Frankreich im „sanitären Ausnahmezustand“

Menschenleere Straßen in Paris am 17. März 2020. Foto: Charlievdb, Paris 17 March 2020 - eerie and quiet, CC-BY-NC-ND 2.0

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Keine Burgfriedenspolitik aber eine Offensive des Kapitals!

Frankreich im „sanitären Ausnahmezustand“

Von Bernard Schmid | 08.04.2020

Seit dem 24.03.2020 befindet sich Frankreich offiziell im „sanitären Ausnahmezustand“ – Ein eigenes Gesetz dazu wurde verabschiedet und erschien am Dienstag früh im Journal officiel dem offiziellen Amtsblatt

Auch das französische Parlament hat seine Coronavirus-Infektionsfälle; 26 Abgeordnete und Mitarbeiter/innen sind angesteckt worden, [1] mutmaßlich, weil der örtliche Parlamentarier in Mulhouse bei dem Evangelikalen-Treffen vom 17. bis zum 23. Februar 2020 mit rund zweitausend Teilnehmer/inne/n vorbeischauen musste.

Dieses wurde zum optimalen Seuchenherd für die Verbreitung des Coronavirus und erklärt im Übrigen, warum besonders das Südelsass zur Covid-19-Krisenregion wurde, mit Auswirkungen auch auf die in der Nähe liegende Schweiz. [2] Das Südelsass wurde im Kontext der derzeitigen sanitären Krise zum Krisenherd. Aus ihm flog die französische Armee vergangene Woche Intensivpatienten mit der Luftwaffe in Krankenhäuser in Marseille und Toulon aus; und am heutigen Mittwoch, 25. März 2020 wird ein Sonderzug mit medizinischer Ausstattung weitere Covid-19-Patient/inn/en nach Westfrankreich transportieren. [3] Mittlerweile hat die französische Armee auch ein Lazarett – einer Feldklinik nachempfunden – in unmittelbarer Umgebung des Krankenhauses von Mulhouse errichtet. [4] Also, liebe Leser/innen, falls in naher oder ferner Zukunft je ein evangelikaler Idiot Euch in den Ohren liegen sollte, um auf den besonderen Draht dieses Spektrums zum lieben Gott hinzuweisen…

Allabendlich um punkt 20 Uhr stehen seit nunmehr einer Woche Hunderttausende in ihrem Fensterrahmen und applaudieren, sicherlich nicht ihren Politiker/inne/n, wohl aber den Menschen in Gesundheitsberufen. Zunehmend werden dabei auch Schilder geschwenkt, zum Teil – jedenfalls in manchen Pariser Stadtteilen, sicherlich nicht überall – auch Slogans gegen die Regierung gerufen.

Gesetz zum „sanitären Notstand“ gibt den Chefs mehr Rechte!

Das alles hinderte die beiden französischen Parlamentskammern – Nationalversammlung und Senat – nicht daran, vorige Woche vom Donnerstag bis zum Sonntag (19. bis 22. März d. J.) in einer Notsitzung zu tagen: Allerdings in reduziertem Format: Je drei Abgeordnete pro Fraktion und das Präsidium, insgesamt 25 Personen bildeten infolge einer parteiübergreifenden Absprache die Nationalversammlung. Diese weist 577 Sitze auf. Es ging darum, ein Gesetz zum „sanitären Ausnahmezustand“ zu verabschieden, das weitgehend dem Modell der Notstandsgesetze für den Fall innenpolitischer Konflikte und Krise nachempfunden ist. Diese Referenz wurde durch das Regierungslager auch ausdrücklich genannt. (Vgl. dazu auch einen jüngsten, ausführlicheren Text von einem Anwaltskollegen des Autors dieser Zeilen. [5] Und vgl. die Meldung der Nachrichtenagentur AFP zur Annahme des Gesetzes vom Sonntagabend. [6])

Den Gesetzestext publizierte das Journal Officiel (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) am frühen Vormittag des Dienstag, 24. März 2020 an dieser Stelle [7]– Ihm folgte umgehen ein Regierungsdekret zum Thema. [8]

Genau wie die bisherige Notstandsgesetzgebung, die aus dem Jahr 1955 und dem Kontext des Algerienkriegs stammt, sah der Entwurf für fas Gesetz zum „sanitären Notstand“ vergangene Woche zunächst vor, dass die Exekutive den Notstand für zwölf Tage erklären kann. Die Frist wurde allerdings während der Beratungen auf einen Monat ausgedehnt.

