Ein Blick auf iranische Krise(n) und ihre Hintergründe

Demo gegen die Mullah-Regierung Mai 2010. Foto: Cliff Gilmore, Protest Iran, CC-BY-NC-ND 2.0"

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Wirtschaftskrise, Corona-Pandemie und Widerstand

Ein Blick auf iranische Krise(n) und ihre Hintergründe

Von Ali Behrokhi | 06.08.2020

Die US-Sanktionen, der Niedergang der Ölpreise und nicht zuletzt die Corona-Pandemie treffen das Leben der unteren und mittleren Schichten der iranischen Gesellschaft sehr hart und fordern enorme menschliche Opfer und materielle Schäden.

Ein Regime, das sich selbst in einen religiösen und den heutigen Realitäten sehr fernen Glaubenskodex einsperrt, manövriert sich zwangsläufig in einen Teufelskreis, der ständig Krisen und Katastrophen produziert.

Zurzeit spitzen sich die ökonomische, die soziale und die politische Krise zu, aber auch der Widerstand wächst. Angesichts dieser in der Tat sehr kritischen Situation stellt sich die Frage: Was tut die politische Elite des Landes dagegen? Kann sie denn nicht mit staatlichen Mitteln das Leid der Leute etwas lindern und die Schäden begrenzen? Diese und ähnliche Fragen können mit einem etwas genaueren Blick auf die Bilanz der mehr als vierzigjährigen Herrschaft der islamischen Republik in Iran besser und verständlicher beantwortet werden.

Ein Regime, das sich selbst in einen religiösen und den heutigen Realitäten sehr fernen Glaubenskodex einsperrt, manövriert sich zwangsläufig in einen Teufelskreis, der ständig Krisen und Katastrophen produziert. Es darf nicht übersehen werden, dass Iran wegen seiner geo-strategischen Lage ständigen vom imperialistischen Ausland provozierten Krisen ausgesetzt war und ist. Während der letzten gut hundertjährigen iranischen Gegenwartsgeschichte haben britische, russische, westeuropäische, amerikanische ‒ und aktuell chinesische! ‒ Einmischungen die gesellschaftliche Entwicklung Irans negativ beeinflusst und gestört. Doch die Wurzeln der heutigen iranischen Krise(n) liegen im Lande selbst und müssen im Herzen des Teufelskreises gesucht werden.

Ökonomische Krise

Wie anfangs erwähnt, basiert die Staatsräson der Machthaber der islamischen Republik auf religiösen Grundsätzen. Daraus leiten sie ihre innenpolitische Praxis sowie ihre verdeckten und offenen militärischen und politischen Abenteuer in den Nachbarländern der Region ab, wo ihre schiitischen Mitstreiter als bewaffnete Gruppen im Untergrund, als Opposition oder gar als Teile der Regierung aktiv sind. Während das Regime aufgrund seines religiösen Spagats regional und international als Sektierer und Störer auffällt, blieb und bleibt es der Ordnung des neoliberalen Kapitalismus treu verbunden. Doch durch die Jahre haben die Kategorien Treue und Verbundenheit mehr und mehr an Bedeutung verloren, was blieb ist Abhängigkeit und Ergebenheit zu Ungunsten der iranischen Interessen. Die Spitzenfunktionäre des Regimes pflegen eine „Wirtschaftspolitik“, die mehr den Sitten und Gebräuchen der islamischen Urzeiten entspricht als modernen wirtschaftlichen Normen. Handelsgeschäfte, Kaufen und Verkaufen (Import/Export) und Tausch von Rohstoffen gegen Cash oder fertige Industriewaren werden von ihnen bevorzugt. Begriffe wie Schutz „eigener“ Ressourcen vor fremden Interessen, Entwicklung „eigener“ Produktionskapazitäten oder ein Minimum von Grundsicherung „eigener“ Arbeitskräfte sind ihnen fremd. Verheerende Spuren dieser Art des wirtschaftlichen Handelns sind in allen Bereichen der iranischen Volkswirtschaft überdeutlich zu sehn. Gerade in einer Krisenzeit, in der die iranische Wirtschaft schon durch unsachliche staatliche Maßnahmen sowie durch all die gegenwärtige Korruption extrem geschwächt war, überrollte das Fieber der von Weltbank und IWF diktierten Privatisierung das Land.

