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Buchbesprechung: Über Marx und Ökosozialismus

Kohei Saito über Karl Marx’ unvollendete Kritik des Kapitalismus

Von Michael Löwy | 06.06.2023

Mainstream-Ökolog:innen tun Karl Marx oft als „produktivistisch“ und blind für ökologische Probleme ab. In den Vereinigten Staaten ist in den letzten Jahren ein wachsender Korpus von ökomarxistischen Schriften entstanden, die dieser konventionellen Weisheit scharf widersprechen.

Die Pioniere dieser neuen Forschung waren John Bellamy Foster und Paul Burkett, gefolgt von Ian Angus, Fred Magdoff und anderen. Sie haben dazu beigetragen, Monthly Review in eine öko-marxisti­sche Zeitschrift zu verwandeln. Ihr Hauptargument ist, dass Marx sich der zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Akkumulation für die Umwelt sehr bewusst war, ein Prozess, den er mit dem Konzept der „metabolic rift“ (Störung des Stoffwechsels) beschrieb.

Man mag mit einigen ihrer Interpretationen von Marx’ Schriften nicht einverstanden sein, aber ihre Forschung war entscheidend für ein neues Verständnis seines Beitrags zur ökologischen Kritik des Kapitalismus.

Kohei Saito ist ein junger japanischer marxistischer Gelehrter, der zu dieser wichtigen öko-marxis­tischen Schule gehört. Sein Buch[i], das bei Monthly Review Press erschienen ist [und vorher auf Deutsch bei VSA herausgekommen war[ii]], ist ein sehr wertvoller Beitrag zur Neubewertung des Marxschen Erbes aus einer ökosozialistischen Perspektive.

Wiederherstellung der Einheit

Eine der großen Qualitäten von Saitos Arbeit ist, dass er ‒ im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftler:innen ‒ Marx’ Schriften nicht als ein systematisches Werk behandelt, das von Anfang bis Ende (nach Ansicht von manchen) durch ein starkes ökologisches Engagement oder aber (nach Ansicht von anderen) durch eine starke unökologische Tendenz definiert ist.

Wie Saito sehr überzeugend darlegt, gibt es Elemente der Kontinuität in Marx’ Reflexion über die Natur, aber auch einige sehr bedeutende Veränderungen und Neuorientierungen. Außerdem sind, wie der Untertitel des Buches andeutet, seine kritischen Überlegungen zum Verhältnis von politischer Ökonomie und natürlicher Umwelt „unvollendet“.

Eine der wichtigsten Kontinuitäten die Frage der kapitalistischen „Trennung“ des Menschen von der Erde, d. h. von der Natur. Marx nahm an, dass es in vorkapitalistischen Gesellschaften eine Form der Einheit zwischen den Produzent:innen und dem Land gegeben hatte. Die Wiederherstellung der ursprünglichen, durch den Kapitalismus zerstörten Einheit zwischen Mensch und Natur, allerdings auf einer höheren Ebene (eine Negation der Negation), betrachtete er als eine der zentralen Aufgaben des Sozialismus.

Dies erklärt das Interesse von Marx an vorkapitalistischen Gemeinschaften, sowohl in seiner Befassung mit Ökologie (beispielsweise Carl Fraas) als auch in seinen anthropologischen Forschungen (Georg Ludwig von Maurer): Beide Autoren wurden als „unbewusste Sozialisten“ wahrgenommen.

In seinem letzten wichtigen Dokument, dem Brief an Vera Sassulitsch (1881), behauptet Marx, die modernen Gesellschaften könnten „mit der Beseitigung des Kapitalismus (…) zu einer höheren Form des ,archaischenʻ Typus des kollektiven Eigentums und der kollektiven Produktion“ zurückkehren.[iii]

Ich denke, dass dies zu dem „romantisch-antikapitalistischen“ Moment in Marx’ Überlegungen gehört. Auf jeden Fall ist diese interessante Einsicht von Saito heute höchst relevant, wenn indigene Gemeinschaften in Amerika, von Kanada bis Patagonien, an vorderster Front des Widerstands gegen die kapitalistische Zerstörung der Umwelt stehen.

