COVID-19: Geschwächtes System
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Die neoliberale Zerstörungspolitik im Gesundheitswesen kostet Menschenleben

COVID-19: Geschwächtes System

Von Daniel Behruzi | 04.05.2020

Der Coronavirus trifft auf ein geschwächtes System – sowohl politisch und ökonomisch, als auch bezogen auf die Gesundheitssysteme Europas. Länder wie Italien und Griechenland wurden von der EU unter deutscher Führung dazu gezwungen, ihre Sozialausgaben drastisch zu kürzen – mit dramatischen Konsequenzen, insbesondere für die Gesundheitsversorgung. Die hohe Zahl der Covid-19-Toten in Italien ist eine direkte Folge dieser neoliberalen Zerstörungspolitik.

In Deutschland reicht der von Regierungen unterschiedlicher Couleur vorangetriebene Umbau des Gesundheitssystems zurück bis zum Beginn der 1990er Jahre. Bis dahin galt das Selbstkostendeckungsprinzip: Die Ausgaben der Krankenhäuser wurden vollständig refinanziert, sie konnten weder Gewinne noch Verluste machen. Mit der Einführung des Finanzierungssystems der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) wurden die »Fälle« (sprich: die Behandlung der Patient*innen) pauschaliert vergütet. Seither können Krankenhäuser Gewinne machen, wenn ihre Kosten unter den Pauschalen liegen. Vor allem kommerzielle Klinikbetreiber erreichen das, indem sie sich auf besonders lukrative Fälle spezialisieren, aus Tarifverträgen aussteigen, Personal abbauen und die Arbeit verdichten. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: zumeist kommunale und freigemeinnützige Kliniken, die im Preiswettbewerb nicht mithalten können und Pleite gehen (oder privatisiert werden). Und genau das war explizites Ziel der Einführung des DRG-Systems: Krankenhäuser sollten vom »Markt« verschwinden, um vermeintliche Überkapazitäten abzubauen.

Im politischen und medialen Establishment gabʼs dafür Applaus.

Und das ist auch geschehen: Gab es 1999 noch 2.252 Krankenhäuser mit insgesamt 565.300 Betten, sind es jetzt nur noch 1.942 Kliniken mit zusammen 497.200 Betten. Neoliberalen Thinktanks wie der Bertelsmann-Stiftung ist das bei Weitem nicht genug: Kurz vor Beginn der Pandemie veröffentlichte sie eine »Studie«, in der sie die Schließung von 1.000 Kliniken und die Konzentration der Versorgung in wenigen Großkrankenhäusern propagierte. Im politischen und medialen Establishment gabʼs dafür Applaus. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viele zusätzliche Menschenleben es gekostet hätte, wenn dieser Plan bereits umgesetzt wäre.

»Das Finanzierungssystem der Fallpauschalen (DRGs) muss abgeschafft und durch eine kostendeckende Finanzierung ersetzt werden. Das gilt jetzt in der Krise, aber auch für die Zukunft. Nur so können Krankenhäuser ihrem Versorgungsauftrag nach guter Patientenversorgung gerecht werden.«
Aus einem Offenen Brief von gewerkschaftlich aktiven Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser Vivantes und Charité
In der Corona-Krise wird offensichtlich, welche menschenverachtenden Konsequenzen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens hat.

Krankenhäuser wurden zu Fabriken

Die Methoden der industriellen Produktion haben in die Krankenhäuser Einzug gehalten. So zum Beispiel die »just-in-time«-Anlieferung von Schutzmaterial und Desinfektionsmitteln, die in der aktuellen Krise zu lebensbedrohlichen Engpässen führt. Die Vergütung der Kliniken nach »Fällen« hat dazu geführt, dass diese stets bestrebt sind, die Kapazitäten so weit wie möglich auszulasten. Denn in der Logik der privatwirtschaftlichen Industrie sind Räume und Maschinen, die nicht im Einsatz sind, totes Kapital. Doch ein funktionierendes Gesundheitssystem braucht gerade das: ungenutzte Reserven, die im Falle von Krankheitswellen mobilisiert werden können. Diese fehlen jetzt.

Freilich fehlen nicht nur (Intensiv-)Betten und Schutzmaterial, sondern vor allem Pflegekräfte, Ärzt*innen, Reinigungskräfte und all die anderen Berufsgruppen, die ein funktionierendes Krankenhaus ausmachen. Insbesondere in der Pflege und im Servicebereich haben die Kliniken über viele Jahre hinweg rigoros Personal abgebaut, während die Fallzahlen zugleich exponentiell gestiegen sind. Die Folge der Arbeitsverdichtung ist, dass die Beschäftigten schon im Krankenhausalltag völlig überlastet sind. Bei zusätzlichen Belastungen droht der Kollaps.

