Covid-19-Pandemie in Singapur

Foto: Bild von Jason Goh auf Pixabay

TEILEN
Epidemie, Rassismus und Klassenkampf

Covid-19-Pandemie in Singapur

Von Daniel Galbraith | 08.05.2020

Der Stadtstaat im Süden der malaysischen Halbinsel wird oft als Beispiel für alternative Strategien der Eindämmung im Kampf gegen die Covid-19-Epidemie angeführt. Auf unlautere Weise wird er als Rechtfertigung für die Einführung von Tracking-Apps herangezogen. Aber die zweite Welle, die die Stadt derzeit erlebt, sollte uns vor allem daran erinnern, dass Gesundheitsmaßnahmen nicht unabhängig vom Klassenkampf und von spezifischen Unterdrückungen wie Rassismus analysiert werden können.

Eine erste Welle erfolgreich eingedämmt

Die ersten Fälle wurden am 25. Januar 2020 erkannt, einen Tag nach den ersten Eindämmungsmaßnahmen in Wuhan. Im Rahmen der Bekämpfung hat der Stadtstaat mit einer Fläche von 721,5 km2 und mehr als 6 Millionen Einwohner*innen keine Eindämmungsmaßnahmen eingeleitet. Mitte März, als die Pandemie in Europa explodierte, schien es Singapur also gelungen zu sein, sie einzudämmen, und man konnte ohne Einschränkungen durch die Stadt gehen und Bars oder Restaurants besuchen.

Tatsächlich setzte der Stadtstaat zunächst auf eine Strategie, die auf den Individuen und ihrer guten persönlichen Hygiene (Händewaschen, Niesen in den Ellbogen etc.) sowie auf der Einhaltung sozialer Distanzierung basierte, aber nicht auf dem Tragen einer Maske. Im Gegenteil, man konnte Plakate sehen, die deren Nutzlosigkeit für gesunde Menschen betonten, in völligem Widerspruch zu den Propagandaspots, die auf den Riesenleinwänden ausgestrahlt wurden, die die Gebäude der Stadt schmücken; in diesen Spots wurde für den kollektiven Geist von Singapur geworben und Menschen mit Maske gezeigt…

Tatsächlich wurde die von der singapurischen Regierung entwickelte Tracking-App bisher nur von 20 Prozent der Bevölkerung heruntergeladen…

Diese Entscheidung war eine Ausnahme in Asien, wo das Tragen von Masken in der Bevölkerung auch außerhalb von Epidemieperioden viel weiter verbreitet ist. Sie erklärt sich zweifellos durch die relative Isolation der Stadt und ihre große Abhängigkeit von Importen. Wahrscheinlich wollten die Behörden die verfügbaren Maskenvorräte kontrollieren, indem sie ihre Verwendung auf infizierte oder verdächtige Personen beschränken, was wirksam sein kann, wenn die Fälle und Übertragungsketten identifiziert sind.

Genau auf diese Ziele konzentrierten sich die kollektive Aspekte der ursprünglich umgesetzten Gesundheitspolitik: die Identifizierung der von Covid-19 betroffenen Personen, ihre Isolierung in den Regierungszentren und dem erkennen der Ansteckungsketten. Doch im Gegensatz zu dem, was in der französischen Presse nachzulesen ist, erfolgte diese Identifizierung nicht durch Tracking-Apps, sondern durch eine Untersuchung, die sich im Wesentlichen auf eine Befragung durch Teams des Gesundheitsministeriums stützte. Tatsächlich wurde die von der singapurischen Regierung entwickelte Tracking-App bisher nur von 20 Prozent der Bevölkerung heruntergeladen; das ist weit entfernt von den 75 Prozent, die notwendig wären, damit sie wirkungsvoll funktionieren kann.

