„Wir sollten eher mal zubeißen als Wunden lecken“
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Initiative für Covid-Reichensteuer

„Wir sollten eher mal zubeißen als Wunden lecken“

Von Miguel Urbán Crespo im Gespräch mit Éric Toussaint | 26.11.2020

Miguel Urbán Crespo, Abgeordneter im Europäischen Parlament, fordert eine europaweite Covid-Reichensteuer und einen teilweisen Schuldenerlass für europäische Staaten, um der aktuellen sozialen Krise zu begegnen.

Die Initiative für die Covid-Steuer stammt von Anticapitalistas, der Sektion der Vierten Internationale im Spanischen Staat. Mitglied Miguel Urbán Crespo betont, seine Sektion sei lange genug in der Defensive gewesen. Jetzt sollten die Reichen endlich zur Kasse gebeten werden. Denn die Politik auf europäischer Ebene und in den Nationalstaaten habe viel zu lange bewirkt, dass sich immer mehr Vermögen bei den Superreichen konzentriere. Das Gespräch führte Éric Toussaint.

Die Souveränität der Völker Südeuropas wurde de facto außer Kraft gesetzt.

Was ist das Ziel der Initiative für eine europäische Covid-Steuer und welche Staaten spielen hier eine besondere Rolle?

In den letzten zehn Jahren haben wir gesehen, wie Banken von den europäischen Institutionen und nationalen Regierungen gerettet wurden. Während hingenommen wurde, dass Millionen von Familien bankrottgingen, wurden die Völker Südeuropas einer regelrechten neoliberalen Schocktherapie und Eingriffen und in ihre Wirtschaft unterworfen; damit wurde ihre Souveränität de facto außer Kraft gesetzt. Diese zehn Jahre waren für die Volksklassen ein verlorenes Jahrzehnt, für die Großkonzerne aber eine Zeit der Gewinne, in der sie ihre Profite und ihre Macht weiter steigern konnten. Es war eine Zeit, die durch die Kombination von Knappheit und Ungleichheit gekennzeichnet ist, wobei die Lohneinbußen zugunsten des Kapitals besonders ins Auge stechen. Es war eine Zeit der beschleunigten Oligarchisierung der Macht, ein Phänomen, das gleichzeitig Ergebnis, Ursache und Dreh- und Angelpunkt des neuen historischen Zyklus ist, den Europa im Allgemeinen und Spanien im Besonderen durchlaufen.

Das ist ein europäisches Projekt der Ungleichheit, ein Projekt der Millionär*innen auf Kosten von Millionen armer Menschen.

Steuerhinterziehung und Steuerflucht von Leuten mit großen Vermögen und von multinationalen Konzerne stehen im Zentrum sowohl der schwindelerregenden Zunahme der Ungleichheit weltweit als auch der zunehmenden finanziellen Engpässe der Staaten. Die Wirtschaftsarchitektur der EU fördert im Rahmen des freien Kapitalverkehrs und ohne Steuerharmonisierung intern grundverschiedene Steuersysteme und begünstigt so eine permanente steuerliche Abwertung. In gleicher Weise verfügt sie über eigene Offshore-Strukturen und einen ordnungspolitischen Rahmen, dessen Unebenheiten, freizügiger Charakter und Schattenanreize diese Umgehung und das Vermeiden von Steuerzahlungen begünstigen; das kommt de facto nur dem Großkapital, den Rentiers und den reichsten Familien zugute, zum Nachteil der weniger reichen Mehrheiten. Das ist ein europäisches Projekt der Ungleichheit, ein Projekt der Millionär*innen auf Kosten von Millionen armer Menschen.

Die zunehmende Konzentration von Einkommen und Vermögen war sowohl eine Konsequenz der Krise als auch Ursache und Motor der Krise, aus der wir noch nicht herausgekommen sind, während wir die nächste schon heraufziehen sehen. Die Wirtschaftspolitik, die von den Institutionen der Union und den Regierungen der Mitgliedstaaten angewandt wird, hat zu einer massiven Umverteilung der Ressourcen von unten nach oben geführt. Also fand eine Sozialisierung der Verluste statt ‒ vor, während und nach der Krise. Und was jetzt, mit der kommenden Krise?