Nach dessen Ablauf muss das Parlament ihn verlängern; auf den Exekutivnotstand folgt sozusagen der Parlamentsnotstand. Es ermächtigt damit zugleich die Exekutive, während einer Dauer von zwei Monaten lang bei bestimmten Themen die Tätigkeit des Gesetzgebers durch Regierungsverordnungen mit Gesetzeskraft (ordonnances) zu ersetzen.

Dies taten die beiden Parlamentskammern mit ihrem abschließenden Votum vom Sonntagabend, den 22. März 2020. Nun kann also die Exekutive auf dem Verordnungswege aktiv werden.

Dabei geht es in der aktuellen Version des Notstands unter anderem um Ausgangsbeschränkungen – solche gelten bereits seit dem Dienstag, um 17. März 2020 um Mittag, doch das Gesetz setzt die Strafen bei Übertretung (ursprünglich eine Buße in Höhe von 38 Euro) empfindlich herauf, auf 135 Euro und wesentlich höhere Summen bei Wiederholungshandlungen – und um den mehrmonatigen Aufschub für die zweite Runde der Kommunalwahlen, wofür eine gesetzliche Grundlage benötigt wird. (Vgl. dazu nebenstehenden Artikel.) Es geht jedoch auch um einschneidende Weichenstellungen im Arbeits- und Sozialrecht, zu denen die Regierung vom Parlament ermächtigt wurde. wobei der absolute Clou darin besteht, dass das Notstandsgesetz in der jetzigen Fassung kein Schlussdatum für die Neuregelungen vorsieht, die nun im Windschatten der Coronavirus-Krise vorgenommen werden können. [9]

Dazu zählt das Recht des Arbeitgebers, einseitig den Urlaub der Lohnabhängigen festzusetzen oder bereits gewährten Urlaub aufzuschieben, ohne die bis dahin geltende gesetzliche Vorwarnfrist – diese betrug bisher einen Monat – einzuhalten. Auch werden in den Gesundheitsdiensten die Obergrenzen für Überstunden ausgehebelt, nein halt: Die Regierung wird dazu ermächtigt, es „Unternehmen in Sektoren, die für die Sicherheit der Nation oder den Fortbestand des wirtschaftliche und sozialen Lebens besonders erforderlich sind, zu erlauben, von zwingenden gesetzlichen Regeln und von Kollektivvereinbarungen betreffend Arbeitszeit, wöchentlicher Ruhezeit und Sonntagsruhe abzuweichen“. [10] Also eben nicht nur im Gesundheitswesen… Oder welche Unternehmen sind, beispielsweise, für die Fortdauer des ökonomischen und sozialen Lebens besonders erforderlich? [11]

Zwangsurlaub und andere Freuden – 730000 in Kurzarbeit…

Im ersten Entwurf war auch vorgesehen, dass die Arbeitgeber in der derzeitigen Krise ihren Lohnabhängigen bis zu einer Woche einseitig festgesetzten Zwangsurlaub geben dürfen, [12] auf dass diesen einen Teil ihres Jahresurlaubs bereits während der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen aufbrauchen. Allerdings wird dies auch mit dem Argument „verkauft“, im Laufe einer Urlaubswoche bestehe eine Lohnfortzahlung zu 100 %, während bei einem – als Alternative bestehenden – Bezug von Kurzarbeitergeld nur 84 % des Nettogehalts (bis zur fünffachen Höhe des gesetzlichen Mindestlohns; die Deckelung soll verhindern, dass Millionenzahlungen an Profifußballer über Kurzarbeitergeld erfolgen …) fällig werden. Anm.: Am gestrigen Dienstag, den 24. März 2020 befanden sich offiziell 730 000 abhängige Beschäftigte in Frankreich im Zustand der Kurzarbeit (chômage partiel), für welche der Staat die Bezahlung übernahm.

… und der Urlaubsanspruch wird halbiert!

Überdies werden viele Arbeitgeber es – nun ja – nicht gerne sehen, nach dem Ende der akuten Pandemie-Krise im Rest des Jahres „auch noch“ Urlaub gewähren zu müssen. Der Arbeitgeberverband MEDEF schlug im Vorfeld der Parlamentsdebatte seinerseits vor, den Jahresurlaub in 2020 auf „zwei bis drei Wochen“, statt sechs, zu beschränken…, kam mit diesem ziemlich weitreichenden Vorschlag jedoch nicht durch.

