Zur klassenpolitischen Lage in Zeiten der Pandemie

Ist der Börsencrash durch Auswirkungen des Coronavirus verursacht? Foto: https://www.scientificanimations.com, 3D medical animation still shot showing the structure of a coronavirus, CC BY-SA 4.0

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Eine kurze Bestandsaufnahme zur Jahresmitte 2020

Zur klassenpolitischen Lage in Zeiten der Pandemie

Von Jakob Schäfer | 15.07.2020

Mindestens zwei Monate lang waren die diversen gesellschaftlichen Bewegungen weitgehend zur Untätigkeit verurteilt. Einige befanden sich sogar in einer richtiggehenden Schockstarre. Am verheerendsten wirkte und wirkt sich allerdings aus, dass die Gewerkschaften über Monate gewerkschaftspolitisch wie allgemeinpolitisch abgetaucht waren und die strategisch wichtigste Stütze der Burgfriedenspolitik stellten. Da, wo sie agierten, haben sie sich in den ersten Monaten der Pandemie durch extreme Anpassung an die Wünsche von Kabinett und Kapital ausgezeichnet. Den „Vogel“ schoss dabei der IGM-Vorsitzende Jörg Hofmann ab, der sich für die Abfckprämie stark machte.[1] Wie wenig der IGM-Vorstand auch Wochen danach die Notwendigkeit eines Umsteuerns in der Verkehrspolitik verstanden hat, zeigt sich an seiner Antwort auf den Offenen Brief der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, VKG (siehe Anhang).

Inzwischen wurden allerdings wichtige Erfahrungen im politischen Umgang mit einer pandemischen Krise gemacht. Es zeichnet sich allmählich ab, dass die Lähmung (teilweise politische Schockstarre) langsam überwunden wird und die sozialen Bewegungen wieder Fahrt aufnehmen. Dies ist bitter notwendig, denn die Krise wird noch länger anhalten, erst recht, wenn es zu einer zweiten Welle kommt. Da reicht es nicht, dass aufgrund der erzwungenen sozialen und politischen Lähmung vermehrt Videokonferenzen durchgeführt wurden. Sollen die zu erwartenden Angriffe auf den Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung abgewehrt werden, muss es zu wirksamen Protest- und Widerstandsaktivitäten kommen, die nicht nur in die Breite gehen, sondern auch neue Formen annehmen.

Multiple Systemkrise

In zunehmendem Maß wird der sozialen Bewegung bewusst, dass wir es mit einer Systemkrise auf verschiedenen Ebenen zu tun haben. Sie ist in erster Linie eine ökologische Krise, deren schärfster Ausdruck der Klimawandel ist. Über annähernd 20 Jahre wurden so viele Fakten bekannt, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung dies als eine Menschheitskrise begreift, die so schnell nicht gelöst werden kann. Die ökologische Krise ist aber mehr als Klimawandel, nämlich verseuchte Böden, mit Plastik vermüllte Meere, Feinstaub, lebensunwerte Städte usw. Vor allem die in den letzten Jahren immer offenkundiger werdende Untätigkeit „der Politik“ (genauer: der Herrschenden, denn in unserer Analyse ist es ja eine Klassenfrage) ist zu einem bedeutenden Glaubwürdigkeitsproblem für die Regierenden und die sie tragenden (Volks)parteien geworden. Davon profitierten die Grünen (als scheinbare Alternative) und auch nur so ist die FfF-Bewegung zu erklären, die Millionen auf die Straße brachte.

Mit der Pandemie wurde dann so deutlich wie nie zuvor, dass das Gesundheitswesen voll auf Profitwirtschaft ausgerichtet ist. Die offen zutage getretene Gesundheitskrise zeigt sich an den schlechten Stellenbesetzungen in der Pflege, den fehlenden Schutzausrüstungen usw. So stehen jetzt die Krankenhauskonzerne und vor allem die Fallpauschalen (DRG) in der Kritik. Die Motivation, für akzeptable Personalschlüssel und deutlich höhere Entgelte zu kämpfen hat mit der Pandemie zusätzliche Nahrung bekommen.

