Ein Desaster für Demokratie, Sozialstaat – und die Linke
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Parlamentswahl in Österreich

Ein Desaster für Demokratie, Sozialstaat – und die Linke

Von E.F., W.H. und P.S. (Wien/Tirol) | 30.09.2024

Die rechtsextremistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) unter Herbert Kickl erhielt laut vorläufigem amtlichen Endergebnis 29 % der Stimmen und wurde von 1,4 Millionen gewählt, also von fast doppelt so vielen Wähler:innen wie vor fünf Jahren. Damit haben die „Freiheitlichen“ ihr bestes Ergebnis seit ihrer Gründung 1955 erzielt; 2019 waren es noch 770.000. Woher kamen die Wähler:innen im Vergleich zur letzten Wahl für den Nationalrat (das Parlament der Bundesrepublik Österreich)? Stammwähler:innen: 76 % wählten erneut die FPÖ, 443.000 kamen von der ÖVP und 258.000 von den Nichtwähler:innen.

Die FPÖ wurde vor allem von Arbeiter:innen, Beschäftigten mit Lehrabschluss und ohne Abitur, der Altersgruppe 35 bis 59 Jahre und fast paritätisch von Frauen und Männern gewählt. Letzteres ist neu, Frauen hatten sich bei denen bisher eher zurückgehalten. Bei Älteren, Rentner:innen und Menschen mit Abitur oder Hochschulabschluss kam die Partei weniger gut an.

Wahlmotive waren vor allem die Unzufriedenheit mit der Corona-Politik, der Teuerung, insbesondere der Wohn- und Energiepreise, Verschlechterungen im Gesundheitssystem, Migration/Flüchtlinge (dieses Thema ist aktuell mit den Terrorangriffen verknüpft worden), aber auch die Themen Krieg und österreichische Neutralität.

Die FPÖ hat sich unter Herbert Kickl, ihrem „Bundesparteiobmann“ seit Juni 2021, deutlich radikalisiert und vertritt öffentlich Verschwörungsideologien (Corona), empfahl Pferdemedizin statt Impfungen, fordert „Remigration“ von Flüchtlingen, will eine Meldestelle für politisierende Lehrer:innen einrichten, den öffentlichen Rundfunk durch Streichung der Gebühren der Finanzierung berauben und sieht in Viktor Orbán in Ungarn ihr großes Vorbild. Sie hat auch eine wichtige Rolle bei der Umgruppierung der rechtsextremen Fraktionen im EU-Parlament gespielt, um Orbán ein Forum und eine Parlamentsfraktion zu bieten.

Sie vertritt eine scharf neoliberale Politik, verbrämt mit volkstümlichen Parolen für Steuersenkungen wie „mehr Netto vom Brutto“, was dem Sozialsystem die Finanzierung rauben würde. Ähnlich wie die AfD mimt sie die „Friedenspartei“, will die Energiepreise durch noch stärkere Importe von Gas aus Russland senken und verhält sich sehr verständnisvoll gegenüber Putins Krieg in der Ukraine. Klimaschutz hält sie wie viele Rechtspopulisten für Mumpitz. Kickl nennt sich gerne „Volkskanzler“ und will „Flüchtlinge in Lagern konzentriert halten“ – bewusst-provokante Anspielungen an Nazi-Sprachgebrauch. Die Identitären scheinen sich inzwischen als ideologische Kader der FPÖ etabliert zu haben, sie werden vom Parteichef als „wünschenswerte NGO“ charakterisiert.

Der Erfolg der FPÖ erklärt sich nicht aus besonderen Fähigkeiten ihres Parteichefs Kickl, sondern primär aus dem politischen Vakuum sowie der Rechtsentwicklung der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Die ÖVP hat seit Dezember 2021 in einer Koalition mit den Grünen den Bundeskanzler stellt. Die ÖVP übernimmt zunehmend Themen und teilweise auch Begriffe der Rechtsextremen. Sie will Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen in Lagern festhalten, hetzt gegen junge Klimaaktivist:innen und versucht, sie zu kriminalisieren, während sie vom „Autoland Österreich“ spricht. Vorstöße für neoliberale „Reformen“ und Verschärfung von elektronischer Überwachung sind bisher am Veto des grünen Koalitionspartners gescheitert.

Die ÖVP ist mit ihrem führenden Personal sowie auch als Partei mit schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen und einer Serie von Gerichtsprozessen aus der Zeit der Koalition mit der FPÖ unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (2017 bis 2019) konfrontiert. Sie verlor auch auf Grund ihres schlechten Corona- und Teuerungsmanagements, der Schwächung des (guten) öffentlichen Gesundheitssystems, schlechter Wirtschaftsdaten und unglaubwürdiger Politik mehr als ein Viertel ihrer Wähler:innen – ausgerechnet an die FPÖ (und an die Gruppe der Nichtwähler:innen).

Der ÖVP-Kanzler überraschte am Wahlabend mit der Aussage, dass er keine (allseits erwartete) Koalition mit der FPÖ unter Herbert Kickl eingehen will. Ob dies ernst gemeint oder nur ein taktisches Manöver gegenüber der Sozialdemokratie ist, um sie mit Scheinverhandlungen zu schwerwiegenden Zugeständnissen zu drängen, um dann plötzlich doch mit der FPÖ zu koalieren (wie schon unter Kanzler Schüssel in den Jahren 2000 bis 2006), ist heute noch nicht abzuschätzen.

Die Sozialdemokratie unter dem neuen, selbstbewusst-kämpferisch auftretenden Reformisten Andi Babler stagnierte beim schlechtesten Wahlergebnis seit Jahrzehnten (21,1 %) und konnte nicht von den Verlusten der ÖVP profitieren. Obwohl ein Drittel der Wähler:innen die Grünen verlassen hat, konnte der Zugewinn aus dieser Gruppe die Verluste an die Nichtwähler:innen gerade noch wettmachen, aber nicht zu einer Stärkung genutzt werden. Babler wurde von den Medien wegen seiner – sehr moderaten – Reformvorschläge als politischer Outlaw ausgegrenzt, während innerparteiliche Fraktionskämpfe und Intrigen der Wahlkampagne der SPÖ jeden Schwung geraubt hat.

Gruppierungen links von der Sozialdemokratie scheiterten an der 4 %-Hürde. Die KPÖ konnte zwar ihr Ergebnis verdreifachen; sie erzielte 2,4 % (plus 1,7 %, fast 115.700 Stimmen), was jedoch keineswegs für einen Einzug in den Nationalrat reicht. Ebenso scheiterten die Liste Gaza (0,4 %) und „Keine“ (Wandel; 0,6 %).

Am 20. September, eine Woche vor der Wahl, demonstrierten 13.000 Menschen in Wien – eine gemeinsame Aktion der Klimastreikbewegung mit Dutzenden lokalen „Demokratie verteidigen“-Initiativen aus ganz Österreich. Im Vergleich zum Lichtermeer im Januar 1993 an die 300.000 Teilnehmer:innen waren es leider noch viel zu wenige. Dieser Zusammenschluss ist ein zartes Pflänzchen, könnte aber den Beginn einer Widerstandsbewegung gegen die Rechtsentwicklung markieren, wenn die Zusammenarbeit entwickelt und auch soziale Themen aufgegriffen werden. Es droht nämlich eine massive Schwächung des Sozialstaates und demokratischer Errungenschaften.

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