Ein letztlich mit der Opposition getroffener Kompromiss zum Thema Zwangsurlaub beinhaltet, dass die in dritter Lesung angenommene endgültige Fassung es erforderlich macht, dass ein Branchen- oder ein Firmen-Kollektivvertrag diese verordnete Beurlaubung erlaubt. [13]

Nach Corona kommt die Krise!

Allerdings: Wenn auf die sanitäre in sehr absehbarer Zeit die massive Wirtschaftskrise folgen wird und der Arbeitgeber dann mit dem massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen droht – werden da viele örtliche Gewerkschaftssektionen zu widerstehen wissen?

Vor allem jedoch gilt diese Notwendigkeit der Zustimmung mindestens eines Teils der Gewerkschaften (ein Abkommen ist gültig, wenn die Unterzeichner mindestens 30 Prozent der Stimmen im Unternehmen erhielten) zwar für den gesetzlichen Urlaub, jedoch ausdrücklich nicht für Freizeitausgleich. Ab jetzt können im Zuge der Krisenbewältigung die Arbeitgeber bis zu 48 Stunden pro Woche arbeiten lassen und selbst festlegen, wann die dem entsprechenden dreizehn Überstunden durch Freizeit kompensiert werden. Also dann, wenn ihnen keine Aufträge vorliegen.

Was derzeit durch die akute Krise gerechtfertigt wird, dürfte in Anbetracht der heraufziehenden ökonomischen Verwerfungen bald ins allgemeine Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit einfließen. Zwar ging Frankreich in der bisherigen Krisensituation nicht so weit wie etwa Portugal, wo man beschloss, unter diesem Vorwand gleich mal das Streikrecht auszuhebeln, [14] doch an Ideen fehlt es auch hierzulande den Herrschenden nicht unbedingt…

Wo wird weitergearbeitet?

Laut Zahlen des (privaten) Fernsehsenders BFM TV vom Montag, den 23. März 2020 befanden sich zu dem Zeitpunkt 40 % der Lohnabhängigen in Frankreich in einem Zustand der Nichtarbeit (sei es wegen Kurzarbeit, wegen sonstiger Situationen der Schließung ihrer Arbeitsstätten, sei es wegen Ausübung des Rechts auf individuelle Arbeitsverweigerung – droit de retrait – in gesundheitsgefährdenden Situationen oder aufgrund ausbleibender Kinderbetreuung, die laut jüngsten Beschlüssen zur Krankmeldung berechtigt). 25 % arbeiten im Home office oder in Telearbeit, französisch télétravail genannt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein gutes Drittel der Lohnabhängigen weiterhin arbeitet, und dies nicht nur in den derzeit zweifellos unabdingbaren Gesundheitsberufen oder bei der Lebensmittelversorgung.

Auch in Frankreich wird allabendlich applaudiert…

Letztere Berufe werden durch die französische Gesellschaft übrigens derzeit massiv gefeiert (…mit Ausnahme ihrer Nachbarschaft, die sie mitunter wieder Aussätzige fürchtet [15]): Allabendlich um punkt 20 Uhr stehen seit nunmehr einer Woche Hunderttausende in ihrem Fensterrahmen und applaudieren, sicherlich nicht ihren Politiker/inne/n, wohl aber den Menschen in Gesundheitsberufen. Zunehmend werden dabei auch Schilder geschwenkt, zum Teil – jedenfalls in manchen Pariser Stadtteilen, sicherlich nicht überall – auch Slogans gegen die Regierung gerufen. In der rue Ordener im 18. Pariser Bezirk dachten Anwohner/innen auch daran, ein Dankesplakat – mit Herzchen darauf – an der Außenwand einer kleinen Supermarktfiliale anzubringen, um den dort Beschäftigten für die Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung zu danken. (Am Dienstag, den 23.03.2020 wurde beschlossen, dass nunmehr auch Wochenmärkte aus sanitären Gründen eingestellt werden müssen, außer bei Erteilung einer Sondergenehmigung.) Unterdessen sind seit dem vorigen Freitag, den 20. März 2020 bereits mindestens drei, neuesten Meldungen zufolge anscheinend bereits fünf Ärzte infolge einer Ansteckung im Dienst an der Covid-19-Krankheit verstorben (hier zum ersten unter ihnen, einem 68jährigen Narkosearzt in Compiègne, der in dieser Situation trotz Erreichen des Pensionsalters freiwillig weiterarbeitete [16]). Im Pariser Krankenhaus sind mindestens 345 Beschäftigte nachweislich infiziert, [17] und manche Stimmen behaupten, bis zu zwanzig Prozent des Gesundheitspersonal seien kontaminiert.