Wenn wir wollen, dass es diesmal anders läuft, müssen wir dieser Revolte der Privilegierten entschlossen entgegentreten: dieser Handvoll von Multimillionär*innen und den multinationalen Konzerne, die sich weigern, Steuern zu zahlen, die mit der Komplizenschaft der Regierungen und der großen Parteien einen regelrechten Steuerterrorismus praktizieren, während sie gleichzeitig diejenigen diffamieren und direkt bedrohen, die ihre Praktiken der Hinterziehung anprangern.

Das ist das Hauptziel der Covid-Steuer: in die öffentlichen Debatten über den Wiederaufbau nach Covid mit einem konkreten Vorschlag einzugreifen.

Denn die sich abzeichnende soziale Pandemie anzugehen, heißt den Kampf gegen die Ungleichheit, das heißt gegen all die zunehmenden, vielfältigen und miteinander verbundenen Ungleichheiten aufnehmen, in eine Realität eingreifen, die Quelle und Spiegelbild dieser Ungleichheit sind ‒ wie Steuerpolitik, Prekarität, Austerität oder Unternehmermacht. Kurzum, es geht darum, die Umverteilung von Reichtum und von Ressourcen als zentrale Achse eines ökosozialistischen Programms wieder in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen. Das ist das Hauptziel der Covid-Steuer: in die öffentlichen Debatten über den Wiederaufbau nach Covid mit einem konkreten Vorschlag einzugreifen, der die Verteilung des Reichtums als zentrales Element gegen die vorherrschende neoliberale Logik; in der öffentliche Debatte wird bisher nur über das Modell Verschuldung als einziger Weg zur Erhöhung der Ausgaben diskutiert. Auf europäischer Ebene greift die Covid-Steuer genau in die Debatte über die Vergemeinschaftlichung der Schulden oder nicht und über die Finanzierung des Wiederaufbaufonds ein, damit wird eine konkrete Initiative auf europäischer Ebene vorgeschlagen, die aus einer umverteilenden, unterstützenden und internationalistischen Perspektive mit der ganzen Architektur der EU kollidiert. Es ist ein Weg, um die EU herauszufordern, aber auch um ein anderes Europa aufzubauen, ausgehend von der Mobilisierung für einen konkreten Vorschlag; diese Mobilisierung sollte nicht dabei stehen bleiben, sondern sollte ein gesellschaftliches Sofortprogramm zur Bewältigung der Krise entwickeln.

Von Anticapitalistas aus haben wir im Spanischen Staat die Idee einer Covid-Steuer lanciert, im Rahmen einer breiteren Kampagne mit dem Titel „¡Que Paguen los Ricos!“ (Die Reichen sollen zahlen!), in der wir uns mit Fragen der Besteuerung und Verteilung des Reichtums, der Verstaatlichung strategischer Sektoren der Wirtschaft, der Verteilung der Arbeit und der Verkürzung der Arbeitszeit sowie der Änderung des Produktionsmodells befassen. Dass wir eben mit der Covid-Steuer angefangen haben, hat es uns ermöglicht, die Notwendigkeit der Verteilung des Reichtums in die öffentliche Debatte und in die gesamte Linke im Spanischen Staat einzubringen. Auf diese Weise hat sich die gesamte Linke die Idee mit unterschiedlichen Formulierungen angeeignet, so dass sogar die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei, die PSOE, [die spanische Sozialdemokratie], gezwungen war, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich gegen die verschiedenen Vorschläge für Steuern auf große Vermögen und Unternehmensgewinne zu stellen.

Es ist an der Zeit, die Verteilung von Reichtum und der Arbeit als zentrales Element der politischen Diskussion auf den Tisch zu legen.

Die Bedeutung der Besteuerung der Reichen und der großen Unternehmen dürfte allen klar sein, aber warum sollte man im Einzelnen auf einen Prozentsatz eingehen?