Ohne Druck geht gar nichts

Gleichzeitig müssen wir aber auch festhalten, dass das größere Verständnis der Bevölkerung für die Belastung des Pflegepersonals nicht den Druck erzeugt hat, der nötig ist, um die Herrschenden zu nennenswerten Zugeständnissen zu zwingen. So wurden Krankenhausärzt*innen und Pflegekräfte als die Corona-Helden gefeiert, aber weder haben sie eine Gehaltserhöhung bekommen, noch ist die Arbeitsbelastung gesunken. Im Gegenteil: Als es darum ging, den Zusammenbruch der stationären Pflege zu verhindern, hat man in der „heißen Phase“ der Pandemie Ausnahmeregeln für die maximalen Arbeitszeiten verordnet. Doch jetzt, da die Corona-Fälle massiv gesunken sind, werden diese Ausnahmeregeln ständig verlängert. Davon profitieren die Krankenhauskonzerne und ausbaden müssen das die Beschäftigten und die Patient*innen (mehr dazu unter: https://www.nachdenkseiten.de/?p=62701: „Ausnahmeregelungen für Krankenhauskonzerne, einen Tritt in den Hintern für das Pflegepersonal“ von Jens Berger).

Das beste Mittel wird sein, dass sich die Kolleg*innen von unter her eigenständig organisieren und vernetzen.

Dies zeigt: Mit Stimmungen allein wird keine Änderung der Politik herbeigeführt. Dazu braucht es schon ordentlich politischen und vor allem ökonomischen Druck, also Streiks, Demos, Blockaden …

Immerhin: Sollte es in nächster Zeit (nach einem Abflauen der Pandemie) zu einer Wiederaufnahme solcher Kämpfe kommen wie seinerzeit bei der Charité oder beispielsweise dem Uniklinikum Essen, dann ist mit einer breiten (mindestens passiven) Unterstützung in der Bevölkerung zu rechnen. Denn jeder und jede ist potentielle(r) Patient(in). Dann wird es darauf ankommen, dass ver.di nicht wieder den Kampf frühzeitig beendet. Das beste Mittel, das zu verhindern, wird sein, dass sich die Kolleg*innen von unter her eigenständig organisieren und vernetzen.

Wirtschaftskrise

Im Zuge der Corona-Krise sind weitere Schattenseiten der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stärker ins Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise gerückt, so z. B. verschiedene Fragen der Ernährung oder auch die Massentierhaltung (darüber vermittelt auch der Fleischkonsum).

Neben den rein gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie ist die offen zum Ausbruch gekommene Wirtschaftskrise die dramatischste Auswirkung. Genau genommen begann die Krise schon Mitte 2019, war aber bis Anfang des Jahres noch in ihrer Anfangsphase und deswegen noch nicht so groß wahrzunehmen. Die Pandemie hat ihr einen so gewaltigen Schub gegeben, dass wir inzwischen die schwerste Wirtschaftskrise seit 1929-32 verzeichnen. Nicht nur ist sie sehr tief (für 2020 muss mit einem Wirtschaftsrückgang in der BRD um 6 – 10 Prozent gerechnet werden, was weitreichende Folgen vor allem für die Arbeitsplätze haben wird), sondern diese Krise wird aller Voraussicht nach nicht in wenigen Monaten überwunden sein. Noch dramatischer kann es mit einer zweiten Welle der Pandemie werden.

Die Folgen dieser Wirtschaftskrise sind vielfältig

a. Schon in den Jahren zuvor war die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. In den Jahren 2000 – 17 ist das oberste Dezil (die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung) um 22% reicher geworden, das unterste Dezil um 4 Prozent ärmer. Legt man inflationsbereinigt die Realeinkommen zugrunde, dann ist das ärmere Drittel der Bevölkerung heute (2019) ärmer als in den 1990er Jahren.

