Verlasst euch nicht darauf
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Selbstauslöschung des Neoliberalismus?

Verlasst euch nicht darauf

Von Gilbert Achcar | 30.04.2020

Zum zweiten Mal seit der Jahrhundertwende intervenieren die Regierungen in Nordamerika und Europa massiv mit öffentlichen Geldern und in Zusammenarbeit mit den Zentralbanken, um ganze Wirtschaftssektoren zu retten und einen allgemeinen wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Die laufenden Rettungsaktionen, die durch die Covid-19-Pandemie notwendig geworden sind, haben bereits ein viel höheres Ausmaß erreicht als die, die gegen die Finanzkrise 2007/8 durchgeführt wurden. Diese Operationen kollidieren insofern mit den Grundprinzipien des Neoliberalismus, als sie einen massiven regulativen Eingriff des Staates zur Zurückdrängung des Marktes darstellen, während Deregulierung und das „survival of the fittest“ auf dem freien Markt im Mittelpunkt der neoliberalen Ideologie stehen.

Sie kollidieren auch mit fiskalischen Sparmaßnahmen, aber dieses Gebot ist nicht allen neoliberalen Regierungen gemeinsam. In Europa ist es ein geradezu heiliges Prinzip, wo der britische neoklassische Neoliberalismus mit dem deutschen Ordo-Liberalismus verschmolz. Aber es ist nicht Teil eines neoliberalen Konsenses in den Vereinigten Staaten. Dort wurden paradoxerweise die Demokraten, die früher von den Republikanern des keynesianischen „tax and spend“ (besteuern und ausgeben) beschuldigt wurden, zu den Verfechtern der Haushaltsdisziplin im neoliberalen Zeitalter. Im Gegensatz dazu verfolgten die Republikaner seit Ronald Reagan eine ihnen eigene Politik der „Steuersenkungen (für die Reichen) und Erhöhung der (militärischen) Ausgaben“, die zu enormen Bundesdefiziten geführt hat.

“Great Lockdown” tiefgreifender als “Great Recession”

Tatsache bleibt jedoch, dass die westlichen neoliberalen Regierungen ihre eigenen Doktrinen zweimal verletzt haben ‒ das zweite Mal in einem noch größerem Umfang ‒, und zwar anlässlich zweier auf­ein­anderfolgender Krisen. Gerechtfertigt wurde dies in beiden Fällen damit, dass sie wegen ihres Ausmaßes beide jeweils die Bezeichnung „die schlimmste seit der Großen Depression“ erhielten, die 1929 in den Vereinigten Staaten begann. Der andauernde „Great Lockdown“, wie der IWF die gewaltige Wirtschaftskrise in Folge der Covid-19-Pandemie bezeichnet[1], ist bereits weitaus tiefgreifender als die „Great Recession“ – so begann der IWF 2009 die vorangegangene Krise zu benennen[2]. Die entscheidende Frage lautet nun: Wann wird die aktuelle Krise ihren Tiefpunkt erreichen[3] und wie lange wird die Welt danach brauchen, um sich von ihr zu erholen?

…wenn die Finanzkrise von 2008 uns nicht erkennen ließ, dass ungezügelte Märkte nicht funktionieren, dann sollte es die Klimakrise mit Sicherheit tun: Der Neoliberalismus wird unserer Zivilisation buchstäblich ein Ende bereiten.

Das Ausmaß der andauernden wirtschaftlichen Katastrophe ist so groß, dass sie bereits die Hoffnung wieder aufflammen ließ und geschürt hat, dass sie zu einer großen globalen Verschiebung der Wirtschaftspolitik und der Prioritäten führen wird. In diesem Zusammenhang zitiert Naomi Klein einen der Hauptfeinde des Keynesianismus und Hauptverantwortlichen für den neoliberalen Wandel: Milton Friedman. Am Anfang und am Ende eines Videos, das sie kürzlich zum Thema „Coronavirus Capitalism ‒ and How to Beat it“ produzierte[4], verwendet sie dasselbe Zitat aus Friedmans Buch Capitalism and Freedom von 1962, das sie schon in ihrem Buch The Shock Doctrine[5] zweimal verwendet hat (S. 6 und 140): „Nur eine Krise ‒ eine tatsächliche oder eine vermeintliche ‒ bewirkt wirklichen Wandel. Wenn diese Krise eintritt, hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, von den Ideen ab, die herumliegen.“

