Gibt es Verschwörungen? Klein-Erna sagt Fritzchen, sie habe Störche gesehen. Fritzchen antwortet: „Es gibt doch keine Störche!“. Zu Unrecht – es gibt Störche und es gibt Verschwörungen. Verschwörungstheorien kranken so wenig wie die Fortpflanzung daran, dass es keine geben würde. Sie kranken eher daran, dass sie vom Problem der Eigentums- und Machtverhältnisse ablenken, die sogar ganz ohne Verschwörungen völlig unerträglich wären.
Beispiel für echte Verschwörung: Das MAI-Abkommen
Was Verschwörungen der Mächtigen betrifft, so nehmen wir ein gut dokumentiertes Beispiel aus der Vergangenheit: das in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gescheiterte Multilaterale Investitionsschutzabkommen (MAI). Hochrangige Vertreter von Regierungen und Kapitaleigentümern erarbeiteten seit 1995 unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen Entwurf dazu in der Absicht, die unübersichtlich vielen bilateralen Investitionsschutzabkommen zu ersetzen und die Position der Investoren gegenüber den Regierungen vor allem der Staaten des globalen Südens substanziell zu stärken. Der Rahmen dafür war die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), doch sollten auch Länder, die nicht Mitglieder der OECD sind, beitreten können.
1997 wurden die geheimen Verhandlungen durch eine „Indiskretion“ bekannt. Die Information darüber wurde zunächst über das Internet verbreitet. Kritische Publizist*innen (darunter der SoZ) und Nichtregierungsorganisationen schlugen Alarm. Das führte zu einer öffentlichen Diskussion. Zunächst in Kanada und in den USA, etwas später in Europa griffen die Massenmedien das Thema auf, wenn auch mit gebremstem Schaum. Daraufhin entwickelte sich ein breiter zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen das anrüchige Projekt. Im September 1998 erklärten Vertreter*innen von 450 transnationalen Konzernen ihren Kritiker*innen unverhohlen den Krieg: Sie würden die öffentliche Ordnung untergraben, rechtmäßige Institutionen und den demokratischen Prozess stören. Man solle mal prüfen, ob diese Nichtregierungsorganisationen überhaupt legitim seien. Gleichwohl wurden die Verhandlungen über das MAI ausgesetzt. Im Dezember 1998 stellte sich Frankreich offiziell quer, und das MAI war gescheitert.
In der Corona-Krise sprießen Verschwörungstheorien
Im Zuge der Corona-Krise blühen Verschwörungstheorien auf, die in den einschlägigen Internet-Blasen gepflegt werden und auch zu – scheinbar! – aufmüpfigen Protestaktionen führen. Ist das Virus nicht nur ein Vorwand, um uns die Grundrechte wegzunehmen? Plant nicht Bill Gates, der mittels der Krise weitere Milliarden scheffeln will, über den Umweg der Impfpflicht uns Chips einzupflanzen, mit denen wir endgültig zu Marionetten des „Tiefenstaats“ werden? Ist die gleichgeschaltete „Lügenpresse“ nicht eine Erfüllungsgehilfin der Regierenden und der hinter ihnen steckenden Dunkelmänner? Da es nur so wenige Horte der Freiheit gibt – wie in Weißrussland – und nur so wenige Aufrechte (wie Trump und Bolsonaro) gegen die Feinde der Freiheit mobilisieren, muss es sich wahrlich um eine Weltverschwörung handeln. Kein Wunder, dass die AfD und andere Rechtsextremisten sich des Themas annehmen. Und wenn es eine Weltverschwörung ist, dann müssen wohl die Juden dahinterstecken.
Nein, rationale Argumente zählen da nicht.
Nur leider gibt es auch Linke, die sich solche Argumentationsmuster (ohne Wert) zu eigen machen und darum – ob sie es wollen oder nicht – in einer Querfront mit diesen Rechten landen. Rationalen Argumenten sind sie dann rasch nicht mehr zugänglich. Warum sollte die offizielle Politik, die den Interessen des großen Kapitals verpflichtet ist, die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg heraufbeschwören, mit unabsehbaren Folgen auch für das große Kapital? Wieso macht die überwältigende Mehrheit der Regierungen dabei mit, bis hin zur kurdischen Selbstverwaltung in Rojava, die so vielen Linken als Projektionsfläche für ihre Träume dient?
Nein, rationale Argumente zählen da nicht. Wenn die Zahl der Infektionen zurückgeht, dann zeigt das, dass die einschränkenden Maßnahmen nicht nötig waren um die Pandemie einzudämmen. Wenn sie hochschnellt zeigt das, dass sie nicht dazu taugen, die Pandemie einzudämmen. Virologen und Epidemiologen liefern den Herrschenden die Argumente gegen die Freiheit. Die etablierte Politik läuft an ihrem Gängelband. Wer nicht in den einschlägigen Wissenschaften bewandert ist und trotzdem deren Argumente für stichhaltig hält, dem wird voller Hohn vorgehalten, wir hätten jetzt ebenso viele Millionen selbsternannte Virologen wie Bundestrainer.