Wir befinden uns seit drei Jahrzehnten in der Defensive. Gerade weil wir uns in einem Prozess der Neukonfigurierung befinden, müssen wir klar Stellung nehmen. Wir sollten eher mal zubeißen als Wunden lecken. Die neoliberalen Konsense werden heute vielfach in Frage gestellt. Es ist an der Zeit, eine Schockdoktrin gegen die Eliten und zugunsten derer unten zu verabreichen. Es ist an der Zeit, die Verteilung von Reichtum und der Arbeit als zentrales Element der politischen Diskussion auf den Tisch zu legen; offen zu fragen, wer für die nächste Krise bezahlen wird; auf die Revolte der Privilegierten hinzuweisen, die sich berechtigt fühlen, keine Steuern zu zahlen oder ihren Reichtum in Steuerkloaken zu verstecken. Aber dieses Fenster wird nicht lange offen bleiben. Wir haben ja bereits erlebt, wie lange die Versprechungen von Sarkozy und Co. gehalten haben, als die 2008 von der „Neugründung des Kapitalismus“ geredet haben, und wie sich das am Ende in eine verrückte Version derselben Politik, die uns ins Desaster geführt hatte, niedergeschlagen hat.

Nur so können wir sicherstellen, dass die Krise dieses Mal nicht von den Volksklassen bezahlt wird.

Deshalb haben wir gesagt, wir brauchen mehr als Slogans oder Manifeste über die Krise und die Alternativen dazu. Aber es ist auch ein konkretes, fundiertes, der gebotenen Eile entsprechendes und nützliches Instrument, ein Instrument, das hoch hinaus will: so hoch, dass es das Modell des neoliberalen Europas in Frage stellt oder, was praktisch dasselbe ist, dass es die zunehmende Hortung aller Ressourcen durch eine gefährliche Minderheit in Frage stellt. Im Kampf für dieses andere Europa, von dem wir so viel sprechen, wird der Kampf gegen die Ungleichheit und die Verteilung des Reichtums im Mittelpunkt stehen. Es liegt auf der Hand, dass die Umsetzung solch einer europäischen COVID-19-Notfallsteuer für diesen Kampf nicht ausreichen wird. Die Herausforderung ist viel umfassender. Aber irgendwo muss man anfangen. Und vielleicht ist es an der Zeit, konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen. Wir müssen den Kampf um die Verteilung des Reichtums in den Mittelpunkt der Debatte und des politischen Handelns stellen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Krise dieses Mal nicht von den Volksklassen bezahlt wird. Dieses Mal sollen die Reichen zahlen. Das ist die große Idee, die den Rest nach sich ziehen kann. Die Prozentsätze sind technische Fragen, sie sind zweifellos wichtig, aber sie mobilisieren nicht.

Wie stehst Du zu der Frage, was in Bezug auf die Steuerparadiese zu tun ist?

Steuerhinterziehung und Steuerumgehung sind keine isolierten oder vorübergehenden Fälle: Es handelt sich um ein strukturelles Phänomen des liquiden Kapitalismus unserer Zeit, das eng mit der neoliberalen Offensive verbunden ist, die unsere Volkswirtschaften seit Jahrzehnten heimsucht. Ein Geflecht der Steuervermeidung und -hinterziehung, das ohne ein Netz von Steuerverstecken abseits der Orte, wo es Steuerverpflichtungen gibt, nicht funktionieren könnte. Ich sage „Verstecke“, wenn nicht direkt „Kloaken“, denn da von „Steuerparadiesen“ zu sprechen, hieße die Wortwahl der gleichen gefährlichen Minderheit zu akzeptieren, für die dies paradiesische Orte sind. Dank dieser Orte, an denen die „Lex mercatoria“ Vorrang vor allen anderen Rechten hat, dank kreativer Buchführung und dank juristischer Schlupflöcher hat eine Handvoll von Privilegierten zahlreiche Schlupflöcher gefunden, um einen wesentlichen Teil ihres Vermögens zu verstecken oder zu verbergen. Und heute leckt das gesamte System aus diesen Rissen. Sämtliche Untersuchungen zeigen, dass es noch nie so viel Geld in Steuerverstecken gab wie heute.