Eine Evolution im Denken

Saitos Hauptbeitrag besteht jedoch darin, die Bewegung, die Entwicklung von Marx’ Reflexionen über die Natur aufzuzeigen, in einem Prozess des Lernens, Überdenkens und Umgestaltens seiner Gedanken. Vor dem Kapital (1867) findet man in Marx’ Schriften eine eher unkritische Einschätzung des kapitalistischen „Fortschritts“, eine Haltung, die oft mit dem vagen mythologischen Begriff „Prometheanismus“ beschrieben wird.

Dies ist offensichtlich, wenn im „Kommunistischen Manifest“ die „Unterjochung der Naturkräfte“ durch das Kapital und die „Urbarmachung ganzer Weltteile“[iv] gefeiert werden; aber es gilt auch für die „Londoner Hefte“ (1850 bis 1853)[v], die ökonomischen Manuskripte aus dem Jahren 1861 bis 1863 und andere Schriften aus diesen Jahren.

Saito scheint die Grundrisse (1857/58) ‒ meiner Meinung nach seltsamerweise ‒ von seiner Kritik auszunehmen. Diese Ausnahme ist nicht gerechtfertigt, wenn man bedenkt, wie sehr Marx in diesem Manuskript „die große zivilisierende Mission des Kapitals“ in Bezug auf die Natur und auf die vorkapitalistischen Gemeinschaften bewundert, die Gefangene ihrer lokalen Begrenztheit und ihrer „Natur­idolatrie“ (!) seien.[vi]

Die Wende kommt 1865/66, als Marx aufgrund der Lektüre der Schriften des Agrarchemikers Justus von Liebig die Probleme der Bodenerschöpfung und der Störung des Stoffwechsels zwischen den menschlichen Gesellschaften und der natürlichen Umwelt entdeckt.

Dies wird im ersten Band des Kapital (1867), aber auch in den beiden anderen unvollendeten Bänden, zu einer viel kritischeren Einschätzung der zerstörerischen Natur des kapitalistischen „Fortschritts“, insbesondere in der Landwirtschaft, führen. Nach 1868 wird Marx durch die Lektüre eines anderen deutschen Wissenschaftlers, Carl Fraas, auch andere wichtige ökologische Themen wie die Abholzung der Wälder und den lokalen Klimawandel entdecken.

Wäre Marx in der Lage gewesen, die Bände II und III des Kapitals zu vollenden, so Saito, hätte er die ökologische Krise noch stärker betont. Dies impliziert zumindest, dass in dem unvollendeten Zustand, in dem Marx diese Bände hinterließ, diese Themen nicht stark genug betont wurden.

Dies führt zu meiner Hauptdiskrepanz mit Saito. In mehreren Passagen des Buches behauptet er, für Marx sei „die Umweltunnachhaltigkeit (…) der Widerspruch des Kapitalismus“ (S. 142, Hervorhebung von Saito)[vii]; oder dass „der späte Marx die Störung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur sogar als den gravierendsten Widerspruch des Kapitalismus“ ansah (S. 263, dt. Ausg. S. 304); oder Marx hätte „mit größter Wahrscheinlichkeit viel stärker das Problem der ökologischen Krise als zentralen Widerspruch des Kapitalismus hervorgehoben, wenn er das zweite und dritte Buch des Kapital vollendet hätte“ (dt. Ausg. S. 17).[viii]

Ich frage mich, wo Saito in Marx’ Schriften, veröffentlichten Büchern, Manuskripten oder Notizbüchern solche Aussagen gefunden hat. Sie sind dort nicht zu finden, und das aus gutem Grund.