Die unten angeführten Fakten zum Phänomen der „Privatisierung“ in Iran basieren auf folgenden drei Quellen. A) Gleichzeitig mit der Privatisierungswelle fielen die damit einhergehenden Unregelmäßigkeiten den Beschäftigten der betroffenen Betriebe auf; sehr früh fingen sie an, dagegen zu protestieren und veröffentlichten im Laufe ihrer Kämpfe brisante Details über die fragwürdigen Betriebsübertragungen. B) Für die rasche Veröffentlichung und Verbreitung sorgte u. a. die allen Zensurbarrieren des Regimes trotzende iranische Jugend. (Auf dem Höhepunkt der Protestbewegung während der letzten zwei Jahre beteiligten sich iranische Schüler*innen und Studierende massiv an den Protesten; einer ihrer Slogans lautete: „Wir sind Kinder der Arbeiter / wir bleiben an ihrer Seite“!) Und schließlich C) Eigentlich ging und geht es den unterschiedlichen Flügeln und Fraktionen bei ihrem Streit darum, wer mit welchen Methoden das von ihnen geliebte aber immer tiefere Krisen aufweisende islamische Regime gegen seine „Feinde“ besser schützt; mit Zuckerbrot und Peitsche oder nur mit Peitsche. Doch in letzter Zeit kommt es immer öfter und offener zu Streitigkeiten an der Spitze des Regimes – dabei geht es grundsätzlich um die Pfründe und die Aufteilung der „Beute“. Es kommt in Iran vor, dass Mitglieder höherer staatlicher Positionen offiziell die „gerechte islamische Justiz“ auffordern, Angehörige gegnerischer Fraktionen, die bei finanziellen Machenschaften dumm und dreist auffallen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen!

Das Ergebnis des Zusammenkommens der oben aufgezählten Faktoren (Arbeiterkämpfe, Internet-Aktivitäten der iranischen Jugend und Streitigkeiten an der Regime-Spitze!) ist, dass gerade in den letzten Monaten eine Reihe von Fakten über die in Iran grassierenden Wirtschaftskriminalität an die Öffentlichkeit gelangten.

Da in dieser Zeitschrift („die internationale Nr. 1/2020 Dossier Iran Seite 21-35) in fünf Beiträgen die Lage in Iran und auf S 25-27“ auch die Problematik „Privatisierung“ thematisiert wurde, sei hier nur auf zwei kurze Beispiele hingewiesen:

Haft-Tapeh

ist eine der größten Rohzuckeranbau- u. Raffinerieanlagen des Landes, die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts existiert. Mit ihren Produkten konnte die Fabrik durch viele Jahre den heimischen Markt gut versorgen und ihren Produktionsüberschuss in die benachbarten Länder der Region ausführen. Als 2014/15 das Regime die Privatisierung von Haft-Tapeh beschloss und im Schnellverfahren durchsetzte, gingen ihre Beschäftigten auf die Barrikaden. In ihren Protestnoten erklärten die Streikenden u.a. die Privatisierung sei illegal, widerspreche den von der Regierung selbst festgelegten Vorschriften, die neuen Besitzer und Vorstandsmitglieder seien junge und unqualifizierte Männer, sie hätten den Betrieb nur übernehmen können, weil sie Beziehungen mit ganz oben haben und Söhne von sehr bekannten Würdenträgern seien. Dafür mussten sehr viele Arbeiter*innen und ihre Unterstützer*innen, Erniedrigung, Verhaftung, Folter und Gefängnisstrafen hinnehmen.

Massenverelendung, galoppierende Inflation, Wasserverknappung, fast täglich teurer werdende Grundnahrungsmittel in einem Land, in dem sogar laut offizieller Zahlen eine erdrückende Mehrheit der lohnabhängen Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums lebt, sind Folgen der „Wirtschaftspolitik“, der islamischen Republik .