Krisen – Déjà-vu…

Während Klein dieses Zitat in ihrem Buch als Schlüssel für die von ihr so genannte „Schockdoktrin“ verwendet hatte, zitiert sie es im Video zustimmend und kommentiert: „Friedman, einer der extremsten Ökonomen der Geschichte der freien Marktwirtschaft, hatte in vielem Unrecht, aber damit lag er richtig. In Krisenzeiten werden scheinbar unmögliche Ideen plötzlich möglich.“ Die Vorstellung, dass progressive Ansichten, wie sie von Naomi Klein und Bernie Sanders vertreten werden, durch die Krise gerechtfertigt wurden, hat sich in der Tat weit verbreitet ‒ sogar in der Financial Times, in der Mitherausgeber Janan Ganesh am 18. März einen Artikel mit dem Titel „The Sanders worldview wins even if Bernie loses“[6] veröffentlichte. Einen Tag zuvor hatte das britische pro-konservative Magazin The Spectator Boris Johnson aufgefordert, sich „aus Corbyns Drehbuch zu bedienen“[7].

Für jede·n, die/der sich an die vorangegangene Wirtschaftskrise erinnert, muss dies ein Déjà-vu-Gefühl auslösen. Die Erwartungshaltung war damals eigentlich viel stärker, obwohl die gegenwärtige Krise größer ist, denn die Große Rezession war der erste große globale Schock des neoliberalen Zeitalters und der Anlass für den ersten Rückgriff der neoliberalen Regierungen auf massive staatliche Interventionen zur Eindämmung der Krise. Newsweek erschien im Februar 2009 mit einer Titelseite, auf der verkündet wurde: „We are all socialists now“[8]. Es ist recht amüsant, das heute noch einmal zu lesen: Es beginnt mit einem Zitat des „Kongressabgeordneten von Indiana Mike Pence, Vorsitzender der House Republican Conference und lautstarker Gegner von Präsident Obamas Stimulus-Gesetz[9] von fast 1 Billion Dollar“, und seines Moderators auf Fox News, dem Inbegriff wahrhafter „fake news“, der das Gesetz als „sozialistisch“ bezeichnete.

Der Newsweek-Artikel kommentierte, dass dieser Vorwurf „auf seltsame Weise am Kern vorbei geht. Die US-Regierung hat bereits ‒ unter einer konservativen republikanischen Regierung ‒ den Banken- und Hypothekensektor effektiv verstaatlicht.“ Das Paradox wurde weiter kultiviert: „Die Geschichte hat einen Sinn für Humor, denn der Mann, der den Grundstein für die Welt legte, die Obama jetzt regiert, ist George W. Bush, der im vergangenen Herbst den Finanzsektor mit 700 Milliarden Dollar aus der Patsche geholfen hat. Bush beendete das Zeitalter von Reagan; jetzt ist Obama weiter gegangen und hat Bill Clintons Ende mit ,big governmentʻ rückgängig gemacht.“

Diese Illusion beruhte auf einer Verwechslung von einer pragmatischen und vorübergehenden Entlehnung aus dem keynesianischen Drehbuch, um den Spectator zu paraphrasieren, mit einer radikalen Veränderung der langfristigen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie dauerte damals nicht lange, wie Ganesh von der FT nicht übersehen konnte:

… und dieses Mal fühlt es sich anders an.

Wir befinden uns im Anfangsstadium einer der periodisch wiederkehrenden Diskontinuitäten im wirtschaftlichen Denken der Geschichte. Vielleicht die schärfste seit den OPEC-Ölkrisen, die die Vertreter des freien Marktes in den 1970er Jahren in Schwung bracht. Nach dem Crash 2008 kündigte eine Biografie von John Maynard Keynes bereits die „Rückkehr des Meisters“ an. Nun, sie war flüchtig. Es dauerte nicht lange, und schon bald gab es in der ganzen westlichen Welt fiskalische Sparmaßnahmen. In den USA gab es die Tea-Party-Bewegung, die Kastration von Präsident Barack Obama durch einen republikanischen Kongress und den Angriff seines Nachfolgers auf den Verwaltungsstaat.