Diese Welle von Dankbarkeit gilt sicherlich nicht den Berufspolitikern im Lande, denen u. a. zu verdanken ist, dass ein schreiender Mangel an Schutzmasken besteht – der „Generaldirektor für Gesundheitspolitik“ (DGS) im Gesundheitsministerium machte anfänglich aus der Not eine Tugend und erklärte bei seinen allabendlichen Pressekonferenzen, das Tragen einer solchen vor dem Gesicht sei bestenfalls unnütz, wenn man nicht selbst Krankheitsüberträger sei –, während im Jahr 2009/2010 noch ein Vorrat an einer Milliarde Masken einfachen Typs und von rund 600 Millionen Gesichtsmasken vom Typ FFP2 bestand. Damals hatte die seinerzeitige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot in Erwartung einer gefährlichen Grippeepidemie (die dann nicht wie erwartet kam, was ihr viel Medienspott und Häme in der öffentlichen Meinung eintrug und zum Herumwerfen des Ruders führte… jedoch die Vorsichtsmaßnahme nicht nachträglich unbegründet werden ließ) Masken und Impfstoff bunkern lassen. Unter Premierminister François Fillon wurde daraufhin beschlossen, aufgrund der Lagerungs- und Erneuerungskosten sei dies unwirtschaftlich, überhaupt zu teuer, und man könne Masken ja notfalls bestellen, schließlich würden diese ja für den Weltmarkt produziert (ja… in China, großenteils, super, bingo, Volltreffer! Und bravo für die tolle Idee!). Die nachfolgende Gesundheits- und Sozialministerin Marisol Touraine – Amtsinhaber unter Präsident François Hollande ab 2012 und bis 2017 – redete sich zu Wochenanfang im Fernsehen darauf heraus, unter ihren Fittichen seien „noch 750 000 Masken“ vorhanden gewesen.

… und auch hier fehlt das nötigste Material.

In diesen Tagen kam ein mühsam betriebenes Inventar, nachdem in allen Hangars und quasi in allen Schubladen nachgesucht worden war, zu dem Schluss, es gebe im ganzen Land derzeit 86 Millionen Masken, eine allein für das Gesundheitspersonal völlig unzureichende Zahl ; nunmehr wurde die inländische Produktion dafür angeworfen (angeblich für eine Stückzahl von sechs Millionen wöchentlich. [18])

Quasi allabendlich sitzen nun Mediziner in den Fernstudios und erklären mal mit absolut ruhiger Stimme, mal fast schreiend (wie Jérôme Marty am Abend des 16. März 2020), das Gesundheitspersonal sei in der Ausübung seines Berufs in Gefahr, Frankreich führe sich auf wie ein wirtschaftlich unterentwickeltes Land, und man habe sich solche Zustände nie erträumen lassen … Nach den Anwältinnen und Anwälten (im Zuge der jüngsten Renten„reform“, deren Verabschiedung aufgrund der sanitären Krise bis Oktober d. J. auf Eis gelegt worden ist) hat die Regierung es sich allem Anschein nach mit einer weiteren Berufsgruppe ordentlich verschissen.

Zwar erklärten zumindest laut einer Umfrage, die am vorigen Wochenende in der Sonntagszeitung JDD publiziert wurde, angeblich 55 Prozent der Befragten, auf die durch die Regierung ergriffenen Maßnahmen „Vertrauen“ zu schenken. [19] Dies ist allerdings vor allem in dem Sinne zu werten, dass viele Menschen die seit einer Woche geltenden Ausgangsbeschränkungen – diese werden durch eine noch viel deutlichere Mehrheit befürwortet – und die Bestellung von Gesichtsmasken bei Herstellern nicht in Frage stellen möchten. Aus derselben Quelle geht jedoch auch hervor, dass 64 Prozent der Befragten auch der Auffassung sind, die Regierenden hätten der Öffentlichkeit „wichtige Informationen vorenthalten“. Und beim Sender Europe 1 „vertrauten“ Ende voriger Woche nur noch 46 Prozent (minus 7 %) den Regierenden. [20] Bei einer Umfrage am Dienstag, den 25. März d. J. – erneut u. a. für Europe 1 – waren es gar nur noch 37 Prozent! [21]