Nun vor ca. einem halben Jahr bekam die iranische Öffentlichkeit über unterschiedlichste Kanäle aktuelle Informationen über Haft-Tapeh. Justiz- u. Polizeiorgane des Regimes hatten solche Meldungen nur noch zu bestätigen und zu ergänzen; Omid Assad Beygi als Vorstandschef und Rosstami Vorstandsmitglied von Haft-Tapeh wurden mit mehreren anderen Personen wegen Wirtschaftsdelikte verhaftet und warteten auf ihren Prozess. Etwas später wurde bekannt, Assad Beygi sei gemeinsam mit weiteren 21 Personen wegen Wirtschaftskriminalität in Haft, er sei der Kopf der Gruppe und die Anklageschrift gegen ihn würde 18 Ordner füllen. Ihm konkret wurde die Veruntreuung von 1,5 Milliarden (1.500.000.000!) Dollar vorgeworfen, diese Summe habe er aus staatlichen Geldreserven mit vergünstigten Konditionen erhalten, sie habe er aber mehrfach verteuert auf dem „freien Markt (Schwarzmarkt) verkauft“, außerdem illegalen Geldtransfer betrieben und so dem nationalen Währungssystem geschadet. Omid Beygi und Co. wird weiterhin vorgeworfen, sie hätten einen Vertrag für den Import von einer vollautomatisierten Maschinenanlage zur Raffinerie von 18 000 Tonnen Rohzucker bis zur Endproduktion im Wert von 632 Mio. Dollar registrieren lassen. Zur Realisierung dieses Projekts hätten sie 345 Mio. Dollar staatlicher Gelder erhalten. Doch später sei bekannt geworden, der eigentliche Wert der Anlage habe 14 Mio. Dollar betragen und zu einer Einfuhr der Anlage sei es nie gekommen. Noch einen weiteren Punkt über die „Verfehlungen“ von Assad Beygi gab die iranische Justizbehörde bekannt: Die von Assad Beygi und Co. registrierten Firmen seien vor fünf Jahren ‒ also in der Zeit der Übernahme von Haft-Tapeh ‒ mit 51 Mio. Dollar Schulden und ohne Konkursmasse pleite gewesen, deshalb wären sie weder in der Lage noch berechtigt so ein Geschäft (Übernahme von Haft-Tapeh!) zu tätigen.

Während Herr Assad Beygi sich nach der Hinterlegung einer entsprechenden Bürgschaft auf freiem Fuß befindet, sitzen Arbeiter*innen und Aktivist*innen, die auf die Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung aufmerksam gemacht hatten, heute immer noch im Gefängnis ‒ bzw. wurden erneut verhaftet! ‒ oder befinden sich auf der Flucht und müssen sich vor den Augen der Schergen des Regimes versteckt halten.

HEPCO

ist der Name einer Industrieanlage und liegt in der Stadt Arak im Zentrum des Landes. HEPCO gehört wie Haft-Tapeh zu den größten industriellen Anlagen Irans, existiert mehr oder weniger so viele Jahre wie Haft-Tapeh und ist spezialisiert auf die Herstellung von schweren Maschinen und Motoren von Spezialfahrzeugen für die Hoch- u. Tiefbauindustrie. HEPCO gelang es sogar, sich vom Import von Motoren- u. Karosserieersatzteilen aus dem Ausland größtenteils unabhängig zu machen und konnte den iranischen Eigenbedarf größtenteils decken. Diese Fabrik fiel vor ca. 15 Jahren (2004/05) der „Privatisierung“ zum Opfer. Bei der Ausschreibung ging ein Devisenhändler mit dem Namen Ali Asghar Attarian ‒ er steht den höheren Etagen der Führung der islamischen Republik nahe ‒ als Gewinner hervor. Die Privatisierung bescherte der Fabrik noch ein „Geschenk“! Ein ehemaliger Minister für landwirtschaftlichen Aufbau mit dem Namen Mahmud Hojati wurde samt seinen zwanzig Stellvertretern als Vorstand von HEPCO eingesetzt und der jetzige Ölminister, Namdar Zangane, übernahm das Amt des Vorstandsvorsitzenden.

Ähnlich wie ihre Haft-Tapeh-Kolleg*innen protestierte die HEPCO-Belegschaft gegen die „Privatisierung“, organisierte ‒ den repressivsten Bedingungen und den Attacken bezahlter Schlägertrupps trotzend ‒ Streiks, Blockaden und Kundgebungen. Die HEPCO-Streikenden bezeichneten die Privatisierung als Diebstahl und Todesurteil für ihren Betrieb. Das Regime unterdrückte die Protestaktionen blutig, die Arbeiter wurden vor ihrem Betrieb und auf offener Straße attackiert und schwer verletzt, ins Gefängnis geworfen und auch dort gefoltert – Bilder und Videos der vom Regime misshandelten Streikenden erreichten dank der Sozialen Medien die internationale Öffentlichkeit. Während es den HEPCO-Beschäftigen so erging, kassierten die Herrschaften des Vorstands Millionen von Euro. Und in welchem Zustand ist die Firma HEPCO heute? Da die Folgen der Privatisierungen der letzten Jahre zu Top-Themen in Iran gehören, war am 01.07.2020 in der iranischen Zeitschrift Shargh (der Osten), die hauptsächlich Wirtschafsthemen behandelt, u.a. dies zu lesen: “…die jährliche Produktionskapazität von HEPCO betrug vor 10 Jahren 2145 Tausend Baufahrzeuge aller Art, sie ging im laufenden Geschäftsjahr auf 30 Stück zurück.“