Und genau diese Entwicklung wird sich im Verlauf dieses und mehr noch des nächsten Jahres drastisch zuspitzen. Schon vor der Corona-Krise arbeiteten 22,5% der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor. Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass 1,8 Mio. Erwerbstätige noch nicht mal den Mindestlohn bekommen, der eh schon für ein menschenwürdiges Leben nicht reicht. Seit Jahren bewegt sich die Armutsquote um die 16,5%. Jetzt – in Zeiten der Pandemie – wird dieser Teil der Bevölkerung drastisch zunehmen.

Vor diesem Hintergrund erdreistet sich die Mindestlohnkommission, den Mindestlohn ab Januar gerade mal um 15 Cent auf 9,50 € zu erhöhen. Engelen Kefer hatte zuvor im Namen des Sozialverbands Deutschland (SoVD) einen Mindestlohn von 13.- € gefordert. Die Zustimmung in der Kommission zur Anhebung auf nur 9,50 € erfolgte einstimmig, also mit den Stimmen der Gewerkschaften, ein absoluter politischer Bankrott des DGB und der Führungen seiner Mitgliedsgewerkschaften.

b. Die Kluft zwischen den dominanten Staaten der EU (das sind Deutschland und die mit ihm verbündeten „geizigen Vier“) und den Südländern wird größer werden. Das wird schon allein dadurch vorangetrieben, dass in Deutschland die Staatsverschuldung (bezogen auf das BIP) zwar um ca. 15 % auf 75 % zunehmen wird, in den Südländern (einschl. Frankreich) aber deutlich mehr: Frankreich von 98 auf 118, Italien von 135 auf 158, Spanien von 96 auf 118, Portugal von 118 auf 136 und Griechenland von 177 auf 197 Prozent. Kommt es nicht zu einer baldigen Erholung, werden die Verschuldungen noch dramatischer steigen. Die Regierungen in den reichen Staaten haben zu viel Angst vor mehr Hilfszahlungen an die ärmeren Länder, weil dies den Rechtspopulisten und Rechtsradikalen Auftrieb gibt. Deswegen wird es auch weiterhin keine Umstellung dieser Hilfen auf Corona-Bonds geben. Es bleibt mit Sicherheit bei einmaligen Hilfen und die werden es nicht richten können. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich die Krise der EU verschärfen wird. Ein Auseinanderfliegen der EU ist bei einer Zuspitzung der Krise in Italien nicht mehr ausgeschlossen.

Wer soll das alles bezahlen?

Noch kann niemand verlässlich abschätzen, was die Bewältigung der Wirtschaftskrise kosten wird, aber eins ist sicher ‒ und die meisten ahnen es: Ganz anders als 2009, als die Wirtschaftsleistung in Deutschland um über 5 Prozent absackte, wird dieses Mal aufgrund der noch viel größeren staatlichen Stützungsmaßnahmen die breite Bevölkerung mächtig zur Kasse gebeten werden und das in mehrerer Hinsicht: Wir müssen mit einer richtigen Pleitewelle rechnen, die die Erwerbslosenzahlen in die Höhe treiben wird; mit Sicherheit wird der Umfang diverser staatlicher Transferleistungen infrage gestellt werden und das Kapital wird bei Tarifrunden Absenkungen von Entgelten und sonstigen Tarifleistungen fordern.

Heute schon wundern sich viele, wie einfach für die Lufthansa 9 Milliarden locker gemacht werden, während z. B. die Pfleger*innen außer warmen Worten nichts von den vielen staatlichen Hilfen abbekommen, sieht man von einer kleinen eher symbolisch zu nennenden Einmalzahlung für Pfleger*innen in den Altenheimen ab.