„Dieses Mal fühlt es sich anders an“, fügte Ganesh hinzu. Aber selbst das ist ein immer wiederkehrendes Gefühl. Der jüngste Fall ereignete sich kurz vor dem Ausbruch der Pandemie, als Joseph Stiglitz, der bekannte ehemalige Chefökonom der Weltbank, (nach unzähligen anderen) das „Ende des Neoliberalismus“[10] einläutete. Auch Stiglitz hätte schreiben können „diesmal fühlt es sich anders an“, als er behauptete, „wenn die Finanzkrise von 2008 uns nicht erkennen ließ, dass ungezügelte Märkte nicht funktionieren, dann sollte es die Klimakrise mit Sicherheit tun: Der Neoliberalismus wird unserer Zivilisation buchstäblich ein Ende bereiten.“

Verständlicherweise hat die größere Schärfe der andauernden Covid-19-Wirtschaftskrise, obwohl sie von weitaus geringerer historischer Bedeutung ist als die Klimakrise, zu einer Menge neuer Nachrufe auf den Neoliberalismus geführt ‒ leider alle recht verfrüht. Ein eifriger neoliberaler Mitarbeiter des Wirtschaftsmagazins Forbes verwechselte sie mit Nachrufen auf den Kapitalismus. Er beklagte: „linke Intellektuelle sind begeistert“[11], und beschuldigte sie der Schadenfreude. Nichtsdestotrotz räumte er ein, dass die linke Kritik am Neoliberalismus (in seinem Verständnis kurz Kapitalismus) im Laufe der Jahre an Boden gewonnen habe, und rief die anderen Neoliberalen dazu auf, „besonders wachsam“ zu sein:

Vor zwölf Jahren gelang es den Antikapitalisten, die Finanzkrise ‒ fälschlicherweise ‒ als Krise des Kapitalismus zu framen. Die falsche Erzählung, dass die Finanzkrise ein Ergebnis von Marktversagen und Deregulierung sei, hat sich inzwischen in den Köpfen der breiten Bevölkerung fest etabliert. Und nun bemühen sich linke Intellektuelle wieder nach Kräften, mit der Coronakrise ihre Forderungen nach dem allmächtigen Staat zu rechtfertigen. Leider sind die Chancen, dass ihnen das gelingt, sehr hoch.

War dieser glühende Neoliberale überpessimistisch in Bezug auf das Aufkommen des „allmächtigen Staates“? Nicht so ganz, meint David Harvey. Seinen längeren Artikel vom 20. März in Jacobin[12] beendete er mit einer ziemlich überraschenden dystopischen Perspektive ‒ nicht auf einen sozialistischen Wohlfahrtsstaat, sondern auf ein Behemoth à la Trump:

Die US-Republikaner werden Kreide fressen…

Die Last des Ausstiegs aus der gegenwärtigen Wirtschaftskrise verlagert sich nun auf die Vereinigten Staaten, und hier liegt die ultimative Ironie: Die einzige Politik, die sowohl wirtschaftlich als auch politisch funktionieren wird, ist weitaus sozialistischer als alles, was Bernie Sanders vorschlagen könnte. Und diese Rettungsprogramme müssen unter der Ägide von Donald Trump eingeleitet werden, vermutlich unter dem Motto „Make America Great Again“. All jene Republikaner, die sich so heftig gegen die Rettungsaktion von 2008 gewehrt haben, werden Kreide fressen oder Donald Trump die Stirn bieten müssen. Letzterer wird, wenn er klug ist, die Wahlen wegen dem Notstand absagen und den Beginn einer imperialen Präsidentschaft erklären, um das Kapital und die Welt vor „Aufruhr und Revolution“ zu retten.

