“Wir müssen eine kollektive Wiederaneignung erfinden”

Im Vordergrund, in weißem Kapuzenpullover, befindet sich Olivier Besancenot auf einer Demo gegen "Sparmaßnahmen" in Paris am 12.04.2014 Foto: philippe leroyer, Left Demonstration - 12Apr14, Paris (France) - 54, CC-BY-NC-ND 2.0

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Linke Herausforderungen in der Corona-Krise

“Wir müssen eine kollektive Wiederaneignung erfinden”

Von Olivier Besancenot (NPA) | 18.04.2020

Anfang April hat die Tageszeitung L’Humanité, früher Zentralorgan der Französischen Kommunistischen Partei (FKP oder PCF), „linke Führungspersönlichkeiten“ zu ihrer Vision vom „Tag danach“ befragt. In der Ausgabe vom 7. April 2020 erschien das Interview, das Julia Hamlaoui mit Olivier Besancenot der NPA geführt hat. Darin plädiert er für einen „Solidaritätsschock“.

Inwiefern zeigt die Krise, die wir durchmachen, die Notwendigkeit, mit dem gegenwärtigen System zu brechen?

Olivier Besancenot: Es ist jetzt eine Frage des Überlebens. Wir haben bereits gespürt, wie sehr die Phase der [neo-] liberalen Globalisierung der letzten 30 Jahre ‒ mit ihrem Versprechen der Stabilität für die Finanzmärkte ‒ an ihre Grenzen gestoßen ist. Sogar der globalisierte Kapitalismus ist am Ende um die ganze Welt gegangen. Es ist kein Fass ohne Boden. Wir haben es bei der Finanzkrise von 2008, bei der Klimakrise und jetzt bei der Gesundheitskrise gesehen. Das System ist auf dramatische Weise mit seinen eigenen Widersprüchen konfrontiert. Aber, um Walter Benjamins Formulierung aufzugreifen, der Kapitalismus wird niemals eines natürlichen Todes sterben. Es geht nur darum, ihm dabei zu helfen. Denn der Tag danach kann, wenn man sie machen lässt, schlimmer sein als der Tag davor.

Wie können wir verhindern, dass die Rechnung für die kommende Wirtschaftskrise den Bürger*innen präsentiert wird?

Olivier Besancenot: Die Frage ist, wer in der Welt von danach die Oberhand über das Produktionsmodell haben wird. Es sollte eine kollektive und öffentliche Wiederaneignung erfunden werden, insbesondere um sicherzustellen, dass die Industrie soziale Bedürfnisse erfüllt. Es geht nicht einfach nur darum, die Privatisierung der öffentlichen Dienste zurückzunehmen, sondern um die Enteignung privater Interessen in bestimmten Sektoren, die zu wichtig sind, um sie der verrückten Logik der Marktwirtschaft zu überlassen. Diese Logik besteht nun darin, die Airbus-Mitarbeiter*innen zur Herstellung von Kriegshubschraubern zu zwingen, während man gleichzeitig nicht in der Lage ist, die Firma Luxfer zu requirieren, die als einzige in der Lage ist, Sauerstoffflaschen herzustellen. Andernfalls werden die Arbeiter*innen, Unterdrückten und Ausgebeuteten mit Sicherheit eine sozial gesehen dramatische Rechnung bezahlen. Das fängt schon an, bei dem bezahlten Urlaub und der wöchentlichen Arbeitszeit. Auch die ökologischen Folgen werden katastrophal sein, denn der Wettlauf um Wachstum wird erst recht wieder einsetzen. Auf der politischen Ebene stellen [neo-] liberale Regierungen bereits Erwägungen über die Schockstrategie an, um unpopuläre Einnahmen durchzusetzen. Autoritarismus ist nur die andere Seite der Medaille Kapitalismus. Dem müssen wir einem Solidaritätsschock entgegensetzen.

Die Regierung hat keine Ahnung, wie groß und wie tiefernst die Wut ist

Welche konkreten Maßnahmen können ergriffen werden, um solch einen Solidaritätsschock zu verpassen?