Das Kapital nutzt die Gunst der Stunde

Die Unternehmerverbände nutzen die Gunst der Stunde und haben schon dargelegt, was alles zur Rettung der Wirtschaft getan werden muss. Den ersten größeren Vorstoß unternahm am 8. Mai Südwestmetall, indem es die Änderungen bestehender Tarifverträge forderte, etwa die Streichung der 400 € im Zusammenhang mit T Zug, was erst in der letzten Tarifrunde durchgesetzt worden war. So sollen: „Sozialpartner … tarifvertragliche Vereinbarungen treffen, die die Unternehmen bei den Kosten entlasten, z.B. bei der tariflichen Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, bei den zusätzlichen Kosten für erweiterten Arbeits- und Gesundheitsschutz, durch maximale Ausnutzung tariflicher Differenzierungsmöglichkeiten (z.B. Streichung T-ZUG-Zusatzbetrag).“[2] Und damit nicht genug: „Keine weiteren kostspieligen, nicht mehr zu finanzierenden sozialen Wohltaten (auch die Grundrente muss nochmals auf den Prüfstand), Verzicht auf weitere Regulierungen und bürokratische Belastungen der Betriebe wie z.B. Einschränkung sachgrundloser Befristungen, einseitiger Arbeitnehmeranspruch auf Homeoffice, überzogene Regelungen bei der Arbeitszeiterfassung“.

Dem setzte dann kurze Zeit später Gesamtmetall noch die Krone auf, indem es die Abschaffung der abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren fordert (die es sowieso nur mit 45 Versicherungsjahren und zudem heute erst mit 63 Jahren und 8 Monaten gibt). Die Haltelinie für das Rentenniveau bei 48 Prozent soll fallen, die Grundrente soll verschoben werden, die Mütterrente I und II sollen fallen usw. Der Kündigungsschutz soll „überarbeitet werden, um die dringend notwendige Rechtssicherheit bei Verfahren der Massenentlassung wiederherzustellen“.[3]

Im Öffentlichen Dienst laufen verschiedene Vorstöße zur Aushebelung von Stellenbesetzungsplänen sowie von Arbeitszeitbestimmungen und Pausenregelungen. Auch die Bundesregierung bleibt hier nicht untätig. Am 06. April 2020 ging ein Referentenentwurf für eine Bundesverordnung an die Presse, mit der das bisherige Arbeitszeitgesetz ausgehebelt werden soll.[4]

Umgang mit der Krise

Bislang hat es die deutsche Regierung ganz gut geschafft, mit der Krise umzugehen. Ihr Krisenmanagement hat sogar breite Teile der Bevölkerung ‒ zumindest bis jetzt ‒ einigermaßen überzeugt, wovon vor allem die CDU/CSU profitiert (die Grünen und die AfD sind dabei die Hauptverlierer).

Sie haben ihren Doppelcharakter noch bewahrt und bleiben für den weiteren Gang der Dinge eine zentrale Schalt- und Mobilisierungsinstanz.

Katastrophal schlecht haben die Gewerkschaften auf diese große Herausforderung reagiert. Die IG Metall setzte sich an die Spitze der Kapitulant*innen, als sie ihre im Frühjahr angestandene Tarifrunde (Metall- und Elektroindustrie) einfach verschob oder etwa die Anwendung des neuen Tarifabschlusses für den Bereich Textile Dienst auf das Jahresende verschob!

Nach dieser ersten Phase des völligen Einknickens (und der Propagierung der Abfckprämie) kommen nun langsam andere Seiten zum Vorschein, was zeigt, dass selbst die extrem in das System integrierten Gewerkschaften der BRD noch auf Drücke von unten reagieren und nicht etwa gelbe Gewerkschaften geworden sind. Sie haben ihren Doppelcharakter noch bewahrt und bleiben für den weiteren Gang der Dinge eine zentrale Schalt- und Mobilisierungsinstanz. Das zeigt sich auf zwei Ebenen:

A. Die Ebene der Tarifpolitik

Die sogenannten Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst meinen, sie könnten jetzt schon eins draufsetzen. So wollte ver.di mit einem Kurzfristtarifvertrag im Herbst eine Einmalzahlung durchsetzen und die eigentliche Tarifrunde erst im nächsten Frühjahr angehen. Doch plötzlich spielt für Bund und Kommunen noch nicht mal mehr die Aufwertung systemrelevanter Berufe eine Rolle. Plötzlich soll die reguläre Tarifrunde im Herbst durchgeführt werden, um natürlich die pandemiebedingte Handlungs- und Mobilisierungsschwäche (Abstandsgebote bei Versammlungen usw.) für ein Tarifdiktat zu nutzen.