Der Kampf gegen diese Steuerkloaken sollte heute ein zentrales Element im Kampf gegen die Ungleichheit und für die Demokratie sein. Diesen Kampf können wir mit der Umsetzung einer Reihe konkreter Maßnahmen beginnen, die das Problem in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Handlungsebenen an der Wurzel packen:

  • Die Liste der Drittstaaten, die in Steuerfragen nicht kooperieren, müsste im Rahmen der EU überprüft und modifiziert werden (z. B. nach den Kriterien des Europäischen Parlaments oder von sozialen Organisationen wie Oxfam, Tax Justice Network oder der Technikergewerkschaft des spanischen Finanzministeriums Gestha). Damit würde ein reales für die gesamte EU geltendes Verzeichnis der Steueroasen geschaffen, anstelle der früheren nationalen Verzeichnisse, die von einigen Staaten erstellt wurden, oder der gegenwärtigen Liste der Europäischen Kommission; die sollte ja eigentlich eine schwarze Liste sein, ist aber letzten Endes eine Liste zum Weißwaschen von Steuerparadiesen. Nur ein einziges der 15 Steuerparadiese, die von multinationalen Unternehmen am häufigsten genutzt werden, taucht in der Zusammenstellung der Kommission auf. Eine wahrheitsgetreue Liste der Steuerverstecke, die auch diejenigen enthält, die sich innerhalb der EU befinden und betätigen, wäre ein notwendiger erster Schritt, um diejenigen kommerziell und wirtschaftlich zu isolieren, die diesen steuerlichen Rahmen fördern und/oder davon profitieren, um diejenigen zu sanktionieren, die in ihnen tätig sind, und um die Großbanken und die mitschuldigen Vermittler gründlich unter die Lupe zu nehmen, die das Bankgeheimnis ausnutzen (das ebenfalls beseitigt werden sollte) und systematisch jede standardisierte Sorgfaltspflichtpraxis zu überspringen, um Steuerhinterziehung und -umgehung zu einem lukrativen Geschäft zu machen. Und damit diese Maßnahmen auf Dauer Bestand haben, müssten abschreckende Sanktionen verhängt werden, einschließlich des Entzugs von Banklizenzen. Darüber hinaus ist es unerlässlich, eine homogene Buchhaltungsregelung anzuwenden, die die multinationalen Unternehmen zwingt, relevante Wirtschaftsinformationen gegliedert nach ihrer Geschäftsbasis und tatsächlicher Aktivität pro Land vorzulegen, so dass sie in jedem Territorium auf der Grundlage von Personal, physischem Kapital und effektiven Gewinnen, die darin erzielt werden, besteuert werden können und so dass Missbrauch durch Verrechnungspreise unterbunden wird.
  • Zweitens ‒ und als Plan B für den Fall, dass die EU sich weigert, die in ihr operierenden Steuerverstecke zu sanktionieren, leider ein sehr wahrscheinliches Szenario ‒ könnten Handelssanktionen zwischen einigen Mitgliedsstaaten für Länder eingeführt werden, die als Steueroasen operieren, angefangen mit den Niederlanden oder Luxemburg und weiter mit der Schweiz. Mit einem festen Bündnis mehrerer südeuropäischer Länder könnten diese Staaten gezwungen werden, das Bankgeheimnis aufzugeben und steuerlich zu kooperieren, mit dem Argument, dass die Verluste, die sich aus dieser Änderung der Praktiken ergeben würden, geringer wären als die Verluste, die sich aus Handelssanktionen ergeben, die in dem Fall verhängt würden, dass sie nicht kooperieren.