Macron wusste um die Gefahr

Und dies ist vielleicht erst der Anfang einer Staatsaffäre. Denn eine Woche zuvor platzte die Nachricht wie eine Bombe: Die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, die Mitte Februar dieses Jahres zurücktrat, um – auf erheblichen Druck von Staatspräsident Emmanuel Macron – als Spitzenkandidatin für dessen Partei LREM (La République en marche) bei der Kommunalwahl in Paris anzutreten und den infolge einer Sex-Affäre von der politischen Bühne abgetretenen Benjamin Griveaux zu ersetzen, hatte der Pariser Abendzeitung Le Monde ein Gespräch ermöglicht. [22] Darin erklärt sie, damals habe sie bereits gewusst, dass „ein Tsunami auf uns zurollt“, und vergeblich sowohl Präsident Macron als auch Premierminister Edouard Phlippe vorgewarnt. Diese hätten die alarmierenden Informationen nicht ernstgenommen. Deswegen, und nicht wegen Wehmuts beim Verlust ihres Ministerposten, habe sie bei der Amtsübergabe an ihren Nachfolger Olivier Véran vor laufenden Kameras Tränen vergossen. (Ein Gerücht, das sich bislang weder untermauern noch widerlegen lässt, behauptet übrigens, Buzyn habe sich selbst mit dem Coronavirus infiziert. Dies mag nun stimmen oder nicht.)

Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon wies daraufhin unverzüglich darauf hin, falls Agnès Buzyn der Öffentlichkeit da wichtige Informationen vorenthalten habe, könne dies ein strafbares Verhalten darstellen. [23] Inzwischen haben übrigens sechshundert Ärztinnen und Ärzte in dieser Sache Strafanzeige gegen Madame Buzyn und ihren früheren Vorgesetzten, den damaligen und jetzigen Premierminister Edouard Philippe, erstattet. [24]

Kriegswichtige Unternehmen…

Zurück zum Weiterarbeiten, und den sozusagen kriegswichtigen Unternehmen (in seiner Ansprache zur Coronavirus-Krise am Abend des Montag, den 16. März 2020 benutzte Staatspräsident Emmanuel Macron sechsmal das Wörtchen guerre, „Krieg“): Akut betrifft die Frage derzeit etwa die Bauindustrie. Deren Arbeitgeberverbänden wollten ihre Baustellen, vor dem Hintergrund des bestehenden sanitären Risikos, vorübergehend einstellen und die Beschäftigten auf Kurzarbeitergeld stellen. Daraufhin kam es jedoch zu einer Polemik mit Arbeitsministerin Muriel Pénicaud, die (im übertragenen Sinne) keifte, dies sei „vorbeugende Kapitulation“, und ihre untergegebenen Behörden dazu aufforderte, Druck auf die in ihren Augen feigen Unternehmen auszuüben. Auf dass diese ihre Lohnabhängigen wieder auf die Baustellen schickten… Woraufhin etwa die Arbeitgeberpräsidentin im Département von Orléans ihr antwortete: „Wir werden unsere Beschäftigten nicht in Gefahr bringen!“ [25]

Mittlerweile wurde jedoch, im Verlauf des Wochenendes vom 21./22. März 2020, eine Vereinbarung zwischen Regierung und den Vereinigungen der Bauindustrie getroffen. Diese sieht vor, dass auf einem Großteil der Baustellen weiter- bzw. wieder gearbeitet werden soll. [26] Die Arbeitgeber sollen für den Gesundheitsschutz ihrer Beschäftigten sorgen. Laut Arbeitsministerin Pénicaud ist der Weiterbetrieb erforderlich, weil die betreffenden Unternehmen „wesentlich für das ökonomische Leben des Landes und seines Funktionierens“ seien, vgl. den ersten in diesem Absatz zitierten Artikel.