Die Teams des Gesundheitsministeriums erstellen dann mit Hilfe der Antworten der infizierten Personen ein genaues Protokoll ihrer Aktivitäten, Stunde für Stunde, und zeichnen eine Baumstruktur ihrer Kontakte. Das Ziel besteht darin, den Ursprung der Infektion zu ermitteln, dann Kontakt mit Personen aufzunehmen, die wahrscheinlich infiziert wurden, sie zu ihrem Gesundheitszustand zu befragen und sie möglicherweise aufzufordern, zu Hause in Quarantäne zu bleiben. Vertrauen schließt eine Kontrolle nicht aus; Regierungsbeauftragte führen täglich zu verschiedenen Zeiten mindestens drei Videoanrufe bei den Infizierten zu Hause durch, um sicherzustellen, dass sie vor Ort sind. Die Nichtbefolgung dieses Verfahrens kann zur Aberkennung der Aufenthaltsgenehmigung, zu einer Geldstrafe in Höhe von 6.000 € oder sogar zu einer Gefängnisstrafe führen. Die Polizei kann eingesetzt werden, um Kontakte an öffentlichen Orten aufzuspüren.[1]

Zunächst erwies sich diese Strategie als wirkungsvoll unter den besonderen Umständen von Singapur, einem kleinen Territorium mit hoher Bevölkerungsdichte aber geringer Gesamtbevölkerung und mit einem akkumulierten Kapital, das die Bereitstellung sehr bedeutender Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie ermöglichte. So blieb die Zahl der neuen Fälle bis zum 16. März zwischen 0 und 15 pro Tag.[2]

Eine zweite Welle, die hauptsächlich ausländische Arbeiter*innen trifft

Es scheint, dass der Ursprung der zweiten Welle in der Explosion der Pandemie im Atlantikblock (Europa, dann die USA) zu suchen ist, die viele Staaten dazu veranlasste, ihre Grenzen zu schließen und Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin verlangsamte sich die Wirtschaft, die Universitäten wurden geschlossen und das Ausmaß der Pandemie zeigte, dass diese Situation andauern würde. Viele Wanderarbeiter*innen und Studierende aus Singapur kehrten in den Stadtstaat zurück und brachten das Virus mit.

Als dagegen das benachbarte Malaysia am 18. März seine Grenzen schloss, mussten malaysische Arbeiter*innen, die sonst täglich die Grenze überqueren, um in Singapur zu arbeiten, sich entscheiden, ob sie ihr Einkommen verlieren oder in Singapur getrennt von ihren Familien bleiben wollten, wodurch sich die Zahl der ausländischen Arbeiter*innen erhöhte, die in Schlafsälen mit schlechten sanitären Bedingungen leben.

Eine drastische Maßnahme für das Hauptluftdrehkreuz Südostasiens.

Der Verlauf der zweiten Welle, die folglich durch den extremen Verlauf der Pandemie in anderen Teilen der Welt ausgelöst wurde, hat klar gemacht, dass eine rein nationale Lösung unmöglich ist. Seit dem 25. März hat die Zunahme der Fälle Singapur dazu veranlasst, seine Strategie zu ändern und sich für den so genannten „short circuit“ (Kurzschluss) zu entscheiden, der sich praktisch gesehen mit den Eindämmungsmaßnahmen deckt, die anderswo in der Welt durchgeführt werden. Vergnügungsgebiete, darunter Bars, Restaurants und Kinos werden geschlossen. An Arbeitsplätzen und in Schulen sind Versammlungen auf 10 Personen begrenzt. Die Grenzen werden für kurzfristige Besuche geschlossen, eine drastische Maßnahme für das Hauptluftdrehkreuz Südostasiens.

Auf dem Stand 29. April haben sich diese Maßnahmen als wirksam für den Schutz der singapurischen „community“ (Gemeinschaft) erwiesen, wie die Behörden es nennen. Es gab 1.181 Fälle und nur 10 Todesfälle, wobei der Jüngste 65 Jahre alt war. Andererseits erweisen sie sich als völlig unwirksam für die ausländischen Arbeiter*innen, die hauptsächlich in den berühmten „dormitories“ (oder „dorms“, Schlafsälen) leben, und sie werden die Lage dieser 1,4 Millionen Menschen sogar noch verschlechtern. Unter ihnen übersteigt die Zahl der Fälle 12.000.[3]

Diese Arbeiter*innen teilen sich Räume manchmal mit bis zu sieben anderen Personen.

