite, wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen seit vielen Jahren betonen. Diese resultieren vor allem aus den Haushaltskürzungen und der Sparpolitik nach der Wirtschaftskrise von 2008, einschließlich des Personalmangels und des Mangels an Betten, Ressourcen, Forschung usw., von denen ein Großteil privatisiert wurde. Covid-19 bricht an diesen Schwachstellen durch, was wiederum zu einem Zusammenbruch der Ressourcen und des Personals im öffentlichen Gesundheitswesen geführt hat.
Parallel dazu existiert ein privates Gesundheitssystem, das einen erheblichen Prozentsatz der Ressourcen sowohl in der Forschung, der Gesundheitsinfrastruktur als auch bei den Krankenhausbetten monopolisiert. In den ersten Tagen der Krise war eine sehr populäre Forderung, alle privaten Gesundheitsressourcen auf das öffentliche Gesundheitswesen zu übertragen. Diese Forderung entstand in einem Kontext, in dem Patient*innen, die versuchten, in private Kliniken zu gehen, abgewiesen und an öffentliche Kliniken verwiesen wurden, an ein öffentliches System also, das zusammengebrochen ist.
In den ersten Tagen der Krise war eine sehr populäre Forderung, alle privaten Gesundheitsressourcen auf das öffentliche Gesundheitswesen zu übertragen.
Gegenwärtig sieht das Dekret der spanischen Regierung über den nationalen Notstand Covid-19 die Möglichkeit vor, private Ressourcen durch das öffentliche Gesundheitssystem zu nutzen, aber die Verantwortung für diese Maßnahmen wurde jeder Autonomen Gemeinschaft übertragen, dadurch wird das sehr unterschiedlich umgesetzt. Wir müssen bedenken, dass die spanische Verfassung den Gemeinden und Provinzen sowie den Nationen innerhalb des föderalen Staats wie Katalonien und dem Baskenland unterschiedliche Grade von Autonomie einräumt.
Beschreibe die offizielle politische Reaktion auf Covid-19 in deinem Land, von den rechtsextremen und konservativen Parteien über die liberalen und sozialdemokratischen Parteien bis hin zu den Parteien der Linken.
Wie diese Gesundheitskrise gehandhabt wird, wird weitreichende politische Auswirkungen haben. Vor einigen Tagen wurde der erste Erlass der Regierung veröffentlicht und enthielt einige der Maßnahmen, die ich bereits erwähnt habe, aber damit wurde auch der Ausnahmezustand verhängt. Diese besondere Maßnahme erlaubt es der Exekutive, fünfzehn Tage lang ohne Genehmigung des Parlaments politische Initiativen zu ergreifen. Das Dekret von Premierminister Pedro Sánchez verlieh der Polizei außerordentliche Befugnisse, wies der Armee eine polizeiliche Rolle zu und konzentrierte die Regierungsgewalt in einigen wenigen Ministerien, wodurch die Rechte der autonomen Regierungen und anderer Institutionen verletzt wurden. Diese Handlungen stellen enorme Risiken für die Demokratie dar, gerade im internationalen autoritären Kontext. All diese Maßnahmen und die Schließung der Grenzen wurden natürlich sowohl von der konservativen Volkspartei als auch von der rechtsextremen Vox-Partei [6] befürwortet. Momentan konzentriert sich die Kritik des rechten Oppositionsblocks auf die Nachlässigkeit und den Verzug der Regierung.
Gleichzeitig veröffentlichte die Regierung einen Erlass mit problematischen wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Der Erlass setzt Schutzbestimmungen für Arbeiter*innen aus und ermöglicht schnelle Massenentlassungen. Dies ist die Maßnahme, mit der die Arbeitgeber Tausende und Abertausende von Beschäftigten aus Betrieben schmeißen, die während der Quarantäne geschlossen wurden. Die Regierung hat ein Moratorium für Hypotheken vorgeschlagen, aber es gibt keine Diskussion über die Aussetzung der Mietzahlungen. Dies geschieht alles in einem Moment, in dem Hunderttausende von Menschen ihre Arbeit verlieren. Die Lösung der Regierung besteht darin, einen Teil der Löhne und Gehälter der Leute mit öffentlichen Geldern zu decken, aber sie hat keine außerordentliche Steuer für große Unternehmen vorgeschlagen.
Wie haben die Gewerkschaften auf die Krise reagiert? Vor allem im öffentlichen Sektor, im Bildungswesen und im Gesundheitswesen?