Eine Woche später trat Costas Lapavitsas in Harveys Fußstapfen.[13] Auch er wendete sich gegen den ungerechtfertigten Optimismus der Linken, wenn auch mit einem weniger apokalyptischen Szenario und ohne Illusionen darin, dass ein Ende des Neoliberalismus in Sicht sei:

Die Schibboleths der neoliberalen Ideologie der letzten vier Jahrzehnte werden rasch beiseite gefegt, und der Staat entwickelt sich zum Regulator der Wirtschaft, ausgestattet mit enormer Macht. Es fiel vielen Linken nicht schwer, ein solches staatliches Handeln zu begrüßen, da sie meinten, es deute die „Rückkehr des Keynesianismus“ und die Totenglocke des Neoliberalismus an. Aber es wäre voreilig solche Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zum einen stand der Nationalstaat seit jeher im Zentrum des neoliberalen Kapitalismus und garantiert durch selektive Interventionen in kritischen Momenten die Klassenherrschaft des dominanten Unternehmens- und Finanzblocks. Zum anderen wurden diese Interventionen von stark autoritären Maßnahmen begleitet, die die Menschen massenhaft in ihren Häusern einschlossen und riesige Metropolen abriegelten. (…) Die kolossale Macht des Staates und seine Fähigkeit, sowohl in die Wirtschaft als auch in die Gesellschaft einzugreifen, könnten zum Beispiel zu einer autoritäreren Form eines kontrollierten Kapitalismus führen, in dem die Interessen der Konzern- und Finanzelite an erster Stelle stehen.

Optimismus und Pessimismus – Utopie und Dystopie

Wir stehen wieder vor den beiden polaren Gegensätzen Optimismus und Pessimismus, Utopie und Dystopie, zwischen denen die radikale Linke traditionell hin- und hergeschwenkt ist. Die Wahrheit ist, dass es sich dabei in erster Linie um Projektionen individueller und/oder kollektiver Dispositionen in die Zukunft handelt, die ihrerseits nach wechselnden politischen Erfahrungen hin und her pendeln. So hat sich die Stimmung in der US-amerikanischen Linken vom Vorabend des Superdienstags am 3. März bis zum folgenden Tag nach der Sicherung des Sieges Bidens in der demokratischen Vorwahl sicherlich erheblich verschoben ‒ ebenso wie die Stimmung in der britischen Linken vom Vorabend des 12. Dezember 2019 und dem folgenden Tag nach dem Wahlsieg von Boris Johnson.

Sowohl Utopie als auch Dystopie sind dennoch nützliche Bestandteile des Weltbildes der Linken, da sie die Magnetpole Pessimismus und Optimismus, Vorsicht und Voluntarismus, die Angst vor einer Wiederkehr der faschistischen Vergangenheit und die Hoffnung auf eine wahrhaft demokratische sozialistische Zukunft aufrechterhalten, die diejenigen motivieren, die danach streben, die Welt zu einem besseren und gerechteren Ort zu verändern. Der Punkt, an dem der Cursor schließlich in der realen Welt auf der langen Strecke steht, die Utopie und Dystopie trennt, wird jedoch nicht durch objektive Bedingungen bestimmt. Diese stellen lediglich die Parameter dar, innerhalb derer Klassen- und intersektionelle Kämpfe stattfinden müssen. Wesentliche Verschiebungen im Bereich der Regierungspolitik werden vor allem durch den sozialen Kampf im Kontext der bestehenden Verhältnisse bestimmt.

Hier hat sich Milton Friedman in der Tat geirrt. Wenn eine Krise eintritt, hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, nicht „von den Ideen ab, die herumliegen“. Sicherlich ist der Kampf um Ideen, die in konkrete Politikvorschläge umgesetzt werden, wichtig. Und die politisch-wirtschaftlichen Maßnahmen, die schließlich umgesetzt werden, hängen sicherlich mit den Ideen zusammen, die vorherrschen ‒ allerdings nicht in der Gesellschaft als Ganzes, sondern in der sozialen Gruppe, die das Ruder der Regierung lenkt. Die Analogie zwischen dem Wechsel weg vom keynesianischen Nachkriegskonsens hin zum Neoliberalismus und dem, was Thomas Kuhn einen „Paradigmenwechsel“[14] nannte, endet an diesem Punkt. Denn anders als wissenschaftliche Revolutionen, die das Ergebnis von Wissensfortschritten sind, sind Paradigmenwechsel in der Wirtschaft nicht das Produkt irgendeiner kollektiv-theoretischen oder auch nur pragmatisch-intellektuellen Entscheidung.