Soziale u. politische Krisen

Massenverelendung, galoppierende Inflation (inzwischen ein unvorstellbarer Wertverlust der iranischen Währung), Wasserverknappung (bedingt durch den unverzeihlich verschwenderischen und sachunkundigen Umgang mit den Wasserreservoirs eines Landes mit reichlichen Öl- u. Gasvorkommen, aber doch mit sehr knappen Wasserreserven!), fast täglich teurer werdende Grundnahrungsmittel in einem Land, in dem sogar laut offizieller Zahlen eine erdrückende Mehrheit der lohnabhängen Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums lebt, sind Folgen der „Wirtschaftspolitik“, der islamischen Republik .

Die Corona-Pandemie traf die iranische Gesellschaft inmitten dieser Krisen. Das Verhalten des Regimes angesichts der Seuche ist nicht nur eine Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz. Bei genauerer Betrachtung entsteht der hartnäckige Verdacht, dass die Corona-Plage vom Regime bewusst und gewollt als Waffe gegen Teile des iranischen Volkes eingesetzt wird. Zunächst begriff das Regime die Gefahr, die von dem Virus ausging, ganz und gar nicht als ein Problem, das dringende Maßnahmen in den Bereichen Gesundheitspolitik und Hygiene erfordert. Seit März 2020 debattierte die ganze Welt über China als das Land, das als Herd und Quelle von Corona feststand. Doch der Flugverkehr zwischen Iran und China ging bis weit in den April hinein unvermindert weiter.

Täglich pendelten Hunderte iranische und chinesische Händler zwischen Teheran und Peking und fungierten so als ein Mega-Verbreiter des Virus, der in kürzester Zeit iranische Großstädte und später das ganze Land erfasste. Weiter verschärfend kam hinzu, dass an der Spitze des Regimes lange Zeit Uneinigkeit bei der Einschätzung und Behandlung der Krankheit bestand, die täglich eine hohe Zahl an Menschenopfern forderte. Teile der religiös-politischen Führung des Regimes vertraten die Meinung, Corona sei eine Verschwörung der Feinde des Islams, Beten sei das beste Mittel dagegen und die Gläubigen sollten heilige Schreine der Imame aufsuchen! So oder ähnlich sahen die ersten „Maßnahmen“ des Regimes gegen Corona aus. Iran gehörte in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie zu den drei bis vier Ländern mit den höchsten Todesraten. So makaber es auch klingen mag: Das Regime ist willens und in der Lage, Corona gegen das „eigene“ Volk als Waffe einzusetzen.

Tausende politische Gefangene

Das „Vergehen“ der inhaftierten Frauen und Männer? Sie beharren auf der Einhaltung der Grundrechte, sie werfen dem Regime Korruption in höchstem Maße vor und sie kritisieren seine Außenpolitik, die vielleicht dem Überleben des Regimes dienlich ist aber den iranischen Interessen kurz-, mittel- u. langfristig schadet. Die überfüllten iranischen Gefängnisse gehören zu den gefährlichsten Brutstätten des Corona-Virus. Noch viel mehr als draußen vor den Gefängnismauern, wo hygienisch-medizinische Versorgung für das „gemeine Volk“ kaum zu haben ist, sind die innerhalb der Mauern festgehaltenen Menschen Bedingungen ausgeliefert, die einem Todesurteil gleichkommen. Wie die politischen Gefangenen aus den Gefängnissen berichten, werden Hunderte Menschen als politische wie „gewöhnliche“ Gefangenen ohne Hygiene-Vorkehrungen und ohne nennenswerte medizinische Versorgung in Großräumen eng zusammen gehalten. Frau Narges Mohammadi, eine über die Grenzen des Landes bekannte Menschenrechtsaktivistin, sitzt seit Jahren auf Grund unhaltbarer Anschuldigungen im Gefängnis, ist krank, wurde neulich Corona-positiv getestet und wird weiterhin festgehalten. Täglich werden immer wieder unschuldige Menschen ganz willkürlich festgenommen und ins Gefängnis geworfen, weil sie irgendwann dem Regime als Kritiker*innen oder als Menschen mit „politischer Vergangenheit“ aufgefallen sind und müssen nun dafür büßen. So z. B. Sepideh Gholiyan, die als Internet-Journalisten und Reporterin der Haft-Tapeh-Proteste auffiel, deshalb verhaftet wurde, über ein Jahr Gefängnisstrafe und Folterhaft hinter sich hat und dann „frei“ war, wurde im Juni 2020 erneut verhaftet. Viele weitere aber weniger prominente Frauen und Männer sitzen in entlegenen Regionen des Landes im Gefängnis und sehen dem „sanften Tod“ entgegen.