Krise als Chance

In den kommenden Wochen werden die Beschäftigten der Kliniken alles geben, um den Zusammenbruch zu verhindern und Menschenleben zu retten. Doch danach werden sie mit Wucht einfordern, dass sich die Verhältnisse fundamental verändern. Bereits in den letzten Jahren haben es Klinikbelegschaften mit Protesten und Streiks geschafft, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen, die das neoliberale Projekt infrage stellt. In 17 Krankenhäusern haben die Beschäftigten Tarifverträge für mehr Personal und Entlastung durchgesetzt, teils mit wochenlangen Arbeitskämpfen. Spätestens seit der Bundestagswahl 2017 ist der Pflegenotstand in aller Munde. Aufgrund des öffentlichen Drucks musste selbst der rechte CDU-Mann Jens Spahn als Bundesgesundheitsminister Gesetze vorlegen, die die vollständige Finanzierung von Tariferhöhungen und zusätzlicher Pflegekräfte sowie die Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen beinhalten.

… in Zukunft das Leben vieler Menschen retten.

Ein staatliches Gesundheitswesen, das am Bedarf ausgerichtet ist und in dem privates Gewinnstreben nichts zu suchen hat – das wäre ein wichtiger Raumgewinn, der auch Veränderungen in anderen Bereichen befördern würde. Diesem ersten Zurückdrängen der Ökonomisierung könnten nun weitere, heftigere Schläge folgen. In diesem Sinne ist die Krise auch eine Chance. Gewerkschaften und Linke haben im Anschluss an die Corona-Krise sicher die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, wenn sie nicht nur mehr Personal und die Abschaffung des DRG-Systems fordern, sondern auch die Rücküberführung der privaten Krankenhauskonzerne wie Helios und Asklepios in öffentliche Trägerschaft.

Ein staatliches Gesundheitswesen, das am Bedarf ausgerichtet ist und in dem privates Gewinnstreben nichts zu suchen hat – das wäre ein wichtiger Raumgewinn, der auch Veränderungen in anderen Bereichen befördern würde. Und er würde jetzt und in Zukunft das Leben vieler Menschen retten.

Die Stimmen der Pflegenden

Krankenhausbeschäftigte haben seit Beginn der Corona-Krise eine Vielzahl von Appellen und Initiativen gestartet, mit denen sie unter anderem ausreichende Schutzausrüstung, die Beteiligung an den Krisenstäben und ein Ende der Ökonomisierung fordern.

»Nur wenn es zu einer transparenten und kooperativen Form der Zusammenarbeit zwischen allen Bereichen, allen Berufsgruppen und allen Ebenen kommt, werden wir diese Krise bewältigen können. Darum ist es zwingend erforderlich, dass
• ein stabiler und umsichtiger Krisenstab agiert. Dazu ist die Einbindung aller Fachdisziplinen, auch mit Vertreter*innen von der an der Basis arbeitenden Beschäftigten, unbedingt notwendig. (…)
• es sofort für alle, die dieser Situation standhalten, (…) eine verlässliche Zusage über eine staatlich finanzierte Gefahren- und Belastungszulage gibt.«
Aus einem offenen Brief der Teamdelegierten am Uniklinikum Jena, die im Oktober 2019 einen Tarifvertrag für mehr Personal und Entlastung durchgesetzt haben.

»Seit 20 Jahren sind die Krankenhäuser der Logik »Der Markt regelt das schon« unterworfen. Kostendruck und Profitorientierung haben dazu geführt, dass immer mehr Patient*innen in immer kürzerer Zeit mit weniger Personal versorgt werden mussten. Jetzt in der Covid-19-Krise rächt sich diese Politik besonders.«

Aus einer von der Berliner Kinderkrankenpflegerin Ulla Hedemann gestarteten Petition, die in der ersten Woche über 132.000 Menschen unterzeichnet haben: tinyurl.com/COVID19-MVP

Daniel Behruzi beschäftigt sich als freiberuflicher Journalist seit vielen Jahren mit dem Gesundheits- und Sozial­wesen.

Dieser Artikel ist erschiene im Magazin Lernen im Kampf Nr. 5

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