Die Nicht-Nachhaltigkeit des kapitalistischen Systems war im 19. Jahrhundert nicht das entscheidende Thema, zu dem es heute, oder genauer gesagt seit 1945, geworden ist. Ian Angus argumentiert sehr überzeugend, dass dies der Zeitpunkt ist, an dem die menschliche Aktivität zur dominanten Gestalterin der Umwelt auf dem Planeten zu werden begann. Er betrachtet dieses Jahr als das Datum, an dem der Planet in ein neues geologisches Zeitalter eintrat, das „Anthropozän“.[ix]

Außerdem meine ich, dass die Störung des Stoffwechsels oder der Konflikt mit den natürlichen Grenzen mit „Problem des Kapitalismus“ oder „Widerspruch des Systems“ nicht adäquat beschrieben wird. Es ist viel mehr! Es ist ein Widerspruch zwischen dem System und der „ewigen Naturbedingung“ (Marx)[x], und damit ein Konflikt mit den natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens auf dem Planeten.

Tatsächlich kann, wie Paul Burkett (den Saito zitiert [S. 108]) argumentiert, das Kapital unter allen natürlichen Bedingungen, wie degradiert sie auch immer sein mögen, weiter akkumulieren, solange es nicht zu einer vollständigen Auslöschung des menschlichen Lebens kommt.[xi] In der Tat kann die menschliche Zivilisation verschwinden, bevor die Kapitalakkumulation unmöglich wird.

Saito schließt sein Buch mit einer nüchternen Einschätzung ab, die mir eine sehr treffende Zusammenfassung des Themas zu sein scheint: Das Buch Das Kapital bleibt ein unvollendetes Projekt.

Marx hat weder alle Fragen beantwortet noch die heutige Welt vorhergesagt. Aber seine Kapitalismuskritik liefert eine äußerst hilfreiche theoretische Grundlage für das Verständnis der aktuellen ökologischen Krise. Daher würde ich hinzufügen, dass der Ökosozialismus auf Marx’ Einsichten aufbauen kann, aber eine neue, ökomarxistische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Anthropozäns im 21. Jahrhundert vollständig entwickeln muss.

Aus dem Englischen übersetzt, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Wilfried Dubois

Dieser Beitrag ist in der US-amerikanischen Zeitschrift Against the Current veröffentlicht worden (Nr. 201, Juli/August 2019, https://solidarity-us.org/atc/201/review-ecosocialism/).

Michael Löwy ist 1938 in Brasilien geboren worden und dort aufgewachsen, seit 1969 lebt er vorwiegend in Paris. Von 1961 bis 1964 studierte er in Paris bei dem Philosophen und Literatursoziologen Lucien Goldmann (1913‒1970), Doktorvater seiner Dissertation über die Theorie der Revolution beim jungen Marx. Er ist Sozialwissenschaftler, Ökosozialist, Mitglied zugleich von „Ensemble!“, der NPA und der brasilianischen Partido Socialismo e Libertade (PSOL). Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt ein Band mit gesammelten Essays: Rosa Luxemburg ‒ Der zündende Funke der Revolution (Hamburg: VSA, 2020), Erlösung und Utopie: Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, 3. dt. Ausg., (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2021); ad Walter Benjamin: Die Revolution als Notbremse (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2022). Zusammen mit Olivier Besancenot verfasste er ein Buch über die Pariser Kommune (Marx à Paris, 1871. Le Cahier bleu de Jenny, Pantin: Manifeste, 2021), das demnächst bei der Buchmacherei auf Deutsch erscheinen wird.


[i] Kohei Saito, Karl Marx’s Ecosocialism. Capitalism, Nature, and the Unfinished Critique of Political Economy, New York: Monthly Review Press, 2017. ‒ 308 S.

[ii] Kohei Saito, Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt a. M. u. New York: Campus Verlag, 2016. ‒ 328 S., ISBN 978-3-593-50547-3, € 39,95.