Mandels lange Wellen

Wie Ernest Mandel es 1980 zu Beginn des neoliberalen Zeitalters in seinem Buch über die langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung formulierte:

Die Umkehr der Wirtschaftsakademiker zur antikeynesianischen Konterrevolution war nicht so sehr eine verspätete Erkenntnis der langfristigen Gefahren einer permanenten Inflation. Diese Bedrohung war lange, bevor der Keynesianismus seine führende Rolle bei den Wirtschaftsberatern der bürgerlichen und reformistischen Regierungen verlor, bekannt gewesen. Sie ist nicht einmal hauptsächlich durch die unvermeidbare Beschleunigung der Inflation entstanden (…). Sie ist in erster Linie Resultat eines grundlegenden Prioritätenwechsels der kapitalistischen Klasse im Klassenkampf.

(…) Die „antikeynesianische Konterrevolution“ der Monetaristen im Bereich der akademischen Wirtschaftslehre ist nichts anderes als der ideologische Ausdruck dieser veränderten Priorität. Ohne die langfristige Wiederherstellung der chronischen strukturellen Erwerbslosigkeit, ohne die Wiederherstellung des „Sinnes für individuelle Verantwortung“ (d. h. ohne schwerwiegende Einsparungen in der Sozialversicherung und den Sozialeinrichtungen), ohne verallgemeinerte Sparmaßnahmen (d. h. Stagnation oder Sinken der Reallöhne) kann es keine starke und schnelle Wiederherstellung der Profitrate geben: Das ist die neue wirtschaftliche Weisheit. An ihr läßt sich nichts besonders „Wissenschaftliches“ finden; vielmehr wird damit trotz all der Hinweise auf objektive Wissenschaft eine Interessensidentität mit den unmittelbaren und langfristigen Bedürfnissen der kapitalistischen Klasse zum Ausdruck gebracht.[15]

Neoliberale Paradigmenwechsel

Der neoliberale Paradigmenwechsel wurde durch eine stetige Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Klassenkampf in den westlichen Ländern im Laufe der 1970er Jahre ermöglicht, mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit seit der Rezession in den Jahren 1973 bis 1975 und den siegreichen Angriffen auf die Arbeiterbewegung unter der Führung von Ronald Reagan und Margaret Thatcher Anfang der 1980er Jahre. Der Grad, in dem die „antikeynesianische Konterrevolution“ seither in verschiedenen Ländern umgesetzt wurde, ist nicht von intellektuellen Unterschieden abhängig, sondern vom gesellschaftlichen Kräfteverhältnis in den einzelnen Ländern. Für eine zeitgemäße Veranschaulichung in Bezug auf die öffentliche Gesundheit lohnt es, Großbritannien und Frankreich zu vergleichen, zwei Länder mit ungefähr gleichen Bevölkerungszahlen und BIPs.

Die Bandbreite der Gesundheitskosten ist in beiden Ländern ähnlich, weit entfernt von den extravaganten Kosten, die die US-Gesundheitsausgaben in die Höhe treiben. Nimmt man die durchschnittliche jährliche ärztliche Vergütung[16] als Indikator, so beträgt sie derzeit 108.000 US-Dollar in Frankreich und 138.000 $ in Großbritannien (gegenüber 313.000 $ in den USA). Registrierte Krankenschwestern und Krankenpfleger in Frankreich und im Vereinigten Königreich erhalten im Durchschnitt etwa gleich hohe Jahresgehälter.[17] Die aufeinanderfolgenden neoliberalen Regierungen in Frankreich sind dafür kritisiert worden, dass sie versuchen, einen wachsenden Teil der Ausgaben im Gesundheitssystem, auf die Patient*innen zu verlagern, und dennoch ist Frankreich im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit nach wie vor in einer viel besseren Position als Großbritannien.