Somit könnte es im Herbst zu einem richtigen Kampf kommen.

Immerhin besinnt sich Ver.di im Moment auf mögliche Bündnispartner*innen, was sich vor allem bei der auf den Herbst verschobenen Tarifrunde Nahverkehr auswirken könnte, wo sich die Klimabewegung als „natürlicher Verbündeter“ anbietet. Somit könnte es im Herbst zu einem richtigen Kampf kommen. Dazu könnte ein bundesweites Verkehrswendebündnis helfen. Ob es dazu auf einer breitenwirksamen Ebene kommen wird, hängt in erster Linie von ver.di ab.

Wir sollten alles unternehmen, damit aus der Tarifrunde Nahverkehr eine Tarifrunde Verkehrswende wird. Dazu braucht es ein geschlossenes Konzept, das von ver.di und der Umweltbewegung gemeinsam vertreten werden muss:

  • für zumutbare Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung der Beschäftigten im ÖPNV;
  • für den massiven Ausbau des ÖPNV;
  • für den Nulltarif im ÖPNV und eine Verdrängung der Autos aus den Innenstädten.

Mit diesen Kernforderungen ließe sich mit Sicherheit ein breites und vor allem wirksames Bündnis schließen.

Beim Beginn der Tarifverhandlungen im Frühjahr, die nach den dritten Gesprächen wegen der Corona-Krise abgebrochen wurden, hatte ver.di eine Einkommensverbesserung von 6 Prozent und einem Mindestberg von 200 Euro gefordert. Das ist zu wenig und muss ‒ nicht nur in der Tarifrunde Verkehr – auf eine Forderung nach einem Mindestbetrag von 300 Euro angehoben werden. Dann werden die Kolleg*innen auch eine ganz andere Motivation haben als wir es bei den üblichen Tarifritualen erleben. Und: Die Kolleg*innen müssen zum Tarifabschluss das letzte Wort haben.

B. Die Ebene der gesellschaftlichen Mobilisierung:

Im Frühjahr war die IGM noch völlig vorbehaltlos auf praktisch alle Vorschläge von Gesamtmetall eingegangen, vor allem auf den Wunsch, die Tarifrunde Metall- und Elektroindustrie auf Ende des Jahres zu verschieben (die Friedenspflicht in der Metall- und Elektroindustrie wäre am 28. April geendet).

Nun bewegt sich in der IGM etwas, nichts Grundlegendes, aber doch wenigstens so viel, dass sich Ansatzpunkte für eine gesellschaftliche Bewegung finden lassen. Im Hauptamtlichen-Apparat machen sich die linkeren Vertreter für eine „verteilungspolitische Kampagne“ stark. Inwieweit der Vorstand das übernehmen wird, ist nicht abzusehen. Das entscheidet sich in den nächsten zwei Monaten. In der Kampagne soll es um diverse Aktivitäten in und außerhalb des Betriebs gehen, darunter auch Unterschriftensammlungen. Wofür? Steuerreform, Bürger- und Erwerbstätigenversicherung und konkrete verteilungswirksame Forderungen „die tagespolitisch umsetzbar sind“. „Zu den kurzfristigen Forderungen sollen die deutliche Anhebung von Regelsätzen, Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld und deren verlängerte Bezugsdauer ebenso zählen, wie eine Vermögensabgabe sowie der Verzicht auf die Anhebung des Rüstungsetats. Kurzfristig erforderlich ist zudem die Zurückdrängung des Profitprinzips im Gesundheitssystem.“

Dazu wird der IGM-Vorstand „gebeten“, eine Kampagne zu entwickeln, die der Umverteilung von unten nach oben entgegenwirkt, den sozialökologischen Umbau der Industrie befördert, […] andere Gewerkschaften einbezieht, weitere Organisationen, Institutionen und Initiativen einbezieht…“

Auch bei ver.di gehen in einigen Bezirken inzwischen die Überlegungen in Richtung gesellschaftliche Mobilisierung. So sind z. B. für den September in verschiedenen Städten Kundgebungen geplant.

