„Gripezinha“ ‒ das Grippchen und die Logik des Neofaschismus
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Bolsonaro und die Pandemie in Brasilien

„Gripezinha“ ‒ das Grippchen und die Logik des Neofaschismus

Von Michael Löwy | 04.06.2020

Für die Website des Global Ecosocialist Network, dessen fünfköpfigem internationalen „Steuerungskomitee“ er angehört[i], schreibt Michael Löwy über den Aufstieg der extremen Rechten weltweit und den neofaschistischen Albtraum im größten Land Lateinamerikas, in dem er aufgewachsen ist.

Eines der Phänomene der letzten Jahre, das am stärksten beunruhigt, ist der weltweite spektakuläre Aufstieg rechtsextremer, autoritärer und reaktionärer Regierungen, in einigen Fällen mit neofaschistischen Zügen: Shinzo Abe (Japan), Modi (Indien), Trump (USA), Orbán (Ungarn) und Bolsonaro (Brasilien) sind die bekanntesten Beispiele. Es ist nicht überraschend, dass mehrere von ihnen auf die Coronavirus-Pandemie absurd reagiert und die Gefahr dramatisch geleugnet oder unterschätzt haben. Dies war in den ersten Wochen bei Trump und bei seinem englischen Schüler Boris Johnson der Fall, der sogar vorschlug, die gesamte Bevölkerung mit dem Virus infizieren zu lassen, damit die „Herdenimmunität“ in der ganzen Nation wirksam werden könne ‒ natürlich auf Kosten einiger Hunderttausend Todesfälle. Doch angesichts der Krise mussten beide einen Rückzieher machen, und Boris Johnson wurde selbst schwer krank.

Eine brasilianische Besonderheit

Der Fall Brasilien ist deshalb besonders, weil Regierungschef Bolsonaro in seiner ablehnenden Haltung verharrt und das Coronavirus als „gripezinha“ (kleine Grippe) charakterisiert: eine Definition, die es verdient, in die Annalen aufgenommen zu werden ‒ nicht die Annalen der Medizin, sondern des politischen Wahnsinns. Aber dieser Wahnsinn hat seine Logik‒ die Logik des Neofaschismus.

Er ist weder Hitler noch Mussolini, und er hat nicht einmal die brasilianische Version des Faschismus als Bezugspunkt.

Der Neofaschismus ist keine Wiederholung des Faschismus der 1930er Jahre: Er ist ein neues Phänomen mit den Merkmalen des 21. Jahrhunderts. So nimmt er beispielsweise nicht die Form einer Polizeidiktatur an, sondern respektiert einige demokratische Formen: Wahlen, Parteienpluralismus, Pressefreiheit, Existenz eines Parlaments usw. Natürlich versucht er, diese demokratischen Freiheiten so weit wie möglich mit autoritären und repressiven Maßnahmen einzuschränken. Er stützt sich auch nicht auf bewaffnete Stoßtruppen wie die deutsche SS oder die italienischen „fasci“ (Kampfbünde).

Das gilt auch für Bolsonaro: Er ist weder Hitler noch Mussolini, und er hat nicht einmal die brasilianische Version des Faschismus in den 1930er Jahren, den „integraliso“ von Plínio Salgado [1895‒1975], als Bezugspunkt. Während der klassische Faschismus für massive staatliche Eingriffe in die Wirtschaft eintrat, identifiziert sich Bolsonaros Neofaschismus voll und ganz mit dem Neoliberalismus und zielt darauf ab, eine sozioökonomische Politik zugunsten der Oligarchie durchzusetzen, ohne irgend­etwas von den „sozialen“ Ansprüchen des alten Faschismus.

Eines der Ergebnisse dieser fundamentalistischen Version des Neoliberalismus ist die Demontage des brasilianischen öffentlichen Gesundheitsdienstes (Sistema Único de Saúde, SUS), der bereits durch die Politik der Vorgängerregierungen ziemlich stark geschwächt war. Unter diesen Bedingungen konnte die durch das Coronavirus ausgelöste Gesundheitskrise für die ärmsten Bevölkerungsschichten tragische Folgen haben.

Wenn Tausende von gefährdeten Menschen, so ist das der Preis, den man halt zahlen muss.

Ein weiteres Merkmal des brasilianischen Neofaschismus besteht darin, dass er trotz seiner ultranationalistischen und patriotischen Rhetorik dem amerikanischen Imperialismus wirtschaftlich, diplomatisch, politisch und militärisch völlig untergeordnet ist. Dies äußerte sich auch in der Reaktion auf den Coronavirus, als Bolsonaro und seine Minister Donald Trump imitierten und den Chinesen die Schuld an der Epidemie zuschrieben. Was Bolsonaro mit dem klassischen Faschismus gemeinsam hat, ist der Autoritarismus, die Vorliebe für diktatorische Regierungsformen, der Kult eines obersten Erretters der Nation, der Hass auf die Linke und auf die Arbeiterbewegung. Aber er ist nicht in der Lage, eine Massenpartei oder einheitliche Stoßtruppen zu organisieren. Auch ist er vorerst nicht in der Lage, eine faschistische Diktatur und einen totalitären Staat zu errichten, das Parlament zu schließen und Gewerkschaften und Oppositionsparteien über das Gesetz zu stellen.