Im Königreich wird geheuchelt und betrogen

Nach Angaben der OECD[18] schwankten die Gesundheitsausgaben der Regierung und der Pflichtversicherungssysteme in den letzten zehn Jahren in Frankreich zwischen 8,5 und 9,5 % des BIP, verglichen mit 6,9 und 7,8% in Großbritannien. Von 2010 bis 2017 hat Frankreich jedes Jahr 0,6 bis 0,7 % seines BIP für Investitionen (Bruttokapitalbildung) in sein Gesundheitssystem aufgewendet, gegenüber 0,3 bis 0,4 % im Vereinigten Königreich. Es überrascht daher nicht, dass die Zahl der Krankenhäuser im Jahr 2017 in Frankreich über 3000 lag, gegenüber knapp 2000 im Vereinigten Königreich, mit einer Gesamtzahl von fast 400.000 Krankenhausbetten in Frankreich gegenüber fast 168.000 im Vereinigten Königreich. Diese Zahl ist im Vereinigten Königreich im letzten Jahrzehnt unter den Tory-geführten Regierungen weiter zurückgegangen.[19] Was die Zahl der Ärzt*innen betrifft, so lag sie 2017 in Frankreich bei über 211.000 gegenüber 185.700 im Vereinigten Königreich. Auf der einen Seite des Ärmelkanals kamen 10,8 praktizierende Krankenschwestern auf eintausend Einwohner*innen, verglichen mit 7,8 in Großbritannien.[20]

Diese Zahlen zeigen, wie heuchlerisch und betrügerisch es war, wenn in Boris Johnsons Brexit-Kam­pagne das National Health System als zentrales Argument benutzt und der EU die Schuld für den schlechten Zustand des NHS in die Schuhe geschoben wurde. Doch der Unterschied zwischen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge in Frankreich und Großbritannien ist nicht auf ideologische Differenzen zwischen den Herrschenden auf den beiden Seiten des Ärmelkanals zurückzuführen. Es ist der viel größere soziale Widerstand in Frankreich und nichts anderes, was die aufeinander folgenden Regierungen des Landes daran gehindert hat, den neoliberalen Weg weiter zu beschreiten.

Im Vereinigten Königreich, wo eine umfassende Privatisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe ‒ wie es den Konservativen in den Bereichen Energie und Verkehr gelang ‒ aus wahltaktischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war, wurden andere Methoden angewandt, die auf zu geringen Widerstand stießen. Im öffentlichen Gesundheitswesen ging es um eine Senkung der öffentlichen Ausgaben unter dem Druck der Abwanderung der reichsten Schichten der Bevölkerung aus dem staatlichen System in private Gesundheitssysteme, um nach und nach ein zweistufiges Gesundheitssystem einzuführen, das dem in den USA ähnelt. Im Bereich der Hochschulbildung führte dies zu einer Privatisierung („corporatization“[21]), indem die öffentliche Finanzierung durch eine massive Erhöhung der Studiengebühren ersetzt wurde, wodurch auf dem Weg dorthin eine Generation geschaffen wurde, die mit erheblichen Schulden ins Berufsleben eintritt, wiederum ähnlich der Situation in den USA.

Die Arbeiter*innen sollen es wieder richten

Der Ausgang der gegenwärtigen pandemiebedingten Wirtschaftskrise wird ebenfalls in jedem Land durch das Verhältnis der lokalen gesellschaftlichen Kräfte im Rahmen der globalen Verhältnisse bestimmt werden. Das wahrscheinlichste unmittelbare Ergebnis wird nicht eine der beiden gegensätzlichen Alternativen einer spontanen post-keynesianischen Abkehr vom Neoliberalismus oder eines Behemoth à la Trump sein. Vielmehr wird es der Versuch neoliberaler Regierungen sein, die Last der gegenwärtig entstandenen enormen Schulden auf die Arbeiter*innen abzuwälzen, wie sie es im Gefolge der Großen Rezession getan haben, wodurch die Kaufkraft und damit der Konsum der Menschen eingeschränkt und die Welt in eine erhebliche Verschärfung der gegenwärtigen säkularen Stagnation geführt würde, vor der Adam Tooze gewarnt hat.[22]

Der Historiker zog zu Recht den Schluss: „Es ist sinnvoll, stattdessen eine aktivere, visionärere Regierung zu fordern, die den Weg aus der Krise weist. Aber die Frage ist natürlich, welche Form diese annehmen wird und welche politischen Kräfte über sie bestimmen werden.“ Das ist in der Tat die Frage. Da unser Leben durch die andauernde doppelte Krise erschüttert wird und da die Wirtschaftskrise die Pandemie wahrscheinlich lange überdauern wird, geht es in erster Linie darum zu bestimmen, wer für die enormen menschlichen und wirtschaftlichen Kosten der Krise aufkommen wird: diejenigen, die in erster Linie für das Ausmaß dieser Kosten verantwortlich sind, durch den jahrzehntelangen neoliberalen Abbau der öffentlichen Gesundheit und des Wohlfahrtsstaates und die Konzentration auf finanzielle Gewinne, oder der Rest von uns, d. h. die große Mehrheit der Bevölkerung?