Gewerkschaften laufen Sturm – Unternehmen profitieren

Auseinandersetzungen um den Weiterbetrieb, den Gewerkschaften oder abhängig Beschäftigte im Kontext der aktuellen sanitären Krise kritisieren, gibt es auch auf den Atlantikwerften in Saint-Nazaire, wo Lohnabhängige die Wiederaufnahme der Arbeit verweigert und deren Schließung die CGT fordert, [27] sowie bei Amazon in Frankreich für Tätigkeiten, die nichts mit der Lieferung von medizinischen Produkten zu tun haben. Auch dort liefen Gewerkschaften Sturm. [28] Unterdessen profitierte das Lieferunternehmen gewaltig davon, dass Millionen von Menschen plötzlich zu Hause herumsitzen mussten und sich Konsumartikel liefern lassen wollten. [29]

Mittlerweile hat Amazon jedoch darin eingewilligt, in Frankreich & Italien das Liefersortiment einzuschränken und in der aktuellen Situation „nicht vordringliche“ Bestellungen zurückzustellen. Auslegungsfrage? [30]

Ihrerseits hat die Regierung für betroffene Lohnabhängige eine Lösung anzubieten: Die Unternehmen sollen ihnen eine Sonderprämie in Höhe von 1 000 Euro (jährlich) auszahlen. [31] Die Supermärkte werden dies tun. [32]

Dabei handelt es sich für unsere Leser/innen um eine alte Bekannte: Die durch die Regierung vorgeschlagene, doch durch die Unternehmen auf freiwilliger Basis zu zahlende Jahresprämie war Bestandteil des Maßnahmenbündels, welches Staatspräsident Emmanuel Macron im Dezember 2018 im TV ankündigte, um eine Antwort auf die damalige „Gelbwesten“-Krise zu erteilen … [33] Labournet berichtete bereits damals ausführlich…

Polizeifestspiele in Trabantenstädten und sozialen Brennpunkten

Wie man wohl leider erwarten konnte, hat sich durch die aktuelle Situation die Ausrichtung und konkrete Funktionsweise des Polizeiapparats insbesondere in den banlieues (Trabantenstädten) und quartiers populaires (Unterklassen-Wohnvierteln) nicht wesentlich verändert. Zum Teil scheinen in diesem Zusammenhang die neuen Kontrollbefugnisse zum Freibrief für Übergriffe, mitunter mit unzweifelhaft rassistischem Hintergrund, zu werden.

Schon zu einem frühen Zeitpunkt wurden Fälle publik, in denen behauptet wurde, Polizisten hätten Ausgangsscheine zerrissen und Strafzettel verteilt. Dazu wurde am Donnerstag, den 19. März 2020 auch das folgende Video bei Facebook eingestellt. [34]

Allerdings besteht in diesem konkreten Falle das Problem, dass die gefilmte Szene erst einsetzt, als die Situation bereits eskaliert zu sein scheint. Und der Berichterstatter – selbst Aktivist – schreibt in seinem Kommentar dazu: „Ok, die Dame übertreibt ein wenig, und wenn sie wirklich infiziert ist, würde sie (tatsächlich) besser zu Hause bleiben.“ Insofern ist in diesem konkreten Falle der Hintergrund nicht genau geklärt. Auf der einen Seite scheint die These zu stehen, Leute – Bewohner/innen eines sozialen Brennpunkts – hätten lediglich „Mineralwasser bei LIDL einkaufen“ wollen und ihr Ausgangszettel sei durch die Polizisten zerrissen worden; auf der anderen Seite jene, eine betroffene Person sei aufgrund eigener Kontaminierung mit dem Coronavirus zum Verbleib in der Wohnung aufgefordert worden. Eine nähere Überprüfung wäre in diesem Einzelfall sicherlich erforderlich.

