Die doppelte Krise – eine Konversionsstrategie

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Betrachtungen eines Produktionsarbeiters

Die doppelte Krise – eine Konversionsstrategie

Von Lars Henriksson | 06.05.2020

„Nur eine Krise – eine bereits eingetretene oder bevorstehende – bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich“, so behauptete einst Milton Friedman, Hauptbannerträger des Neoliberalismus. Die laufende Krise macht davon keine Ausnahme. Die arbeitenden Menschen müssen mit eine Breitseite von Angriffen rechnen – es geht um Einkommen und Arbeitsbedingungen, Gleichheit und Demokratie sowie um Umwelt und Klima. Die doppelte Krise aus Pandemie und wirtschaftlichem Niedergang macht es aber auch möglich, dass die Zustimmung für Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe steigt. Die Marktkräfte, die als sakrosankt und unverletzlich galten, haben versagt.

Das neoliberale Dogma des freien Marktes scheitert

Heute konzentriert sich verständlicherweise alle Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Gefahr durch Covid19, aber die Krise zwingt uns dazu, das Dogma infrage zu stellen, dass der Markt angeblich über allem steht. Sogar Personen, die bisher fest an den Neoliberalismus geglaubt haben, sehen sich ge­zwungen, die Sinnhaftigkeit von Deregulierung mit allem, was sie nach sich gezogen hat, infrage zu stellen. In Schweden muss ein verblüffter Repräsentant des rechts-bürgerlichen Lagers einsehen, dass es offensichtlich falsch war, dass er mit seiner Partei für die Privatisierung des Arzneimittelsektors ge­stimmt hat, mit der Folge, dass die Medikamentenreserven des Landes aufgelöst wurden. In Britannien muss ein verwirrter Premierminister erkennen, dass viel zu wenige Beatmungsgeräte da sind. Er wen­det sich an die Autoindustrie und bittet um Hilfe. Und in den USA tönt der verrückte Twitterer, dass er General Motors angewiesen hat, Beatmungsgeräte herzustellen, während GM bereits alle Vorbereitun­gen getroffen hatte, die Produktion aufzunehmen. Bis August will GM 30.000 Geräte fertig haben. Ein weiterer GM-Betrieb stellt bereits einfache Stufe-1-Gesichtsmasken her und plant auf monatlich 1,5 Millionen zu kommen. Auch Ford hat bereits eine Million Visiere hergestellt.

In Schweden wurde die Produktion umgestellt

Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg erleben wir, dass schwedische Industriebetriebe ihre Produktion umstellen, um gesellschaftlichem Bedarf nachzukommen, wenngleich in nur geringem Ausmaß und unter alles anderem als revolutionären Umständen: Chemiebetriebe produzieren Desinfektionsmittel für die Hände, Textilhersteller schalten um auf Körperschutzartikel, die LKW-Produktion leiht Beschäftigte für Logistikaufgaben aus, die für die Herstellung von Beatmungsgeräten anfallen, Service-Personal der Zivilluftfahrt wird für den Einsatz im Gesundheitswesen umgeschult usw. All das bleibt aber weit hinter dem zurück, was tatsächlich dringend gebraucht wird. Entgegen aller Rhetorik, dass wir uns im Krieg befänden, sticht der Unterschied zwischen dem derzeitigen und dem seinerzeitigen Regierungshandeln hinsichtlich der Produktion ins Auge. Damals übernahm die Regierung das Kommando über die Industrie und stellte sich auf Kriegsbedarf um. Die Abschottung zwischen den Unternehmen wurde beseitigt; wer sich verweigerte, wurde von der Rohstoffzuteilung ausgeschlossen.

Unternehmen, die in harter Konkurrenz zueinander standen und ihre Firmengeheimnisse mit Argusau­gen bewacht haben, wurden gezwungen, Forschungsergebnisse und technisches Know-how zu teilen. Dies führte zur Einsparung von vielen Millionen Stunden Ingenieursarbeit und war ein Schlag gegen die gängige Ansicht, dass Konkurrenz die Voraussetzung für effiziente Produktion ist. Die Maßnahmen betrafen vor allem die US-Autoindustrie, die gesamte Branche des Landes wurde auf Rüstungspro­duktion umgestellt.