[iii] Karl Marx, „[Erster Entwurf]“, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 19, Berlin: Dietz Verlag, 1962, S. 390; ähnlich noch einmal in der gleichen Schrift, S. 392.
David Borissowitsch Rjasanow (1870‒1938) entdeckte bereits 1911 Entwürfe für eine Antwort auf einen Brief der russischen Revolutionärin Vera Iwanowna Sassulitsch an Karl Marx, die er auf Französisch handschriftlich verfasst hatte. Der abgeschickte Brief vom 8. März 1881 wurde 1924 im französischsprachigen Original in einem Band mit Materialien aus dem Archiv von P. B. Axelrod und auf Deutsch in einem Aufsatz von Boris Iwanowitsch Nikolajewski (1887‒1966) in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlicht. Vera Sassulitschs Brief vom 16. Februar 1881 und der erste und vierte Entwurf sowie der versandte Brief wurden ebenfalls 1924 von D. B. Rjasanow im ersten Band des russischen Marks-Engels Archiw und 1926 im ersten Band des deutschen Marx-Engels Archiv ‒ Zeitschrift des Marx-Engels-Instituts in Moskau auf Französisch veröffentlicht.
Diese und weitere Dokumente sind auf Englisch enthalten in dem von Teodor Shanin herausgegebenen Sammelband Late Marx and the Russian Road. Marx and ,the Peripheries of Capitalismʻ, London, Melbourne, Henley: Routledge & Kegan Paul, 1983, (History Workshop Series).
Auf Deutsch ist der abgeschickte Brief abgedruckt in: MEW, Bd. 19, S. 242/243; drei Entwürfe: S. 384‒406.
Die Schriftstücke sind in der zweiten Ausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erstmals unverändert abgedruckt.
Der erste Entwurf: „Premier projet de lettre à Vera Ivanovna Zassoulitch“, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Artikel, Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Text, Berlin: Dietz Verlag, 1985, (Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 25), S. 219‒230, Zitat S. 225 (und ähnlich S. 228).

[iv] Karl Marx u. Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, in: MEW, Bd. 4, 1959, S. 407.

[v] Siehe hierzu Fred E. Schrader, Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum „Kapital“ von Karl Marx in seinen Studienheften 1850–1858, Hildesheim: Gerstenberg, 1980; Lucia Pradella, Globalisation and the Critique of Political Economy. New Insights from Marx’s Writings, Abingdon u. New York: Routledge, 2015, (Routledge Frontiers of Political Economy, Bd. 192).
Siehe auch Kohei Saito, „Reconstructing Marx’s Critique of Political Economy from His London Notebooks“, in: Monthly Review, Bd. 67, Nr. 7, Dezember 2017, https://monthlyreview.org/2015/12/01/reconstructing-marxs-critique-of-political-economy-from-his-london-notebooks.

[vi] „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: MEW, Bd. 42, 1983, S. 323.

[vii] In der deutschen Ausgabe von 2016 heißt es: „Es ist aber umso wissenswerter nachzuvollziehen, woher Marxʼ Interesse für die Unnachhaltigkeit der kapitalistischen Produktionsweise entsprang, und wie er sich der Notwendigkeit der nachhaltigen Produktion bewusst wurde.“ (S. 160)
In der englischsprachigen Ausgabe von 2017 lautet dieser Satz: „Thus it is worth inquiring how Marx came to recognize the environmental unsustainability of the capitalist mode of production as the contradiction of capitalism, and to urge realizing sustainable production in the future society.“ (S. 142)

[viii] Noch deutlicher heißt es in der englischsprachigen Ausgabe: „I argue that Marx would have more strongly emphasized the problem of ecological crisis as the central contradiction of the capitalist mode of production had he been able to complete volumes 2 and 3 of Capital.“ (S. 17, Hervorhebung hinzugefügt)

[ix] Vgl. Ian Angus, Facing the Anthropocene. Fossil Capitalism and the Crisis of the Earth System, mit einem Vorwort von John Bellamy Foster, New York: Monthly Review Press, 2016.
Dt. Ausg.: Im Angesicht des Anthropozäns. Klima und Gesellschaft in der Krise, mit einem Vorwort von Christian Zeller, Münster: Unrast-Verlag, 2020.

[x] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin: Dietz Verlag, 1962, (MEW, Bd. 23), S. 528.

[xi] Paul Burkett, Marx and Nature. A Red and Green Perspective, 2. Ausg., mit einem Vorwort von John Bellamy Foster, Chicago: Haymarket Books, 2014, S. 196 (1. Ausg.: New York: St. Martin’s Press, 1999).

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