Parallel zu diesen Überlegungen diskutiert der Parteivorstand der LINKEN, eine Mobilisierung für eine bundesweite Großdemo im Herbst/Winter anzustoßen.

Für eine klare Bündnispolitik

Auf absehbare Zeit ist nicht damit zu rechnen, dass es irgendeiner Kraft gelingen wird, die verschiedenen Bewegungen zusammenzuführen, sodass alle strategisch an einem Strang ziehen. Aber es ist durchaus möglich, ein wirksames Bündnis zu schaffen, das über den begrenzten Rahmen einer örtlichen Initiative hinausgeht und wenigstens den aktuellen Angriffen von Kabinett und Kapital wirksamen Widerstand entgegensetzt. Nach Lage der Dinge bleiben die Gewerkschaften der entscheidende Faktor für den Aufbau eines solchen Bündnisses. Das betrifft zwar in erster Linie die Tarifpolitik, aber nicht nur. Sollten die Gewerkschaften durch den Druck von unten und seitens der sozialen und der Umweltbewegung zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung bewegt werden, dann können auch die Kräfteverhältnisse ein Stück weit verschoben werden.

Allerdings sollte das Bemühen, Druck auf die Gewerkschaften (bzw. ihre Vorstände) auszuüben, nicht unsere einzige Handlungsperspektive sein. Die Breite allein wird es nämlich auch nicht machen. So kann beispielsweise das Unteilbar-Bündnis keine große Anziehungskraft auf dynamische Gruppen ausüben, weil es politisch viel zu begrenzte Ziele verfolgt. Es muss also etwas Neues entstehen, das analog zur Arbeitsweise der Kohleausstiegs-Bewegung oder zur Anti-Atom-Bewegung verfährt: Es gibt a.) ein Ziel, auf das sich alle verständigen können, und b.) einen Aktionskonsens, der es allen ermöglicht (also auch den Gewerkschaften), im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten mitzuwirken, ohne dass alle in politische Mithaftung genommen werden, wenn ein Teil der Bewegung Aktionsformen wählt, zu der andere nicht bereit sind.

Deswegen darf die Zielsetzung nicht auf die Parlamente ausgerichtet sein. Weder dürfen entschiedene Antikapitalist*innen ferngehalten werden, noch umgekehrt jene, die meinen, in diesem System noch Wesentliches erreichen zu können. Die Ziele müssen gemeinsam getragen werden können. In gewisser Weise kann das Stuttgarter Krisenbündnis wegen der Mobilisierungserfolge und vor allem wegen seiner Breite als positives Beispiel genannt werden (siehe dazu auch den Aufruf für die Kundgebung am 18. Juli: www.krisenbuendnis-stuttgart.org). Dies sollte Schule machen. Es wäre gut, wenn es in einer zweiten Phase (im Herbst/Winter) zu einer überregionalen Vernetzung auf ähnlicher Grundlage käme.

Im Moment ist die Vielfalt der Bewegungen durchaus auch ein Gewinn. Aktuelles Beispiel: In den letzten Wochen haben sich in sehr vielen Städten vor allem junge Menschen gegen den auch in Deutschland virulenten Rassismus mobilisiert. Black Lives Matter ist die Hauptlosung, natürlich angeregt von den Protesten in den USA, aber längst nicht nur als Solidaritätsbewegung aktiv. Im Vordergrund steht der alltägliche Rassismus in unserem Land, der vor allem die people of color trifft. Hier gehen Menschen auf die Straße, die zu einem erheblichen Teil bei anderen Mobilisierungen nicht auf der Straße waren.

