Lula muss gegen Bolsonaro in die Stichwahl
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Brasilien

Lula muss gegen Bolsonaro in die Stichwahl

Von Luís Leiria | 06.10.2022

Lula da Silva, Präsidentschaftskandidat der PT und eines breiten linken Wahlbündnisses, muss am 30. Oktober nun doch in die Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Bolsonaro. Die erforderliche absolute Mehrheit hat Lula, trotz enormer Stimmengewinne der Linken im Vergleich zu 2018, mit 48,3 % knapp verfehlt. Bolsonaro hingegen hat – entgegen aller Voraussagen, die ihn bei nur 36 oder 37 % sahen – mit 43,3 % überraschend und deutlich besser abgeschnitten.

Außer den 43,3% für Bolsonaro haben die Liberale Partei (PL) ‒ der er sich angeschlossen hatte, nachdem seine vorletzte Partei PSL sich gespalten hatte und eine neue Parteigründung gescheitert war ‒ sowie das rechtspopulistische Lager mehrere Senator:innen und sehr viele neue Kongressabgeordnete und mehrere Gouverneure gewonnen. Im Senat stellen die Bolsonarist:innen jetzt die stärkste Fraktion, im Kongress ist die PL mit 99 Abgeordneten vertreten, das entspricht rund einem Fünftel der Sitze.

Dieses Ergebnis zeigt: Der Bolsonarismus ist keine Eintagsfliege, er ist gekommen, um zu bleiben. Die brasilianische politische Landschaft hat sich – trotz der Erholung der Linken nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff (PT) – weiter nach rechts entwickelt. Frühere große gemäßigte bürgerliche Parteien wie PSBD oder MDB sind stark rückläufig. Sollte Lula die Stichwahl gewinnen, stellt sich die Frage, mit wem er in Kongress und Senat fortschrittliche Politik machen will und kann und ob die letzten Erfolge von linken Formationen in Lateinamerika sich mit Brasilien festigen können.

Im Folgenden bringen wir eine erste Einschätzung von Luis Leiria, die am 3. Oktober auf der Internetseite des portugiesischen Linksblocks veröffentlicht wurde.

H.D.


Analysiert man die regionalen Ergebnisse, so hat Lula im Norden knapp, im Nordosten haushoch gewonnen (mit einem Stimmenvorteil gegenüber Bolsonaro von 11 Millionen), aber im Südosten (der Region mit dem zahlenmäßig stärksten Wähleranteil des Landes und den Megastädten São Paulo und Rio de Janeiro sowie dem Bundesstaat Minas Gerais) knapp verloren sowie in Mitte-West (dem Zentrum der Großagrarier) sowie im Süden klar verloren. In der Tat ist es so, dass die Brasilianer:innen es dem notleidenden Nordosten zu verdanken haben, dass Bolsonaro an diesem Sonntag nicht wiedergewählt wurde.

Das Desaster von Ciro Gomes

Ciro Gomes von der PDT, der zum vierten Mal als Präsidentschaftskandidat angetreten war, sah seine Wahlunterstützung in den Wochen vor der Wahl sichtlich dahinschmelzen und landete mit etwas über 3 % auf Platz vier. Damit lag er auch hinter der Senatorin Simone Tebet von der MDB. Es war das schlechteste Ergebnis aller seiner Kandidaturen, bedingt durch taktisches Wahlverhalten seiner traditionellen Wählerschaft, aber auch durch sein Auftreten in der Endphase des Wahlkampfs, in der er immer schärfer Lula als seinen Hauptgegner angriff und sich Bolsonaro annäherte. Obendrein landete der Kandidat der PDT für den Gouverneursposten in Ceará [einer früheren Hochburg der PDT, d. Übers.] nur an dritter Stelle, während der Kandidat der PT bereits im ersten Durchgang die Wahl mit absoluter Mehrheit gewann.

Bolsonaristas sind gekommen, um zu bleiben

Die falschen Prognosen betreffen nicht so sehr das Abschneiden Lulas. Der frühere Präsident kam auf 48,3 % und verfehlte damit nur knapp die absolute Mehrheit. Die dramatischste Fehleinschätzung besteht darin, dass das Aufholen Bolsonaros in der Schlussphase nicht registriert wurde, dem lange Zeit nur 36 bis 37 % zugeschrieben worden waren. Sein Ergebnis liegt klar über den 2 %, die von den Instituten als statistische Schwankungsgröße eingeräumt werden. Außer dem Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl konnten die Bolsonaristas eine beeindruckende Widerstandskraft auf Länderebene unter Beweis stellen. Der Fall São Paulo ist schlagend. In diesem Bundesstaat, in dem die PSDB immer vorherrschend war, hat der frühere Infrastrukturminister der Regierung Bolsonaro, Tarcísio de Freitas, den Kandidaten der PT, Fernando Haddad, mit 42 zu 35 % der Stimmen überrundet, obwohl Haddad das beste Ergebnis eingefahren hat, das die PT in diesem Bundesstaat jemals erzielt hat. Beide gehen jetzt in die Stichwahl. Der Kandidat der PSDB, Rodrigo Garcia, ist mit nur 18 % aus dem Rennen.