Wir müssen auch auf staatlicher Ebene handeln. Während die EU beschließt, ihre schwarze Liste der Steuerparadiese zu aktualisieren, könnte der Spanische Staat in dieser Hinsicht Fortschritte machen, indem er die gleichen, oben genannten Kriterien befolgt und so dazu beiträgt, ein Beispiel zu geben und andere Länder ermutigt sich anzuschließen. Dies würde ein Verbot von staatlichen Hilfen für Unternehmen, die in Steuerverstecken tätig sind oder dort Tochtergesellschaften und/oder Niederlassungen haben, implizieren und möglich machen. Ebenso könnten Steuerhinterziehung und -umgehung zu den Kriterien gehören, die ein Unternehmen daran hindern würden, sich an öffentlichen Beschaffungsprozessen zu beteiligen; diese Maßnahme könnte auf die regionale und die kommunale Ebene übernommen werden. Eine weitere denk- und machbare Maßnahme wäre das gesetzliche Verbot von Steueramnestien. Und schließlich könnten, um die Liste von Vorschlägen fortzusetzen, die einer Regierung, die behauptet, sie eine „Regierung der Veränderung“ zu sein [bezieht sich auf die gegenwärtige Regierung in Madrid, die von PSOE und Unidos bzw. Unidas Podemos gestellt wird, d. Übers.], zur Verfügung stehen: Es können Sanktionen für Banken und Finanzvermittler*innen eingeführt werden, die in diesen extraterritorialen Gebieten als Vermittler*innen und/oder Nutznießer*innen von Steuerhinterziehung und -umgehung tätig sind.

Aber es wäre naiv und unverantwortlich, wenn die Zivilgesellschaft alles dem Handeln von Institutionen anvertrauen würde, um die Geißel der Steuerhinterziehung, -umgehung und -vermeidung oder Steueroasen zu bekämpfen. Dies gilt umso mehr, wenn das Wenige, das bisher erreicht wurde, auf journalistische Lecks und Skandale zurückzuführen ist ‒ Skandale, an denen eine politisch-wirtschaft­liche Klasse beteiligt ist, die keine Drehtüren mehr braucht, um ihr gemeinsames Loft zu verbinden. Um zu verhindern, dass mit einer Handvoll kosmetischer Maßnahmen versucht wird, den Gestank zu überdecken, der aus diesen Kloaken aufsteigt, ist es unerlässlich, dass in diesem Kampf die Zivilgesellschaft die Führungsrolle übernimmt und sich entschlossen für Steuergerechtigkeit und die Umverteilung des Reichtums mobilisiert, mit Kampagnen, in denen diese Unternehmen und Multimillionär*innen benannt und durch die sie boykottiert werden. In diesem Sinne ist die Kampagne zur Besetzung der Apple-Märkte, die Attac Frankreich vor einigen Jahren durchgeführt hat, ebenso interessant wie inspirierend. Proteste gegen und Anprangern von Firmen, Beratungsfirmen und Banken, die als notwendige Vermittler bei der Steuervermeidung und -hinterziehung tätig sind, würden dazu beitragen, das Unternehmensimage dieser multinationalen Konzerne zu schädigen, das gerade in diesen Zeiten des liquiden Kapitalismus einen ihrer wichtigsten Aktivposten darstellen.

Die Verschuldung bleibt eines der Schlüsselelemente für das Verständnis der EU-Krise.

Was sagt der Aufruf zum Thema Schulden?

Wir wissen, dass der medizinische, soziale und wirtschaftliche Notstand wegen der Coronavirus-Pan­demie eine dringende und sofortige Reaktion erfordert. In der Tat wurden bereits Milliarden von Euro für diesen Zweck mobilisiert, was eine für die Staaten unerschwingliche Verschuldung anschwellen ließ und die Kapazitäten zur Bewältigung dieser Situation schmälert. Aus diesem Grund halten wir es für unerlässlich, dass die Europäische Zentralbank (EZB) den Mitgliedstaaten alle Schulden erlässt, die zur Bekämpfung der Ursachen und Auswirkungen der Pandemie bestimmt sind, oder, falls dies nicht möglich ist, dass sie in „Dauerschulden“ umgewandelt werden, die nichts mit den laufenden Haushalten zu tun haben. In der Zwischenzeit und als eine Art Druckmittel für die Durchführung dieser Maßnahme schlagen wir die einseitige Nichtzahlung durch die Staaten sowie ein Bürger-Audit der gesamten Schulden vor, im Hinblick darauf, dass der illegitime Anteil abgelehnt wird. Die Verschuldung bleibt eines der Schlüsselelemente für das Verständnis der EU-Krise. Sie ist für die Länder des Südens eine echte Zwangsjacke, mit der wir unbedingt Schluss machen müssen, wenn wir Europa verändern wollen.