Die Vielfalt alleine wird es aber auf Dauer auch nicht richten, denn im Moment können die Herrschenden mit der zersplitterten Protestbewegung noch vergleichsweise gelassen umgehen. Es muss eine Dynamik entstehen, die den Herrschenden das Fürchten lehren kann. Nur wenn sich daraus die Perspektive entwickelt, dass im Laufe einer dynamisch wachsenden und sich politisierenden Bewegung das Land mit Streiks und Blockaden (möglichst auch Betriebsbesetzungen) lahmgelegt werden kann, können Kräfteverhältnisse verschoben werden.

12. Juli 2020

Anhang

Die VKG hatte einen Offenen Brief an die Gewerkschaften, die Partei Die LINKE und die sozialen Bewegungen geschickt, um sie zum Aufbau einer breiten Widerstandsbewegung im Herbst aufzufordern. (Den Wortlaut des Briefs findet ihr hier:

https://www.vernetzung.org/fuer-eine-gemeinsame-mobilisierung-im-herbst-wir-zahlen-nicht-fuer-eure-krisen/)

Darauf reagierte die IGM-Vorstandsverwaltung folgendermaßen:

Liebe Kollegin Hourani,

 vielen Dank für den Aufruf. Wir befinden uns in den Planungen für beteiligungsorientierte Aktivitäten im Herbst. Mit politischen Parteien werden wir eher nicht auf die Straße gehen, weil wir keine Richtungsgewerkschaft sind. In der IG Metall organisieren sich Kolleginnen und Kollegen mit sehr unterschiedlichen Weltanschauungen und Parteizugehörigkeiten. Das ist auch gut so und genau das macht unsere Stärke aus. Gewerkschaftsübergreifende Aktivitäten werden i.d.R. durch den DGB koordiniert.

Unsere Haltung zum Konjunkturpaket im weiteren Sinne, als auch bspw. zur Automobilindustrie ist wesentlich differenzierter, als es der von Dir beigefügte Aufruf vermuten lässt. Vor allem sind die Erfordernisse angesichts des tiefsten Wirtschaftseinbruchs in der Nachkriegsgeschichte wesentlich größer.

Insoweit füge ich ein paar Links zur Information bei:

https://www.igmetall.de/service/publikationen-und-studien/metallzeitung/metallzeitung-ausgabe-dezember-2019/neue-autos-braucht-das-land

https://www.igmetall.de/service/publikationen-und-studien/metallzeitung/metallzeitung-ausgabe-april-2020/der-energietraeger-der-zukunft

https://www.igmetall.de/politik-und-gesellschaft/umwelt-und-energie/klimaschutz-das-sind-die-positionen-der-ig-metall

https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/ig-metall-legt-vorschlaege-fuer-ein-konjunkturpaket-vor

https://www.igmetall.de/vorschlaege-konjunkturpaket

 Die Wurzel jeglichen gewerkschaftlichen Engagements liegt im Betrieb und auf dem Gebiet der jeweiligen Geschäftsstelle der IG Metall. Bitte bringt Euch dort mit Euren Ideen und Vorschlägen ein. Vor allem kann vor Ort und auf Basis von Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben besser entscheiden werden, in welcher Art und Weise und für welche Themen wir im Rahmen der Krise sichtbar werden.  

Ich hoffe, dass Dir dies weiterhilft und verbleibe mit freundlichen Grüßen

Jens-Jean Berger

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[1] Siehe dazu das Protestschreiben des Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin, an den IGM-Vorstand:https://www.vernetzung.org/offener-brief-an-den-vorstand-der-ig-metall-zur-aktuellen-situation-in-der-automobilindustrie/

[2] Gemeint sind damit die Zuschläge zum Kurzarbeitsgeld in Baden-Württemberg oder auch die Schichtzuschläge. Und sie wollen eine „Kompensation“ für die zusätzlichen Maßnahmen für den Hygieneschutz

[3] Beim Gesundheitsschutz will Gesamtmetall „möglichst große Spielräume bei der Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen“, um die „unternehmerische Freiheit nicht (oder minimal) durch Vorgaben im Arbeitsschutz einzuschränken“.

[4] Siehe die hiergegen gerichtete Petition https://www.change.org/p/bundesregierung-nein-zum-12-stunden-tag-und-zur-60-stunden-woche

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