Das kubanische Wundermedikament
Nehmen wir ein Beispiel, das manche Linke gerne aufgreifen. In Kuba gibt es ein Wundermedikament gegen Covid-19, das Interferon Alfa 2B. In der VR China wurde es schon erfolgreich eingesetzt. Doch die totalitär gleichgeschalteten Westmedien verschweigen uns das. Wenn kubanische Gesundheitsbrigaden zum Beispiel in Italien in Reih‘ und Glied aufmarschieren und „Hasta la victoria siempre!“ rufen, dann ist Trump begreiflicher Weise nicht amüsiert. Er und alle Regierenden, Medien und Wissenschaftler*innen des Westens sorgen daher in ehernem Einverständnis dafür, dass wir dieses Wundermedikament nicht kriegen, weshalb wir bald alle krank werden und verrecken. Ein solcher Linker hat zum Beispiel als ersten Punkt eines „Aktionsprogramms“ gegen die Corona-Krise von der Bundesregierung gefordert, Verhandlungen mit der kubanischen Regierung aufzunehmen, damit wir alle das Wundermedikament kriegen. Die Bundesregierung hat das trotzdem nicht getan, denn sie ist der US-Regierung untertan.
Der Hass auf die Verschwörer ersetzt die Auflehnung gegen die bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse.
Nun, das Interferon Alfa 2B gibt es so sicher, wie es ja auch Störche gibt. Es wurde gegen Hepatitis entwickelt und wirkt auch der Verbreitung von Coronaviren in menschlichen Organismen entgegen (ohne diese freilich auszurotten). Studien anhand einer ziemlich geringen Zahl von Anwendungen sprechen dafür. Außerdem hat dieses Medikament recht drastische Nebenwirkungen. Wenn es das bahnbrechende Mittel gegen Covid-19 wäre, dann wäre das Triumphgeschrei der chinesischen Machthaber unüberhörbar gewesen. Außerdem – und das ist entscheidend – hätten wir Spuren davon in den westlichen Massenmedien gesehen. Denn diese werden zwar sehr wohl immer wieder mit viel Aufwand im Interesse der Herrschenden „ausgerichtet“. Sie sind aber nicht so hermetisch abgedichtet, dass gut und seriös recherchierte Enthüllungen keine Spuren in ihnen hinterlassen würden – wie im eingangs aufgeworfenen Fall des Investitionsschutzabkommens MAI.
Doch Argumente zählen nicht, weil die Verschwörungstheorien ein bestimmtes Bedürfnis bedienen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind durchaus komplex, und das normale Bewusstsein der Beherrschten ist das Bewusstsein der Herrschenden. Hier aufklärend zu wirken und kritisches Bewusstsein zu befördern heißt dicke Bretter zu bohren. Sehr viel einfacher ist es, einen mehr oder weniger verborgenen Bösewicht aufzuspießen, mag er Rockefeller, Bill Gates oder sonstwie heißen. Das beruhigt und hilft, die Durchblickerbrille aufzusetzen. Der Hass auf die Verschwörer ersetzt die Auflehnung gegen die bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Der wildgewordene Kleinbürger schlägt wieder um sich und endet in der Masse einmal mehr als Rammbock gegen jegliches wirkliches Streben nach Emanzipation.
Nicht NGOs sondern revolutionäre Bewegungen
Verschweigen wir nicht den wahren Kern in allen Verschwörungstheorien. Ein Multimilliardär wie Bill Gates stößt mit seiner wohldotierten Stiftung in die Lücke des Versagens internationaler Organisationen wie der WHO, der Trump zynisch die finanzielle Unterstützung entzieht, ausgerechnet jetzt. Genug Grund zu Zorn und zu Hass gibt es tatsächlich, weil das Schicksal der Verdammten dieser Erde mit der gegenwärtigen Krise noch unerträglicher wird, im globalen Süden wir hier bei uns. Demokratische Rechte, vor allem in den Betrieben, werden mithilfe der Krise tatsächlich untergraben. Und die Frage, wer letztlich die Kosten der Krise tragen soll, ist eine entscheidende Frage, die nur im Kampf entschieden werden kann – im Klassenkampf der abhängig Beschäftigten, Abgehängten und Unterdrückten gegen die da oben.
Ehrlicher Weise nachzutragen bleibt zum Scheitern des Investitionsschutzabkommens MAI, dass dessen Inhalte seither – wenig beachtet und wenig spektakulär – in zahlreiche Regelwerke der internationalen Staatengemeinschaften eingeflossen sind. Was folgt daraus? Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das bewirkt haben, gehören auf die Anklagebank. Dazu brauchen wir mehr als Nichtregierungsorganisationen, nämlich revolutionäre Bewegungen.
Dies ist eine Vorabveröffentlichung aus der Sozialistischen Zeitung (SoZ) – mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Die aktuelle Ausgabe kann hier bestellt werden.