Wer sind die Unterzeichner und Unterzeichner*innen?

Es gibt 45 Erstunterzeichner*innen des Manifests ‒ Persönlichkeiten aus der gewerkschaftlichen, sozialen, politischen und intellektuellen Welt verschiedener europäischer Länder. Unter den Namen finden wir zum Beispiel Susan George, Eric Toussaint, Christophe Aguiton und Eleonora Forenza [Partito della Rifondazione Comunista, seit 2014 MdEP für „L’Altra Europa con Tsipras“]. Seit der Bekanntgabe haben wir Dutzende von neuen Unterschriften aus verschiedenen Ländern und Politikbereichen erhalten. Die nächsten Schritte bestehen darin, dass wir uns um die Unterstützung von Organisationen und der breiten Öffentlichkeit bemühen. Und abgesehen von den Namen und der Anzahl der Unterschriften ist das Echo, das wir aus Ländern in Nordeuropa erhalten, wichtig; viele davon gelten als „genügsam“, so dass wir dazu beitragen, die falsche Nord-Süd-Teilung Europas zu durchbrechen; damit werden die gemeinsamen Interessen der Eliten aller Länder verborgen gehalten; dem gegenüber gibt es die Notwendigkeit von Brücken und einer gemeinsamen Agenda, die wir für die Volks- und die arbeitenden Klassen von den vier Himmelsrichtungen Europas aus aufstellen müssen.

Habt ihr einen Zeitplan?

Im Laufe des Sommers werden wir die zweite Phase der Unterschriftensammlung abschließen. Danach werden wir beurteilen, wie wir weiter vorgehen, je nachdem, wie es mit der Unterstützung und der gesundheitlichen Situation aussieht. Die Idee wäre, im Herbst irgendeine Art von Treffen vorzuschlagen, ob eine Präsenzversammlung oder eine Videokonferenz, um gemeinsam weiter voranzukommen und Beziehungen zwischen Organisationen und Räumen, in denen gekämpft wird, anzuknüpfen.

Welche Rolle spielst Du als antikapitalistischer Europaabgeordneter im Europäischen Parlament?

Meine Funktion besteht zuerst mal darin, festzustellen, dass es in dem Europäischen Parlament und in den europäischen Institutionen allgemein in vielen Fragen einen enormen und soliden Konsens gibt, und bescheiden, aber entscheidend dazu beizutragen, dass er gebrochen wird: einen Konsens unter manchem anderen über die Rolle Europas in der Welt, darüber, dass die Wirtschaft oder die Gesellschaft anders als mit Marktmechanismen nicht vorstellbar ist, oder über die vermeintlichen Werte, mit denen die EU die Menschheit über ihr außenpolitisches Handeln „beglückt“. Die Große Koalition von Sozialliberalen und Christdemokraten, die im Europäischen Parlament und den meisten europäischen Ländern traditionell gemeinsam regiert, hat sich heutzutage um die Liberalen und einen großen Teil der Grünen erweitert, während sie der reaktionären Rechten, die immer euro-reformistischer wird, die Hände ausstreckt. All dies bildet einen Machtkern, der sehr robust ist und perfekt auf einer Wellenlänge mit den übrigen wirtschaftlichen und politischen Eliten in Europa liegt. Meine erste Aufgabe besteht darin, aus dem Gehege auszubrechen, mit dem versucht wird, unsere statistisch gesehen minderheitlichen Positionen noch mehr in die Minderheit zu drängen. Das Problem ist, dass es selbst innerhalb der Linken diejenigen gibt, die der Meinung sind, dass dies durch die Integration um jeden Preis in den Konsens dieses extremen Zentrums der neoliberalen Großen Koalition zu erreichen sein soll.