Wir können mit Sicherheit vorhersagen, dass die Neoliberalen einhellig daran arbeiten werden, die öffentlichen Gesundheitsausgaben zu erhöhen, nicht ohne sicherzugehen, dass sie ihren Freunden, den Herstellern von Gesundheitsprodukten, zugutekommen. Sie werden dies tun, nicht etwa weil sie plötzlichen zu den Tugenden des Sozialstaates bekehrt wurden oder an der öffentlichen Meinung interessiert wären, sondern weil sie die wirtschaftlichen Folgen einer neuen Pandemie oder einer zweiten Welle der gegenwärtigen Pandemie fürchten. Der Punkt ist, dass sie von Natur aus dazu neigen werden, dies auf Kosten des öffentlichen Interesses zu tun, wie Bildung, Renten oder der Unterstützung von Arbeitslosen, während sie die Lohnempfänger*innen durch Maßnahmen wie Lohnstopp oder sogar Lohnkürzungen dafür zur Kasse bitten werden, dass die Volkswirtschaften wieder business as usual betreiben.

Am Ende drängt alles zum Kampf

Am dringendsten ist daher der Kampf, sie daran zu hindern, auf die Art und Weise, wie die französischen Arbeiter*innen sich den Angriffen ihrer neoliberalen Regierungen auf ihre Einkommen und Rentensysteme in den Jahren 1995 und 2019 entgegengestellt haben, d. h. durch den Rückgriff auf den Generalstreik oder die Androhung eines solchen. Dieser Kampf wird darüber entscheiden, dass von den sozialen und politischen Kräften wie jenen, die hinter der Gewerkschaftsbewegung in Frankreich, der Labour Party in Großbritannien und der Sanders-Kampagne in den USA gestanden haben, der Boden für eine Niederlage der Neoliberalen bereitet wird. Erst dann wird der Neoliberalismus dauerhaft überwunden werden.

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Aus dem Englischen übersetzt von Violetta Bock, Michael Heldt und Wilfried Dubois. Die Übersetzung ins Deutsche und die Veröffentlichung erfolgen mit Zustimmung des Verfassers. Dieser Essay ist am 24. April 2020 auf der Website der US-amerikanischen Zeitschrift New Politics ‒ An Independent Socialist Journal erschienen: https://newpol.org/self-extinction-of-neoliberalism-dont-bet-on-it.

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Gilbert Achcar ist Professor an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London. Zuletzt hat er die folgenden Bücher veröffentlicht: Marxism, Orientalism, Cosmopolitanism (London: Saqi Books sowie Chicago: Haymarket Books, 2013), The People Want: A Radical Exploration of the Arab Uprising (London: Saqi Books sowie Berkeley: University of California Press, 2013) und Morbid Symptoms: Relapse in the Arab Uprising (London: Saqi Books, 2016). Auf Deutsch erschien zuletzt Die Araber und der Holocaust: Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen (Hamburg: Edition Nautilus, 2012). Noch lieferbar ist der von ihm herausgegebene Band Gerechtigkeit und Solidarität: Ernst Mandels Beitrag zum Marxismus (Köln: Neuer ISP Verlag, 2003).


[1] https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2020/04/14/World-Economic-Outlook-April-2020-The-Great-Lockdown-49306.

[2] https://www.imf.org/en/News/Articles/2015/09/28/04/53/sp051809.

[3] https://www.nytimes.com/2020/04/01/business/economy/coronavirus-recession.html.

[4] https://www.youtube.com/watch?v=niwNTI9Nqd8.

[5] http://tsd.naomiklein.org/shock-doctrine/the-book.
[The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, Toronto: Alfred A. Knopf Canada Holt, 2007; dt. Ausg.: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2007.]