Im Königreich übernimmt das Kriegsministerium

Das gleiche gilt für die britische Wirtschaft, die innerhalb von zwei Jahren von unregulierten Markt­verhältnissen auf strikt durchgeplante Produktion umgestellt wurde. Ohne vorherige Nationalisierung der Unternehmen übernahm das britische Kriegsministerium de facto die Kontrolle darüber, was, von wem und wann herzustellen war. Auch hier stand die Autoindustrie im Mittelpunkt.

Was fehlt, sind die politischen Kräfte, die den Mut aufbringen, das Notwendige zu machen und sich den Interessen des Kapitals entgegenzustellen.

Heutzutage brauchen wir die gleiche Art von zentral organisierter Produktionsumstellung, und zwar so schnell wie möglich, um das Klimadesaster aufzuhalten. Während der globalen Finanzkrise vor einem Jahrzehnt hat sich doch gezeigt, dass international abgestimmte Maßnahmen möglich sind. Im April 2009, nur wenige Monate, nachdem die Krise ausgebrochen war, beschlossen die G20-Länder ein Notstandspaket von 1,1 Billionen Dollar, um die Banken zu retten. Diese Summe blieb schon hinter den 1,5 Billionen zurück, die die US-Regierung für Bürgschaften mobilisiert hatte. Es besteht kein Mangel an Mitteln, Wissen und Werkzeugen für derart drastische Maßnahmen. Was fehlt, sind die politischen Kräfte, die den Mut aufbringen, das Notwendige zu machen und sich den Interessen des Kapitals entgegenzustellen.

Der Weg zurück in die Normalität

Doch wenngleich etliche Beispiele zeigen, was möglich ist, so ist diese Entschiedenheit alles andere als ein Selbstläufer, wenn es um die Klimakrise geht und die Covid19-Pandemie abgeklungen ist. Im Gegenteil, es gibt starke Kräfte, die alles daransetzen, dass diese Konsequenzen gezogen werden. Wir müssen auch davon ausgehen, dass unsere Regierungen wieder zum „business as usual“ zurück wollen. Sie sind bereit, den Marktkräften dafür die Bahn frei zu machen, Produktion und Emissionen so schnell wie möglich wieder hochzufahren. Sie sind zu einem Schnellstart der Wirtschaft bereit, um dem rast­losen Profithunger des Kapitals nachzukommen, auch wenn dies bedeutet, das Thema Klimagerechtigkeit auf der politischen Tagesordnung wieder nach unten zu drücken. Ein solches Szenario wäre nicht neu. 2007 war das Thema Klima in aller Munde. Nachdem Wissenschaftler*innen jahrzehntelang und immer lauter nach Maßnahmen gerufen hatten und 15 Jahre nach sich Regierungen der Welt verspro­chen hatten, die globale Erwärmung zu stoppen, kam das Thema in die Schlagzeilen, als dem UN-Klimarat (IPCC) zusammen mit Al Gore der Friedens-Nobelpreis verliehen wurde. Al Gore tourte mit seinem Film Eine unbequeme Wahrheit (An Inconvenient Truth) um die Welt.

Dann platzte in den USA die Immobilienblase. Der Finanzmarkt taumelte in eine tödliche Krise und riss die Weltwirtschaft mit. Und plötzlich war das Thema Klima aus dem öffentlichen Diskurs ver­schwunden. Jetzt schien es nur noch darauf anzukommen, Industriekonzerne und Banken zu retten.

In den meisten Ländern wurde die Position „Der Natur ihren Lauf lassen“ ganz schnell durch eine Reihe von Stützprogrammen ersetzt. Insbesondere in den USA, nachdem das historische Flaggschiff der Autobranche, General Motors, in die sich sträubenden Arme von George W. Bush gefallen war. In Schweden dagegen hielt die damalige rechtskonservative Regierung an ihrem Dogma fest und ließ den PKW-Bereich von Saab kaputtgehen. Ironischerweise wurde der PKW-Bereich von Volvo in letzter Minute von chinesischem Staatskapital gerettet, das sich dazu zivil verkleidet hatte.

Als das wirtschaftliche Räderwerk schließlich wieder ansprang, schien es so, als hätte es eine Klima­diskussion nie gegeben. Die Globalisierung der Konzernaktivitäten strebte auf einen neuen Höhepunkt zu, befeuert von einem nie dagewesenen Einsatz fossiler Treibstoffe. Die wenigen von uns, die während der Automobilkrise von 2008/09 die Produktionsumstellung thematisiert hatten, stießen auf noch taubere Ohren.