Die Faktenlage in Iran lässt folgende Schlussfolgerung zu: Das Regime ist innenpolitisch am Ende der Sackgasse angekommen und seine militärisch-politischen Abenteuer in der Region haben Milliarden von Petro-Dollar verschlungen, ohne nennenswerten Nutzen zu bringen. Nun sieht es so aus, dass das Regime aus einer Position innenpolitischer Schwäche und außenpolitischer Isolation nach einem „strategischem Partner“ Ausschau hält. Wie in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern spielt die chinesische Wirtschaft seit Jahren auch im Iran-Geschäft die erste Geige. In jüngster Zeit kam es wiederholt zu Gerüchten, dass Iran und China über einen neuen Mega-Vertrag verhandeln. Das iranische Regime steht den Gerüchten wohlwollend gegenüber und entfacht ihre Verbreitung immer wieder neu. Das Regime will seine Gegner*innen und das sehr unzufriedene und zugleich politisch motivierte iranische Volk auf folgende Weise beeindrucken: Schaut her, ich bin erfolgreich, ich habe die Mächtigsten dieser Welt als Partner auf meiner Seite und werde euch eine glorreiche Zukunft bringen. Der chinesische Partner hält sich auffallend bedeckt und dies könnte folgenden Grund haben: Die Chinesen wollen ihre westliche Konkurrenz (USA / EU) nicht nervös machen und setzen sie nur portionsweise über den Umfang des Vertrags in Kenntnis, außerdem wollen sie aus den iranischen „Partnern“, die auf diese „strategische Partnerschaft“ sehr scharf sind, bis zum endgültigen Vertragsabschluss noch mehr Zugeständnisse herauspressen.

Nach bisherigen Kenntnissen und bezugnehmend auf einen „Vorentwurf“, den das iranische Staatsfernsehen Mitte Juli 2020 veröffentlichte, sei hier auf die wichtigsten Passagen hingewiesen:

„1) Die islamische Republik übernimmt die vollständige Tilgung ihrer Schulden in Form von Öllieferungen und zwar 30 Prozent unterhalb des regulären Preises, die Buchführung darüber liegt allein in der Hand der chinesischen Zentralbank. 2) Zoll- u. Steuerfreiheit für chinesische Waren, die in Iran importiert werden, die Verantwortung für ihre Lagerung und ihre Sicherheit trägt die iranische Seite. 3) Die chinesische Seite trägt keine Verpflichtung, auf ihren Anlagen und Einrichtungen in Iran einheimische Kräfte einzustellen. 4) Rechte, Seewege im iranischen Seegebiet zu benutzen, dort Fischerei zu betreiben und nach See- u. Bodenressourcen im Seegebiet des iranischen Seehafens Bandar-Tscha-Bahar im Persischen Golf zu „forschen“, werden der chinesischen Seite zugesprochen. 5) Für die Verwirklichung der Vereinbarung ist zunächst vorgesehen, dass 5000 chinesischen Fachkräfte nach Iran kommen. 6) Die chinesische Seite verspricht Investitionen in die iranische Infrastruktur zu tätigen …“

Über den bisher bekannt gewordenen Inhalt des Vorvertrages wird innerhalb der iranischen Opposition sehr heftig diskutiert. Auf der einen Seite akzeptieren ihn die iranischen „Blockdenker*innen“ (Campist*innen) dezent und unterschwellig. Sie argumentieren u.a. folgendermaßen: Der Vertrag sei ja noch nicht ganz fertig, Verbesserungen könnten ja noch kommen und außerdem: Warum sollten solche Verträge nur mit westlichen Ländern geschlossen werden, China sei ein östlich-asiatisches Land, habe „mit uns“ gemeinsame kulturelle und historische Wurzeln und einen strategischen Partner brauche eigentlich jedes Land …