Sich der eigenen Minderheitsposition bewusst zu sein, ist wesentlich, um den Sitz im Parlament nicht zum Selbstzweck zu machen…

Meine zweite Rolle, und das ist für jeden Antikapitalisten, jede Antikapitalistin in gleich welcher Institution üblich, besteht darin, nicht dem Charme und den Gefahren einer Institution wie dem Europäischen Parlament zu erliegen. Nicht nur wegen des Risikos, es sich bequem zu machen oder sich von dem Klassismus, dem Zynismus und der Arroganz anstecken zu lassen, die diese Institution kennzeichnen und gegen die man sich tagtäglich impfen lassen muss, sondern weil die reale Gefahr besteht, dass man in das parlamentarische Spiel hineingezogen wird, weil man denkt, das sei das Wichtigste, und weil man den Großteil der knappen Ressourcen verwendet, die müssen jedoch an anderen Fronten eingesetzt werden. Sich der eigenen Minderheitsposition bewusst zu sein, ist wesentlich, um den Sitz im Parlament nicht zum Selbstzweck zu machen, sondern vielmehr zu einem Hebel, um innerhalb, vor allem aber außerhalb des Parlaments zu wirken, angetrieben von Vorschlägen und Bewegungen, die frontal mit der Logik und den Interessen der real existierenden EU kollidieren.

Wie stellst du dir das vor?

Zunächst einmal muss die Frage im Plural formuliert werden, und damit die Antwort auch: Als Anticapitalistas und als internationale Strömung verstehen wir die institutionelle Arbeit als eine weitere Front, wichtig, aber nicht unabdingbar, und besonders steril, wenn sie nicht von einer organisierten und kämpfenden sozialen Bewegung außerhalb der Institutionen unterstützt wird. Diese Kämpfe zu begleiten, sie zu unterstützen und von ihnen zu lernen, politische und soziale Aktionen zur Sprache zu bringen oder zu ihrem Aufschwung beizutragen ‒ das ist ein grundlegender Teil unseres Konzepts der institutionellen Arbeit und unserer Rolle darin. Darüber hinaus bietet eine Institution wie das Europäische Parlament zwei weitere interessante Elemente: eine erweiterte territoriale Perspektive auf europäischer Ebene und eine zeitliche Perspektive, die es möglich macht, von einigen Angriffen des Kapitals, die sich in Kürze auf nationaler und lokaler Ebene auswirken werden, im Vorhinein etwas mitzubekommen. Eine Präsenz in dieser Institution ist nützlich, um andere Akteure und Akteurinnen ausfindig zu machen, Allianzen zu bilden und den Boden für neue Kampffelder vorzubereiten.

Geht die Beteiligung von Unidas Podemos an der Regierung Sánchez nach dem Scheitern der Strategie des Führungskerns von Syriza in Griechenland in die gleiche Richtung? Oder ist sie anders?

Die griechische Erfahrung ist die große politische Lektion der letzten Zeit oder sollte das sein. Wir können in der Tat eine Wasserscheide innerhalb der europäischen Linken ausmachen, je nachdem, wie sie die Regierungserfahrung von Syriza damals und seither interpretiert und wie sie sich dazu positioniert hat. Die grundlegenden strategischen Meinungsverschiedenheiten, an denen sich letztlich unser Ausstieg als Anticapitalistas aus Podemos festgemacht hat, stehen mit den Diskussionen, die wir bereits während der Situation in Griechenland im Jahr 2015 geführt haben, in engem Zusammenhang. Im spanischen Fall waren wir als Anticapitalistas sehr deutlich, dass der Eintritt als Minderheit in eine vom Sozialliberalismus geführte Regierung mit vielen, vor allem aber diesen drei Risiken verbunden ist:

  1. Wiederbelebung der PSOE als Akteur des Wandels, obwohl der 15M-Zyklus als eine seiner Hauptachsen die Infragestellung der Zweiparteienherrschaft und ihrer Politik hatte, von der die PSOE ein Grundpfeiler und die große „Staatspartei“ im Spanischen Staat ist;
  2. Alterung und Entaktivierung von Podemos als transformatorische Kraft, indem sie sich auf den institutionellen Bereich beschränkt und der Mehrheit der sozial-liberalen Regierung unterwirft;
  3. Übertragung des Monopols auf Opposition und der potentiellen Kanalisierung der Unzufriedenheit, die sich aus der Bewältigung der neuen Krise ergeben, die bereits da ist, auf die Rechte und die extreme Rechte. Es wäre einfacher gewesen, die Bildung einer Minderheitsregierung der PSOE von außen zu unterstützen und innerhalb und außerhalb des spanischen Parlaments weiter mit den Bewegungen und ohne die Verpflichtungen, wie sie sich derzeit aus der Zugehörigkeit zur Regierung ergeben, Widerstand zu leisten.