Die großen Gewerkschaften haben die Beschäftigten gegen die vorübergehenden Massenentlassungen verteidigt, aber aufgrund der Beschränkungen im Zusammenhang mit der Pandemie können keine Arbeiterversammlungen abgehalten werden. Gewerkschaften mit schwachen Tarifverträgen oder weniger Einfluss gegenüber ihren Arbeitgebern sind derzeit überfordert. Arbeiter*innenrechte werden im großen Stil missachtet. Es gibt viele Unternehmen, die ihre Beschäftigten zwingen, die angesammelten Urlaubstage zu nutzen, was eigentlich illegal ist. Und es gibt Unternehmen, die ihre Beschäftigten zwingen, sich ungeachtet der Bedrohung ihrer Gesundheit weiterhin zur Arbeit zu melden. Dies ist zum Beispiel in einigen Branchen und im verarbeitenden Gewerbe sehr verbreitet und hat in einigen Fabriken sogar spontane Streiks ausgelöst, die sie zur Schließung zwingen.
Arbeiter*innenrechte werden im großen Stil missachtet. Es gibt viele Unternehmen, die ihre Beschäftigten zwingen, die angesammelten Urlaubstage zu nutzen.
Hausangestellte und Supermarktbeschäftigte finden sich in grausamen Arbeitsbedingungen wieder, mitten in der Krise werden sie mit einem enormen Anstieg der Arbeitsbelastung konfrontiert. Dieselben Beschäftigten leiden unter äußerst prekären Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen, ganz zu schweigen von den akuten Gesundheitsrisiken.
Wie haben soziale Bewegungen (Studierende, Feministinnen, Ökolog*innen, Immigrant*innen, Indigene usw.) auf die Krise reagiert?
Wir sehen uns im gegenwärtigen Zustand der kollektiven Ausgangssperre großen Problemen gegenüber. Kämpfe und Aktionen finden momentan hauptsächlich in sozialen Netzwerken statt. Es gibt jedoch zwei interessante Initiativen: Zum einen wurden Unterstützungsnetzwerke für Menschen eingerichtet, die Hilfe beim Kauf von Lebensmitteln oder bei der Betreuung ihrer Kinder benötigen. Wir haben noch keine Gesamtzahl für diese Projekte, aber viele Nachbarschaften beginnen, sich auf diese Weise zu organisieren. Andererseits wurde in verschiedenen sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Bereichen eine Kampagne mit der Bezeichnung „Plan de choque social“[7] organisiert, die Maßnahmen zur Verteidigung der Arbeiter- und Volksklassen vorschlägt, um zu verhindern, dass die Gesundheitskrise zu einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Krise wird.
Irgendwelche abschließenden Bemerkungen zu den Auswirkungen der Covid-19-Krise und wie sie sich Ihrer Meinung nach in den kommenden Wochen und Monaten auf die nationale Politik auswirken wird?
Covid-19 wirkt sich auf die Gesellschaften in der ganzen Welt aus und hat offensichtlich massive wirtschaftliche und soziale Auswirkungen, vor allem wenn man bedenkt, dass alle Ökonomen, die rechten wie die linken, in Europa schon vor der Ansteckung vor einer Rezession gewarnt haben. Die Fragilität des Finanzsystems wird wahrscheinlich eine Rezession auslösen. Im Falle des Spanischen Staates sehen wir das deutlich. Wenn die Regierung ihre Politik der erhöhten öffentlichen Ausgaben fortsetzt, ohne außerordentliche Maßnahmen zur Besteuerung des Großkapitals zu ergreifen, um Geld zu beschaffen, wird die Staatsverschuldung steigen und, wie im Jahr 2008, zu Sparmaßnahmen greifen, um sie zu decken.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Heldt und Wilfried Dubois
https://nobordersnews.org/2020/03/20/laia-facet-1000-covid-19-deaths-in-the-spanish-state-no-end-in-sight-video/
(20. März 2020)
[1] https://www.theguardian.com/world/live/2020/mar/20/coronavirus-live-updates-outbreak-deaths-italy-uk-us-australia-europe-vaccine-china-global-economy-toll-latest-update-news
[2] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/14/spain-government-set-to-order-nationwide-coronavirus-lockdown
[3] https://nobordersnews.org/2019/11/30/julia-camara-and-laia-facet-a-feminist-realignment-for-marxism/
[4] https://www.anticapitalistas.org/
[5] Nach Angaben des Coronavirus Resource Center bzw. des Center for Systems Science and Engineering der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, USA, entfallen am 3. April 2020 von den 1.016.534 Infizierten weltweit 112.065 auf den Spanischen Staat sowie von den 53.164 Toten weltweit 10.348 auf den Spanischen Staat (ohne Gibraltar und Andorra).
Die Reihenfolge der Länder sieht in Bezug auf „bestätigte Fälle“ von Infektionen inzwischen so aus: 1. USA, 2. Italien, 3. Spanien, 4. Deutschland, 5. China, 6. Frankreich, 7. Iran.
Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Spanien. (Anm. d. Red.)
[6] https://nobordersnews.org/2020/01/12/jaime-pastor-a-progressive-government-born-under-the-gun-in-spain/
[7] http://www.plandechoquesocial.org/ (Anm. d. Red.)