Auf der anderen Seite regen sich iranische säkular-demokratisch und liberale (also pro westliche) Kräfte furchtbar über den bis jetzt publik gewordenen Inhalt auf; sie fordern die sofortige Annullierung des Papiers, verurteilen die beiden diktatorischen Regierungen und verlangen von den „demokratischen“ Ländern, den bald unterschriftsreifen Vertrag zu Fall zu bringen und die demokratischen Kräften im Kampf gegen Diktatoren zu unterstützen.

Es gibt jedoch genug iranische Stellungnahmen und Analysen im In- u. Ausland, die von der Position iranischer Interessen aus das neue Abenteuer des Regimes begutachten. Während die Kommentare im Ausland im Schutze der geographischen Entfernung und aus sicherer Distanz abgegeben werden, riskieren die kritischen Analysten in Iran dafür ihre Freiheit, ja ihr Leben – und trotzdem tun sie das. Aus der Vielzahl solcher Analysen greifen wir ein Interview heraus, das ein iranischer Ökonomie-Dozent am 20.07.2020 im Internet veröffentlichte (sein Name ist der Redaktion bekannt). Mit dem Hals in der Schlinge äußerte er sich über den „Vorvertrag“. Hier eine kurze Zusammenfassung:

„Wir gehören in den letzten drei Jahrzehnten zu den Ländern mit der höchsten Fluchtrate von menschlichem und materiellem Kapital in Richtung Ausland. Ein Land, das seine eigenen inneren Fähigkeiten zu nutzen nicht in der Lage ist, will nun von ausländischen Kapitalinvestitionen profitieren? China hat versprochen zwischen 280 – 400 Milliarden Dollar zu investieren. Anstatt ausländisches Kapital zu Investitionen einzuladen, sollten wir zuerst im Lande existierende Fähigkeiten aufbauen und erhöhen (…) Außerdem: Die Neigung chinesischer Investoren deutet darauf hin, dass sie am Kauf von Rohstoffen interessiert sind (…) Auf Grund unserer vorliegenden Forschungsarbeiten betrugen die Direkteinnahmen Irans in den Jahren 2004-2017 aus den Export-Geschäft 2180 Milliarden Dollar. Es wäre besser und sinnvoller erst das, was in der angekündigten Urkunde der iranisch-chinesischen Zusammenarbeit versprochen wird, aus den eigenen vorhandenen finanziellen Möglichkeiten zu schöpfen, die drei bis sechs Mal höher liegen als die von der chinesischen Seite versprochene Summe. Sogar in der Zeit von Herrn Rouhani in den Jahren 2013 – 2017 hatten wir aus derselben Einkommensquelle 317 Milliarden Dollar Direkteinnahmen…“ Der iranische Dozent schließt das Interview: „Hatte denn Iran in den letzten 200 Jahren bei diversen Vertragsabschlüssen mit fremden Mächten irgendwelche Vorteile? Wenn Großmächte strategische Partner haben, dann sind das jeweils ihre eigenen Interessen und niemand sonst, vergessen wir das nicht!“

Die Region des Persischen Golfs und seiner Anrainerstaaten stehen im Mittelpunkt der imperialen Gesamtkonzeption der USA. Seit dem Ende des II. Weltkriegs üben sie dort unangefochten die Rolle der „Schutzmacht“ aus. Nun hat sich ihr asiatischer Rivale in einem der wichtigsten Länder der Region festgesetzt und kann von dort aus seine Fühler ausstrecken. Diese vollendete Tatsache macht den US-Imperialismus nervös, lässt ihn toben und immer lauter Drohungen aussprechen. Die Spannungen zwischen den USA als Supermacht auf absteigendem Ast und China als energiedurstige und markthungrige aufstrebende Großmacht sind global und können noch viel größere Dimensionen erreichen. Aber die US-Sanktionen gegen Iran ‒ die in erster Linie den Lebensgrundlagen der untersten Schichten der iranischen Gesellschaft schwerste Schäden zufügen ‒ sind gegen die Führung der islamischen Republik als Nadelstiche gedacht und sollen sie zur „Vernunft“ bringen. Aber da das Regime und das iranische Volk längst geschiedene Leute sind, begibt sich das Regime aus einer erbärmlichen Lage der Angst und Schwäche unter dem Schutzschirm einer nicht minder gefährlichen Supermacht und wirft ihr als Gegenleistung wichtige Ressourcen des Landes in der Hoffnung vor die Füße, damit dem eigenen Regime das Überleben zu garantieren. Ganz gleich, ob sich nun die Spannungen zwischen den USA und China verschärfen oder beruhigen, ist das iranische Regime als dummer Händler und Marktschreier bereits jetzt der definitive Verlierer dieses Spiels.