Krisen als kleine Dellen in der globalen Erwärmung

So wie heute verursachte der Abschwung von 2008 eine kleine Delle in der Kurve der globalen Erwärmung. Vor der Krise fanden sich 380 parts per million (ppm) Kohlendioxid in der Atmosphäre, heute sind es 414 ppm, was einer Steigerung von 9 % entspricht. Damals wie heute war die Autoindu­strie einer der Haupttreiber. Im Jahr 2010 fuhren 750 Millionen Autos auf den Straßen, heute ist die Milliardenmarke überschritten. Indessen sollte niemand übersehen, dass die Autoindustrie sich um­strukturiert und mit ihrem angeblichen Zaubermittel dazu beiträgt, dem Klimawandel entgegenzutreten: der Elektromobilisierung (und Konzernmacht). Aber so einfach ist das nicht.

Zum einen muss die elektrische Energie erzeugt werden. In einem Land wie Schweden geschieht dies weitgehend mittels Wasser- und Atomkraft, aber das ist im Weltmaßstab nicht der Fall. Trotz aller Be­richte über die Steigerung der Erneuerbaren werden Zweidrittel der Elektrizität immer noch durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Erdöl erzeugt. Zum zweiten kommt jedes neue Auto mit einem schweren Kohlenstoff-Rucksack aus der Fabrik, d. h. es belastet mit den Emissionen, die die Her­stellung verursacht. Bei Elektroautos sind es sogar mit zweimal so viel CO2 wie bei einem herkömm­lichen Auto mit Verbrennungsmotor. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie aus Schweden verursacht die Herstellung von Batterien 150 bis 200 kg CO2 pro Kilowattstunde Batteriekapazität. Was bedeutet, dass ein Tesla S acht Jahre gefahren werden muss, damit die ganzen zusätzlichen CO2-Ausstoss kompensiert werden! Genau wie bei den früheren Verteidigungslinien der Autoindustrie – Leugnung, verbesserte Brennstoffeffizienz und Agrobrennstoffe – wird das Elektroauto auf den Markt geworfen, um die Profite der Industrie zu sichern und nicht, um die Klimakrise zu lösen.

Seit einiger Zeit war die Autoproduktion schon rückläufig; das Covid-19-Virus hat sie über die Klippe und in den freien Fall gedrückt. Wieder einmal stellt sich die Frage, was mit diesem maschinellen Herzstück der Massenproduktion gemacht werden sollte. Weder ein Absterben durch neoliberale „schöpferische Zerstörung“ noch die fortlaufende Subventionierung sind eine befriedigende Antwort für diese Industrie, die zu den wesentlichen Faktoren zählt, die den Planeten in die umfassende Klima­katastrophe treiben.

Der Klimawandel als eine Frage des Klassenkampfs, keine der Technik

In der Praxis haben die Regierungen der Welt sich bereits entschieden, die Autokonzerne aus dem Graben zu ziehen und wieder auf die Schnellstraßen zu bringen. Aber das wird ins globale Desaster führen. Die Umstellung der Autoindustrie ist jetzt in zweifacher Hinsicht vordringlich. Es geht darum, nicht nur eine nicht nachhaltig produzierende Industrie zu verändern, sondern auch die Arbeitsplätze von Millionen ihrer Beschäftigten zu retten.

Ein erfolgreicher Kampf gegen die Klimakrise erfordert mehr als soziale Distanz, ein gutes Gesund­heitswesen und wirksame Impfstoffe. Unabweisbar ist ein grundlegender Wechsel bei den Triebkräften der Produktion: Weg von der Jagd auf schnellen Profit und Umsetzung von Ideen für einen gesell­schaftlichen Nutzen bei Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Mit anderen Worten: dies erfordert eine umfassende Konfrontation mit den großen Kapitalmächten, die in wachsendem Maß die Weltwirtschaft kontrollieren. Wir dürfen den Klimawandel nicht als technische Frage diskutieren und ihn als das begreifen, was er ist: eine Frage von Politik und Klassenkampf.