[6] https://www.ft.com/content/198135c8-6912-11ea-a3c9-1fe6fedcca75.

[7] https://www.spectator.co.uk/article/boris-must-borrow-from-corbyn-s-playbook-to-prevent-a-coronavirus-crash.

[8] https://www.newsweek.com/we-are-all-socialists-now-82577.

[9] [Damit ist der „American Recovery and Reinvestment Act“ gemeint, den Präsident Barack Obama im Januar 2009 unmittelbar nach seiner Amtseinführung auf den Weg brachte. Zahlreiche Einzelheiten: https://en.wikipedia.org/wiki/American_Recovery_and_Reinvestment_Act_of_2009.]

[10] https://www.socialeurope.eu/the-end-of-neoliberalism-and-the-rebirth-of-history.

[11] https://www.forbes.com/sites/rainerzitelmann/2020/03/30/left-wing-intellectuals-are-thrilled-corona-and-dreams-of-the-end-of-capitalism/#4459194b7420.
[Zu dem Historiker und Kommunikationsberater von Immobilien- und Fondsgesellschaften Dr. Dr. Rainer Zitelmann, der sich vom MLer als Schüler zum nationalliberalen FDP-Mitglied wandelte, siehe http://www.rainer-zitelmann.de/ sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Zitelmann. Unter seinen vielen Büchern: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Eine Zeitreise durch fünf Kontinente, München: FinanzBuch Verlag, 2018.]

[12] https://jacobinmag.com/2020/03/david-harvey-coronavirus-political-economy-disruptions.
[Als Podcast: http://anticapitalistchronicles.libsyn.com/anti-capitalist-politics-in-the-time-of-covid-19.
Auf Deutsch: https://www.klassegegenklasse.org/antikapitalistische-politik-in-der-epoche-des-covid-19/]

[13] https://www.jacobinmag.com/2020/03/coronavirus-pandemic-great-recession-neoliberalism.
[Auf Deutsch am 21. April erschienen: https://jacobin.de/artikel/corona-krise-neoliberalismus-rezession/.]

[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Neoliberalism.
[Der US-amerikanische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (1922‒1996) entwickelte seine Auffassung von der Entwicklung der Wissenschaft als Folge von Phasen der Normalwissenschaft (Paradigmen), die durch wissenschaftliche Revolutionen (Paradigmenwechsel) unterbrochen werden, in seinem Hauptwerk: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press, 1962; dt. Ausg.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967, 2. Ausg. 1976.]

[15] https://www.versobooks.com/books/614-long-waves-of-capitalist-development.
[1. Ausg.: Long Waves of Capitalist Development. The Marxist Interpretation, Cambridge usw.: University Press; Paris: Editions de la Maison des Sciences de lʼHomme, 1980, S. 99, 100; 2. Ausg. (um zwei Kapitel erweitert): Long Waves of Capitalist Development. A Marxist Interpretation, London u. New York: Verso, 1995, S. 77, 78. Dt. Ausg.: Die Langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung, Frankfurt a. M.: isp-Verlag, 1983, S. 93, 94].

[16] https://login.medscape.com.

[17] https://www.salaryexpert.com/salary/browse/countries/registered-nurse.

[18] https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=SHA.

[19] https://www.theguardian.com/politics/2019/nov/25/hospital-beds-at-record-low-in-england-as-nhs-struggles-with-demand.

[20] https://www.nurses.co.uk/nursing/blog/number-of-practising-nurses-in-uk-considerably-lower-than-other-high-income-countries/.

[21] [Umwandlung von öffentlichen Unternehmen (Eigenbetriebe zur öffentlichen Daseinsvorsorge) in Firmen, die zwar noch mehrheitlich oder ganz Eigentum eines Staats oder einer Gemeine, aber nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Corporatization.]

[22] https://foreignpolicy.com/2020/04/09/unemployment-coronavirus-pandemic-normal-economy-is-never-coming-back/.
[Auf Deutsch liegen diese aktuellen Texte aus der Feder des britischen Wirtschaftshistorikers Adam Tooze vor: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/wie-das-virus-fast-den-kapitalismus-killte; https://www.boell.de/de/2020/04/23/schockwelle-die-folgen-der-pandemie-fuer-die-weltwirtschaft.]

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