Ihr habt auch eine Kampagne für die Verstaatlichung verschiedener strategischer Sektoren gestartet. Welche sind das? Big Pharma, Energie, Banken, Andere?

Diese Pandemie hat die Schändlichkeiten des Kapitalismus offenbart. Es hat sich gezeigt, wie unzulänglich der Kapitalismus ist, um die Herausforderung zu bewältigen, die Volksklassen zu schützen und Leben zu retten. Es ist an der Zeit, die Folgen der jahrelangen fortgesetzten Kürzungen im öffentlichen Bereich zu analysieren. Das Recht auf Gesundheit ist durch die neoliberale Politik beschnitten worden. Und die Kosten dieser Pandemie sind nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern belaufen sich vor allem auf Hunderttausende von Menschenleben.

Europa braucht eine Re-Industrialisierung, die mit einem Wandel zu einem sozial und ökologisch gerechten Produktionsmodell einhergeht.

Die Pandemie hat auch bloßgelegt, wie nackt der „König“ des europäischen Neoliberalismus dasteht. Inmitten einer viralen Krise haben wir gesehen, dass es in Europa als Folge jahrelanger Verlagerungen und De-Industrialisierung keine Möglichkeit gab, die notwendige Notfallausrüstung zur Bekämpfung von Covid-19 herzustellen. Europa braucht eine Re-Industrialisierung, die mit einem Wandel zu einem sozial und ökologisch gerechten Produktionsmodell einhergeht. Die Wirtschaft muss im Dienste des Lebens stehen und darf nicht die privaten Profite mästen. Das ist zweifellos eine der großen Lehren aus dieser Krise. Dazu brauchen wir die Verstaatlichung strategischer Sektoren unter gesellschaftlicher Kontrolle, um das Gemeinwohl zu sichern. Aus diesem Grund haben wir als Anticapitalistas eine Agitations- und Propagandakampagne für die Verstaatlichung strategischer Sektoren und eine Änderung des Produktionsmodells gestartet, mit verschiedenen konkreten Vorschlägen, wie für die Werke, die Nissan in Katalonien schließen will.

Der Kapitalismus befindet sich in einer langen depressiven Welle, die von durch eine Krise der Rentabilität verursacht wird, deren Hauptursache wiederum der Abwärtstrend der Profitrate ist. Angesichts dieser permanenten Schwierigkeit, einen Aufschwung zu erreichen, sucht der Kapitalismus, wie er es systembedingt tut, einen Ausweg durch die Intensivierung der Ausbeutung der Menschen und der Natur, mit einem Prozess der permanenten Entwertung der Arbeit und der Beschädigung der Biosphäre. Daher wird die ökologische Krise einem kapitalistischen Entwicklungsmodell neue Grenzen setzen, das geschieht ja bereits; sie wird aber auch den Transformationszyklen und ihren Strategien neue Grenzen setzen. Deswegen ist es unerlässlich, einen neuen solidarischen und kämpferischen Internationalismus zu entwickeln, der ein ökosozialistisches Projekt aufbauen kann, das sich ausgehend von unterschiedlichen Kontexten und regionalen Besonderheiten der gemeinsame Herausforderung stellt und ein postkapitalistisches Szenario angeht.

Aus dem Spanischen und Englischen übersetzt von Michael und Wilfried

Auf Spanisch:
https://cadtm.org/La-pandemia-ha-desnudado-al-rey-del-neoliberalismo-europeo (27. Juli 2020)

Auf Englisch:
https://cadtm.org/The-pandemic-has-exposed-the-nakedness-of-European-neoliberalism
http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article6745 (27. Juli 2020)

Auf Französisch:
https://cadtm.org/La-pandemie-du-coronavirus-a-mis-a-nu-la-logique-neoliberale-de-l-UE (20.10.2020)

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