Der Wechsel kommt durch Volksbewegungen

Was wir brauchen, ist starker und gut organisierter Druck, der die erforderlichen Veränderungen erzwingt. Dies setzt voraus, dass er mit konkreten Forderungen einhergeht, die von der Mehrheit als notwendig angesehen werden. Nur das kann die Kräfteverschiebungen und das soziale Gewicht erzeugen, die uns dazu befähigen, gegen das Kapital vorzugehen. Während Regierungen und Konzernvorstände vollständig darin übereinstimmen, schier grenzenlose Rettungspakete für Banken, Großkonzerne und das kapitalistische System im allgemeinen bereitzustellen, können wir von ihnen keine entsprechenden Umwelt-Rettungspakete erwarten. Der Wechsel muss von unten kommen und von massiven Volksbewegungen getragen werden.

In meinem Buch Slutkört (Schwedisch so viel wie: Zu Ende gefahren) habe ich 2010 für ein Volks­bündnis argumentiert, das sich auf die Industriebeschäftigten stützt und das Bedürfnis nach sicheren Arbeitsplätzen mit unserem Wissen und unserer gesellschaftlichen Macht verbindet. Ausgangspunkt sollte sein, dass wir den Komplex Autoindustrie als Gemeingut ansehen und nicht länger als Quelle für privaten Profit. Es handelt sich um eine enorme soziale Errungenschaft, die die Gesellschaft nutzen kann, um Güter zu entwickeln, mit denen wir eine schnelle Umstellung der Energie- und Verkehrssys­teme herbeiführen können. Wir sollten dies mit der gleichen Entschiedenheit angehen, wie das seiner­zeitige Umsteuern auf Kriegswirtschaft – örtlich, national und international.

Das starke, auch persönliche Interesse der Automobilarbeiter*innen könnte in diesem Kampf ein ent­scheidender Antrieb sein. Wir haben ein langfristiges Interesse an einer Gesellschaft, die in der Lage ist, das Klimadesaster abzuwenden, und wir haben ein unmittelbares Interesse am Erhalt unserer Arbeitsplätze. Selbst dann, wenn die Autoindustrie sich von der gegenwärtigen Krise erholt haben wird, so wird sie wahrscheinlich mit einer geringeren Zahl von Jobs weitermachen. Wir können es uns nicht leisten, noch länger denen zu vertrauen, die heute am Steuer sitzen. Sie sind ausschließlich an gesteigerter Profitabilität interessiert. Wenn es eine Zukunft für unser Jobs und unseren Planeten geben soll, so können wir uns nicht darauf beschränken, den Bossen Beifall zu spenden. Wenn wir und der Planet überleben wollen, so müssen wir ganz unabhängig unsere eigenen Pläne entwickeln, Pläne, die den gesellschaftlichen Nutzen mehren und Pläne, die die natürlichen Lebensgrundlagen respektieren.

So kann das falsche Dilemma zwischen Industriearbeiterjobs und Umweltschutz aufgelöst werden. (…)

Erweiterte Chancen

Die Vision einer Zukunftsgesellschaft steht heute noch schärfer im Brennpunkt als vor 10 Jahren. Im Unterschied zu damals haben wir mit der weltweiten Klimastreikbewegung einen potentiellen Verbün­deten. Eine Konversionsstrategie könnte die Grundlage sein für ein machtvolles Bündnis zwischen Automobilarbeiter*innen und dieser Jugendbewegung, ein Bündnis, das das Kapital da treffen könnte, wo es am meisten verwundbar ist: in der Produktionssphäre.

Heute geht vieles von dem, was während der Jahre des triumphalen Vormarschs der politischen Rechten nicht infrage gestellt wurde, in die Brüche. Die Notwendigkeit gemeinsamer Entscheidungen und demokratischer Kontrolle ist nach mehreren Generationen wieder offensichtlich geworden. Dies eröffnet für Politik und Bewegungen die Chance, weitreichende Umstellungen durchzusetzen, wie einst während des Zweiten Weltkriegs. Die Konversion, die damals für das Töten möglich war, brauchen wir heute für das Leben.

Lars Henriksson lebt in Göteborg und ist Mitglied von „Socialistisk Politik“ (SP), der schwedischen Sektion der Vierten Internationale. Seit Ende der 1970er Jahre arbeitet er in einem Werk von Volvo und ist er aktiver Gewerkschafter. Er befasst sich seit langem mit Fragen der Verkehrspolitik und der Konversion der Automobilindustrie.

Übersetzung aus dem Englischen: Hermann Dierkes

Quelle:
„The Triple Crisis – A Conversion Strategy From the Shop Floor“

„Dubbelkrisen kan öppna upp för en klimatomställning“

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