Bolsonaros Autoritarismus zeigt sich in seiner Art und Weise, wie er mit der Epidemie umgeht, indem er versucht, gegen die Legislative, gegen die Regierungen der Bundesstaaten und gegen seine eigenen Minister*innen eine blinde Politik der Verweigerung minimaler gesundheitspolitischer Maßnahmen durchzusetzen, die unerlässlich sind, um die dramatischen Folgen der Krise zu begrenzen (Lockdown usw.). Seine Haltung weist auch Züge von Sozialdarwinismus auf (wie es für den Faschismus typisch ist): das Überleben des Stärkeren. Wenn Tausende von gefährdeten Menschen ‒ ältere Menschen mit schwachem Gesundheitszustand ‒ sterben, so ist das der Preis, den man halt zahlen muss: „O Brasil Não Pode Parar!“ (Brasilien kann nicht aufhören, darf nicht stoppen!)[ii]

Die Pandemie soll mit „Gebeten“ und „Fasten“ gestoppt werden.

Ein spezifischer Aspekt des bolsonaristischen Neofaschismus ist der Obskurantismus, die Verachtung der Wissenschaft, im Bündnis mit ihren bedingungslosen Anhänger*innen, den rückständigsten Sektoren des evangelikalen Neopentecostalismo [dritte Welle der Pfingstbewegung]. Diese Haltung, die der Theorie „die Erde ist eine Scheibe“ würdig ist, hat in anderen autoritären Regimen keine Entsprechung, selbst nicht in solchen, deren Ideologie religiöser Fundamentalismus ist (ISIS!). Max Weber unterschied Religion, die auf ethischen Prinzipien beruht, und Magie, den Glauben an die übernatürlichen Kräfte des Pastors. Im Fall von Bolsonaro und seinen neopentekostalen Pfarrerfreunden (Silas Malafaia, Edir Macedo usw.) geht es in Wirklichkeit um Magie oder Aberglauben: Die Pandemie soll mit „Gebeten“ und „Fasten“ gestoppt werden.

Obwohl Bolsonaro nicht in der Lage war, sein tödliches Programm als Ganzes durchzusetzen, kann womöglich ein Teil davon ‒ zum Beispiel eine Lockerung der Beschränkungen ‒ als Ergebnis der unvorhersehbaren Verhandlungen des Präsidenten mit seinen militärischen oder zivilen Minister*in­nen durchgesetzt werden.

Trotz des wahnhaften Verhaltens des üblen Charakters, der gegenwärtig im Palácio da Alvorada (dem Präsidentenpalast) wohnt, und der Bedrohung, die er für die öffentliche Gesundheit darstellt, unterstützt ihn immer noch ein bedeutender Teil der brasilianischen Bevölkerung in einem mehr oder weniger hohen Ausmaß. Jüngsten Umfragen zufolge bedauern 17 % der Wähler*innen, die für ihn gestimmt haben, ihre Wahl; und eine Mehrheit der Bevölkerung ist dagegen, dass er aus seinem Amt entfernt wird.

Welcher Preis zu zahlen sein wird:

Der Kampf der Linken und der brasilianischen Volkskräfte gegen den Neofaschismus steckt noch in den Kinderschuhen; es braucht mehr als ein paar nette Topfproteste, um diese Missbildung von politischer Formation zu besiegen. Gut, früher oder später wird sich das brasilianische Volk von diesem neofaschistischen Alptraum befreien. Aber welchen Preis wird es bis dahin zu zahlen haben?

Wenn es Bolsonaro gelänge, seine Politik durchzusetzen, wären 10 Millionen tote Brasilianer*innen die Folge.

Am 2. April gab Bolsonaro eine bedeutsame Erklärung ab: „70 % der Bevölkerung werden von Covid-19 kontaktiert werden, das ist unvermeidlich.“ Nach der Logik der „Herdenimmunität“ (die Trump und Boris Johnson ursprünglich empfohlen, später aber aufgegeben haben) könnte dies vielleicht wirklich geschehen. Aber es wäre nur „unvermeidlich“, wenn es Bolsonaro gelänge, seine Politik der Verweigerung von Eindämmungsmaßnahmen durchzusetzen: „Brasilien kann nicht aufhören.“

Was wären die Konsequenzen? Die Todesrate von Covid-19 in Brasilien liegt derzeit bei 7 % der Infizierten. Eine kleine arithmetische Berechnung führt zu dieser Schlussfolgerung: 1) Wären 70 % der brasilianischen Bevölkerung infiziert, so wären das 140 Millionen Menschen. 2) 7 % Letalität bedeutet bei 140 Millionen etwa 10 Millionen. 3) Wenn es Bolsonaro gelänge, seine Politik durchzusetzen, wären 10 Millionen tote Brasilianer*innen die Folge.

In der Sprache des Völkerrechts wird dies als Genozid (Völkermord) bezeichnet. Für ein Verbrechen dieser Art wurden 1946 mehrere nationalsozialistische Würdenträger von dem Gerichtshof in Nürnberger zum Tode durch den Strang verurteilt.

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wilfried Dubois

Quelle:
http://www.globalecosocialistnetwork.net/2020/05/21/gripenzinha-the-little-flu-neofascist-bolsonaro-in-the-face-of-the-pandemic/


[i] http://www.globalecosocialistnetwork.net/2019/12/22/steering-committee/

[ii] Zu der Regierungskampagne „#OBrasilNãoPodeParar!“ siehe beispielsweise https://www.telesurenglish.net/news/Federal-Judge-Bans-Bolsonaros-Brazil-Cannot-Stop-Campaign-20200328-0005.html.
Eine prägnante Zusammenfassung der Politik von Jair Bolsonaro, der am 1. Januar 2019 das Präsidentenamt antrat, zur Pandemie: https://en.wikipedia.org/wiki/Presidency_of_Jair_Bolsonaro#COVID-19_pandemic.

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