Nicht diskutierbar scheint hingegen dieser Fall, der am gestrigen Dienstagabend (24. März 2020) durch eine Website mit Lokalinformationen aus der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone dokumentiert wurde, [35] zu sein. Demnach wurde eine 19jährige junge Frau (mit schwarzer Hautfarbe), die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung Babynahrung für ihr erst wenige Monate altes Kind einkaufen wollte, durch insgesamt acht Polizisten u.a. als „Nutte“ beschimpft, mit einem Taser (Elektroschockgerät) attackiert, in einem Polizeifahrzeug mit Füßen traktiert und im Anschluss für eine Stunde auf der Wache festgehalten. Die Ereignisse trugen sich demnach bereits am Donnerstag, den 19. März 2020 zu, also zwei Tage nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen, als insgesamt noch viel Improvisation herrschte. Der Schilderung zufolge wollte die junge Frau ihre Ausgangsbescheinigung in einem nahen Internetcafé ausdrucken, doch dieses hatte (wohl infolge der Regierungsanordnungen zum Dichtmachen nicht versorgungswichtiger Einrichtungen) geschlossen. Laut der Darstellung in dem Artikel hatte sie jedoch ein handgeschriebenes Papier dabei, was laut damaligen Darstellungen der Regierung auf ihren Webseiten und im TV zulässig war, sofern das Dokument die erforderlichen Angaben zur Identität der Person, Datum und Ausgangsgrund enthielt.

Am selben Datum (19. März 2020), wurde bekannt, dass zehn Prozent der frankreichweit verhängten Geldbußen allein im Département Seine-Saint-Denis verhängt wurden, also dem ärmsten Verwaltungsbezirk in Frankreich, welcher die Trabantenstädte nördlich und nord-östlich des Pariser Stadtgebiets umfasst. [36] Nun mag bei Teilen der dort ansässigen Bevölkerung aufgrund grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den Autoritäten, und weil Gedanken an das tägliche Überleben möglicherweise näher liegen als jene für die Risiken des Coronavirus, tatsächlich ein Problem mit der Einhaltung der in Seuchenzeiten erforderlichen Ausgangsdisziplin bestehen. Dieses besteht jedoch mindestens ebenso sehr bspw. bei jungen Besserverdienenden mit individualistischer Haltung. Und angesichts der Tatsache, dass dieses Département 1,654 Millionen Einwohner/innen (Stand: 2019) von insgesamt 67 Millionen Einwohner/inne/n zählt, jedoch ein Zehntel der gesamten Geldstrafen in Frankreich – jedenfalls bei Verfassen des oben zitierten Artikels –, wird klar, dass das manifeste Missverhältnis sich bestimmt nicht ausschließlich aus individuellem Fehlverhalten erklären kann.

91824 Strafbescheide wegen übertreten der Ausgangsperre in fünf Tagen.

Alles in allem wurden bis zum Sonntagabend (den 22. März 2020), innerhalb von fünf Tagen, 91 824 Strafbescheide wegen ungerechtfertigten Übertretens der Ausgangsbeschränkungen erteilt; demnach wurden bis zu dem Zeitpunkt insgesamt 1 738 097 Kontrollen durchgeführt. [37] Das waren zum fraglichen Zeitpunkt mehr Strafgeldbescheide, und erst recht ungleich mehr Personenkontrollen, als im Vergleichszeitraum Coronavirus-Tests durchgeführt worden waren. Denn im fraglichen Zeitraum lag die Anzahl täglich durchgeführter medizinischer Tests auf eine Coronavirus-Infektion in Frankreich bei 4 000 (im Vergleich zu 16 000 in Deutschland!); und nur, wer eindeutige oder erschwerte Symptome aufwies, wurde zum Test zugelassen.

ZUSATZINFORMATION: Am 09. März dieses Jahres waren es erst 1 000 Tests pro Tag, wesentlich weniger als bspw. in Italien. [38] Allerdings verkündete der Generaldirektor für Gesundheitspolitik im zuständigen Ministerium – Professor Jérôme Salomon – nun am frühen Dienstagabend (24.03.2020), mittlerweile liege die Anzahl durchgeführter Tests bei 9 000 pro Tag, und bis zum Ende der Woche solle diese Zahl nochmals um zehntausend täglich gesteigert werden.

Polizeigewalt wird den Notstand bestimmen

Sicherlich ist zu erwarten, dass Polizeigewalt und Missbräuche des sanitären Notstands durch staatliche Stellen uns in dieser Situation auch weiterhin begleiten werden.