Olivier Besancenot: Das Leben nach dem Tod beginnt jetzt. Die Priorität muss der Solidarität eingeräumt werden, insbesondere finanziell. Angefangen bei den Gesundheitsdiensten. Wir müssen unverzüglich dafür sorgen, dass mehr Betten geschaffen, Tausende von notwendigen Arbeitsplätzen eingerichtet werden und Schutzausrüstung hergestellt wird. Die Diskrepanz zwischen effekthascherischen Ankündigungen und dem, was lebensnotwendig ist, ist unerträglich. Allein die Ehpad [Altenpflegeheime] bräuchten zwei Millionen Masken pro Tag. Ganz zu schweigen von all denen, deren Arbeit unverzichtbar bleibt, zusätzlich zum Pflegepersonal. Die unmittelbare Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Milliarden Euro aus dem Staatshausehalt ‒ das Geld der Steuerzahler*innen und damit unser eigenes ‒ für dringende Ausgaben im Gesundheitsbereich ausgegeben werden. Wenn wir zulassen, dass sie dem Großkapital und den Banken zufließen, werden sie für die Welt danach für immer verloren sein. Die Regierung hat keine Ahnung, wie groß und wie tiefernst die Wut ist, die hochkommt. Sich auch nur für eine Sekunde vorzustellen, dass es wieder so laufen könnten wie vorher, mit dem Abbau der öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Transport, Bildung, soziale Sicherung, das geht gar nicht. Die Machthaber*innen geben selber zu, dass das Wirtschaftssystem vor einer systemischen Krise stehen wird. Dies ist ein Eingeständnis seiner Unzulänglichkeiten seitens einer Regierung, die noch vor wenigen Wochen mit ihrer Rentenreform die Versicherungswirtschaft eingeladen hat, sie möge an die Stelle unseres Solidaritätssystems treten.

Diese Krise zeigt die Konzentration der Macht. Welche demokratischen Brüche sind notwendig?

Olivier Besancenot: Es beginnt damit, dass das Notstandsgesetz hier und jetzt aufgehoben wird, das es der Exekutive erlaubt, mit Verordnungen und Dekreten zu regieren und die Macht noch etwas mehr zu konzentrieren. Politisch stehen wir an einem Scheideweg: entweder die Versuchung einer eisernen Faust der herrschenden Klassen oder, im Gegenteil, die Erfindung einer Gesellschaft, die von unten nach oben funktioniert. Das bedeutet unter anderem, dass mit der Fünften Republik Schluss gemacht wird und in einem verfassunggebenden Prozess alle demokratischen Regeln neu überdacht werden müssen. Das heißt aber auch, dieses Projekt in der Welt der Betriebe angehen. Die Beschäftigten sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor haben praktisch kein Recht auf Einblick. Die Gesundheitskrise zum Beispiel zeigt, dass sie am besten wissen können, welchen Schutz sie brauchen.

Wie können wir nach der historischen sozialen Bewegung dieses Winters das notwendige Kräfteverhältnis für den „Tag danach“ in Richtung Fortschritt aufbauen?

Olivier Besancenot: Wenn wir auf eine Politik hoffen, die einen Schock von solidarischer, emanzipatorischer, egalitärer, ökologischer Politik verpasst, müssen wir zuerst in der Lage sein, die Dampfwalze der [neo-] liberalen und autoritären Politik zu stoppen. Alle sozialen, politischen und gewerkschaftlichen Kräfte müssen jetzt also wirklich gemeinsam handeln.

Aus dem französischen übersetzt von Wilfried.

Zur Person:

Olivier Besancenot trat 1991 mit 17 Jahren in die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) ein und war 2002 und 2007 ihr Kandidat für die Präsidentschaft, er erhielt beide Male über 1 Mio. Stimmen (über 4 %), 2009 war er an der Gründung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) beteiligt, er wollte kein Berufspolitiker werden und verzichtete 2011 auf seine Funktion als Sprecher der NPA, seit 1997 arbeitet er bei „La Poste“ als Briefträger, inzwischen an einem Schalter eines Postbüros in Paris.

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