T. de Freitas war ein Schachzug der Bolsonaristas. Aus Rio kommend, wurde er zum Gespött, weil er während einer Wahldiskussion noch nicht einmal sagen konnte, in welchem Wahllokal er seine Stimme abgeben würde. „In einer Schule“ lautete seine Antwort, weitere Einzelheiten konnte er nicht nennen. In São Paulo wurde auch der frühere Wissenschaftsminister der Regierung Bolsonaro, Marcos Freitas, zum Senator gewählt, dessen Profil vor allem darin besteht, dass er einmal als erster Brasilianer an einer Raumfahrt beteiligt war. Bei den Abgeordneten zum Bundesparlament konnten die Bolsonaristas erheblich zulegen, allerdings nicht mehr ganz so spektakulär wie 2018. So konnte Bolsonaros Sohn Eduardo, der 2018 noch als Abgeordneter mit den meisten Stimmen gewählt wurde, diesen Erfolg nicht wiederholen. Er verlor etwa die Hälfte seiner damaligen Stimmen und landete hinter Guilherme Boulos, dem führenden Mitglied der Wohnungslosenbewegung MTST und der linkssozialistischen PSOL, der mit über 1 Million Stimmen der Meistgewählte war.

Ex-Gesundheitsminister zum Abgeordneten gewählt

Das erschreckendste Beispiel ist indessen das Ergebnis von Rio. Dort wurde der amtierende Gouverneur Cláudio Castro von Bolsonaros PL bereits in der ersten Runde wiedergewählt. Castro hat das Amt seit zwei Jahren inne, nachdem er den Gouverneur Wilson Witzel ersetzt hatte. Dieser wurde amtsenthoben, weil er als Chef einer kriminellen Vereinigung Verträge seiner Regierung gefälscht hatte. Obwohl Castro seinerzeit Vize dieses Herrn war, konnte er mit 58 % den Linken Marcelo Freixo (PSB) mit leichter Hand schlagen. Dieser erhielt nur 27 %. In den Senat wurde der frühere Fußballnationalspieler Romário gewählt, der 29 % erhielt und Alessandro Molon von der PSB (21 %) schlagen konnte.

Aber geradezu unglaublich ist die Wahl des früheren Gesundheitsministers der Regierung Bolsonaro, General Eduardo Pazuello, der sich während der akuten Phase der Covid-19-Pandemie als vollkommen inkompetent erwies (Fehlen von Sauerstoff für die Krankenhauspatienten in Manaus, verspätete und desaströse Beschaffung von Impfstoff usw.). Er erhielt die zweitmeisten Stimmen in Rio.

Die Stichwahl wird heftig

Mensch braucht kein brillanter Analytiker zu sein, um zu sehen, dass die Stichwahlkampagne bis zum 30. Oktober heftig werden wird. Sie wird eine der heftigsten in der Geschichte. Bolsonaro hat verstanden, dass er sich mit dem Einzug in die Stichwahl einen Vorteil verschafft hat, der es ihm ermöglicht, Lula den Sieg noch streitig zu machen. So ist es kein Zufall, dass von Bolsonaros zahllosen Angriffen auf das elektronische Wahlsystem nichts mehr zu hören ist. Schließlich hat er das Ergebnis dank eines Systems, das er dermaßen verunglimpft hat, erzielt. In seinen ersten Erklärungen nach der Wahl versicherte er, dass man nun die Politik der Bundesregierung aus der Zeit vor der Pandemie deutlich machen werde und zitierte Wirtschaftszahlen. Im Übrigen habe man gewonnen, obwohl man sich gegen die Umfragelügen stemmen musste.

Lula betonte in seinen ersten Stellungnahmen nach dem Ergebnis der ersten Runde gegenüber seiner Basis, dass alle jetzt – wie im Fußball – in der Verlängerung die Chance nutzen müssten, um die Tore zu machen, die in der regulären Spielzeit nicht gefallen seien. Die politischen Bündnisse müssten erweitert und die programmatischen Aussagen angepasst werden.

Aus dem Portugiesischen übersetzt von Hermann Dierkes

Quelle: https://www.esquerda.net/artigo/brasil-bolsonaro-na-segunda-volta-com-lula/83149

Siehe auch: Marcelo Badaró Mattos „Lições do 1º turno: Balanço apressado antes da poeira baixar“ (3.10.2022), https://esquerdaonline.com.br/2022/10/03/licoes-do-1o-turno-balanco-apressado-antes-da-poeira-baixar/
Auf Französisch (mit Angaben zu Gouverneuren, die bei der ersten Runde gewählt wurden, usw.): http://alencontre.org/ameriques/amelat/bresil/bresil-les-lecons-du-premier-tour-une-evaluation-rapide-avant-que-la-poussiere-ne-retombe.html

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