Die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) – ein unabhängiges Gremium, das dem Amt des Premierministers beigeordnet ist und überwiegend aus NGO- sowie Gewerkschafts-Vertreter/inne/n besteht, vor rund zehn Jahren nahm auch der Verf. dieser Zeilen dort zeitweilig für eine NGO an den Sitzungen teil – richtete unterdessen eine „Beobachtungsstelle für den sanitären Notstand und die Ausgangsbeschränkungen“ ein. Diese soll „Diskriminierungsfälle, ausschließende Praktiken, Rechtsverletzungen“ in diesem Zusammenhang dokumentieren. – Vgl. dazu unser anhängendes Dokument Nr. 1

Sagen wir es klar dazu: Es gibt zugleich auch unsägliche Idioten, die sich der notwendigen sanitären Disziplin zu entziehen versuchen und dabei – in Einzelfällen – auch gewalttätig werden. Am heutigen Mittwoch früh wurde bekannt, dass eine 23jährige junge Polizistin im Dienst in Beauvais (rund fünfzig Kilometer nördlich von Paris, im Département Oise, das seit mehreren Wochen eine besondere Covid-19-Krisenregion vergleichbar dem Südelsass darstellt) am Vortag bei einer Personenkontrolle im Zusammenhang mit den Ausgangsbeschränkungen am Kopf schwer verletzt wurde. [39] Dieses Verhalten ist durch nichts zu gerechtfertigt und wird hoffentlich durch eine angemessene, nicht zu kurze Haftstrafe geahndet werden.

Unterdessen hat auch die französische extreme Rechte die Einwohner/innen von Vorstädten und sozialen Brennpunkten zur Zielscheibe einer publizistischen und politischen Hasskampagne erkoren, unterstützt auch durch Teile der konservativen Rechten, bei denen z. T. absolut imaginäre Vorwürfe erhoben und etwa massenhafte Ladenplünderungen während der Ausgangsbeschränkungen herbeihalluziniert werden. [40]

Die Spannungen werden an diesen gesellschaftliche „Sollbruchstellen“ mit einiger Wahrscheinlichkeit noch zunehmen. Und selbstverständlich muss klar werden, dass es allemal einfacher ist, mehrwöchige Ausgangsbeschränkungen zu durchleben, wenn man in einem Häuschen mit Garten oder in einer Zweitwohnung auf dem Land sitzt (Versorgungsmöglichkeiten vorausgesetzt…), als dieselben in einer beengten oder überlegten Hochhauswohnung erdulden zu müssen…

Auch Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye sprach am vorigen Freitag, den 20. März 2020 von einemrassistischen „Beigeschmack“, den die Kontrollen während der Ausgangsbeschränkungen respektive entsprechende Meinungskampagnen „schnell, sehr schnell annehmen werden“. [41]

 

Abschiebehaft und sanitäre Notsituation

Auch die Situation von Ausländer/inne/n in Abschiebehaft wurde zu einem politisch-juristischen Brennpunkt im Zusammenhang mit der aktuellen sanitären Krise. Im Laufe der vorigen Woche leerten sich vorläufig die Abschiebehaftzentren (Centres de rétention administrative) weitgehend, da entweder die für ihren Betrieb zuständigen Behörden selbst oder aber die kontrollierenden Verwaltungs- und Haftprüfungsgerichte zu der Auffassung kamen, die beengten räumlichen Verhältnisse verunmöglichten das aus sanitären Gründen erforderliche social distancing und begünstigten die Weiterverbreitung des Coronavirus. Es gibt aber auch gegenläufige, negative Entscheidungen. [42]

Insgesamt weisen die Abschiebehaftanstalten in Frankreich rund 1 500 Plätze auf. Davon waren am vorigen Donnerstag, den 19. März d. J. daraufhin noch 360 belegt, am Montag dieser Woche (23.03.2020) waren es noch 343. [43]

Im Augenblick – seit Anfang dieser Woche – funktioniert es allerdings nicht mehr in vergleichbarer Weise wie in der Vorwoche, unter Berufung auf das Infektionsrisiko von Haftprüfungsrichter/inne/n (JLD, das bedeutet juges de la liberté et de la détention) Freilassungen aus den Abschiebezentren zu erreichen. Aufgrund der Tatsache, dass diese sich weitgehend leerten, urteilten mittlerweile – jedenfalls in den letzten konkreten Fällen – die zuständigen Richter/innen, die Risiken seien inzwischen behoben, da ja nun Platz in den Abschiebehaftanstalten herrsche und also auch ein Distanzhalten möglich sei …

Auch der Autor dieser Zeilen ist (als Anwalt) an entsprechenden, derzeit anhängigen Verfahren beteiligt. Ggf. folgt eine Aktualisierung zu diesem Punkt in Kürze.

 

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