Der Widerstand:

Die iranische Widerstandsbewegung blickt auf eine mehr als vier Generationen alte Erfahrung des politischen Kampfes gespickt mit ermutigenden Erfolgen und bitteren Niederlagen. Es sind mutige und bewundernswert informierte Frauen und Männer, die heute vom Gefängnis aus, am Arbeitsplatz, auf der Straße und im Untergrund den Kampf gegen das mörderische Regime organisieren und anführen. Ihnen genügt es nicht mehr, die groben Menschenrechtsverletzungen des Regimes anzuprangern, die im Land wütende Wirtschaftskriminalität zu verurteilen oder die dümmliche Außenpolitik des Regimes aufs Korn zu nehmen. Gestützt auf die konkreten Lehren des Volksaufstandes von Februar 1979, als dem Sturz einer Ein-Mann-Diktatur (Schah-Regime) eine Diktatur der schiitischen Kleriker folgte, erklären sie: Der politische Übergang (damals hieß es: „Hauptsache zuerst das jetzige blutrünstige Regime loswerden“!) allein reicht nicht; politische Freiheit, soziale Gleichheit und Schutz vor Einflussnahme und Einmischung asiatischer, amerikanischer und europäischer Großmächte. Es geht auch um die Beantwortung der folgenden Frage: Welche gesellschaftlichen Kräfte haben während der Übergansphase die Führung, sind verantwortlich und bieten Garantien?

Dies sind die Themen, die die iranischen Aktivist*innen neben dem offenen Kampf gegen das Regime beschäftigen. Seit mehr als 10 Jahren macht sich die Präsenz der iranischen Arbeiter*innen-Bewegung in den ersten Reihen der Kämpfe deutlich bemerkbar. Besonders während der letzten zwei Jahre, in der zwei große Protestwellen weite Teile des Landes erfassten und in denen unzufriedene, betrogene und hungernde Schichten auf die Straße gingen, waren Slogans, Parolen und Forderungen zu hören, die hauptsächlich aus den Streiks, Portesten und Verlautbarungen der Arbeiter*innen stammten.

Im Sommer 2020 machten die Beschäftigten von Haft-Tapeh durch ihre zweite große Streikwelle auf sich aufmerksam. Dienstag 27.07.2020 war der 45. Tag ihres Streiks und als diese Zeilen geschrieben werden (01.0820!) dauert ihr Streik noch an. Ihre Forderungen lauten u.a.:

1.) Sofortige Auszahlung der Löhne und Gehälter der Beschäftigten, die seit Beginn des Jahres (März 2020) nicht überwiesen wurden! 2.) Sofortige Einstellung der entlassenen Kolleg*innen! 3.) Sofortige Wiederverhaftung von Assad Beygi! 4.) Enteignung der korrupten und rechtswidrig eingesetzten „Haft-Tapeh-Besitzer“ und Rückgängigmachung der Privatisierung.

Neben den Streiks, die in großen und kleineren Betrieben täglich stattfinden, kam es ebenso in den Sommermonaten 2020 wieder in vielen iranischen Städten zu Protestaktionen, wovon auch ausländische Medien berichteten (z. B. SZ am 21.07.20).

Die Reaktion des Regimes besteht einzig und allein in der Verschärfung der Repressalien. Mit wahllosen Festnahmen, der Ermordung von politischen Gefangenen, die seit Jahren schuldlos in Haft sind und den willkürlichen Festnahmen versucht das Regime Angst und Schrecken zu verbreiten. Dies sehen nicht nur kritische und unabhängige Beobachter*innen so. Teile des Regimes warnen sogar: „Sobald die Corona-Krise etwas abgeflaut ist, sind große Unruhen zu befürchten.“

Anfang August 2020

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