Diese Ungleichbehandlung ist eine Politik der lokalen Behörden, die der Ansicht sind, dass der Erfolg der Gesundheitspolitik an der Zahl der Fälle in der „Gemeinschaft“ gemessen wird, unabhängig von der Zahl der Fälle unter den Arbeiter*innen, die in den Schlafsälen leben. Die Eindämmung in Schlafsälen gilt als Erfolg, weil sie diese Quellen von Ansteckungen vom Rest der Gemeinschaft isoliert.

Diese Arbeiter*innen teilen sich Räume manchmal mit bis zu sieben anderen Personen. Da sie darin eingesperrt sind, haben sie keinen Zugang mehr zu den Gemeinschaftsräumen des „dormitory“ und können nicht mehr kochen. Ihre Lebensmittelversorgung ist jedoch von sehr schlechter Qualität und nicht an die Ernährungsgewohnheiten der einzelnen Gemeinschaften angepasst, wie die wenigen NGOs berichten, denen es trotz des Drucks der Behörden gelingt, den Austausch mit ihnen aufrechtzuerhalten. Die NGOs haben bereits Schwierigkeiten, Mahlzeiten mit ausreichend gekochtem Reis und Gemüse bereitzustellen. Sie sind daher weit davon entfernt, sich Gedanken über Ernährungsbeschränkungen zu machen, die je nach Herkunft der Arbeiter*innen variieren.

…unter den Arbeiter*innen tragen die Prekärsten eine noch schwerere Last.

Während die Mehrheit dieser ausländischen Arbeiter*innen nach wie vor aus Malaysia stammt, wo die ethnische Mehrheit ‒ die Malaien ‒ muslimisch ist, kommen andere auch aus Bangladesch, China, Südkorea, Thailand, Burma, den Philippinen, Sri Lanka, Pakistan, Indien… Sie werden als billige Arbeitskräfte eingesetzt, vor allem im Baugewerbe und ganz allgemein für alle schlecht bezahlten manuellen Arbeiten (persönliche Dienstleistung, Reinigung, Sicherheit, Lebensmittelfabriken usf.). In Singapur liegt das mittlere Monatsgehalt bei 4.600 Singapur-Dollar (2.980 Euro), während das der 284.000 ausländischen Arbeiter*innen im Bausektor zwischen 500 und 800 Dollar liegt, einschließlich Überstunden, mit etwa zehn bis zwölf Stunden täglicher Arbeit an sechs Tagen in der Woche.

Überall auf der Welt zahlen junge Menschen und Arbeiter*innen den Preis für die von den herrschenden Klassen konzipierte Gesundheitspolitik. Aber unter den Arbeiter*innen tragen die Prekärsten eine noch schwerere Last. Die zweite Ansteckungswelle, die die ausländischen Arbeiter*innen in Singapur trifft, zeigt, wie unmöglich eine rein nationale Antwort auf die Pandemie ist und welche Auswirkungen eine solche Gesundheitspolitik in Ländern hat, in denen Rassismus ein strukturelles Merkmal der kapitalistischen Wirtschaft ist.

29. April 2020

Quelle: http://internationalviewpoint.org/spip.php?article6576 (3. Mai 2020)

Aus dem Englischen übersetzt von Ben u. Richard


[1] Yann Rousseau, „Interrogatoires serrés, vidéosurveillance, porte à porte: comment Singapour traque les contaminés“, Les Échos, 16. März 2020, https://www.lesechos.fr/monde/asie-pacifique/interrogatoires-serres-videosurveillance-porte-a-porte-comment-singapour-traque-les-contamines-1185804.

[2] Das BIP pro Einwohner*in in Singapur liegt nach den Ranglisten von IWF und Weltbank auf Platz 1 in Asien oder auf Platz 2 hinter Japan.

[3] Weitere Informationen über die Einzelheiten der Fälle siehe den täglich aktualisierten Artikel „Coronavirus cases in Singapore: What we know so far“ in The Straits Times https://www.straitstimes.com/multimedia/graphics/2020/02/spore-virus-cases/index.html.

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite