Am Samstag, dem 10. Juni, startete das Fischerboot Adriana, ein altes 30 Meter langes Schiff, mit 750 Migrant:innen aus Tobruk in Libyen in Richtung Italien, es sank am Mittwoch, 14. Juni, in den frühen Morgenstunden des 50 Meilen südwestlich von Pylos. Nur 104 Männer überlebten, 82 Leichen wurden aus dem Meer geborgen. Alle Frauen und Kinder sowie viele weitere Männer sanken ‒ gefangen in dessen Laderäumen ‒ zusammen mit dem Schiff an der tiefsten Stelle des Mittelmeers, einem 5.300 Meter tiefen Graben, der durch das Zusammentreffen der afrikanischen und der eurasischen Platte entstanden ist. Die Überlebenden wurden von der Ultra-Luxus-Yacht Mayan Queen IV des mexikanischen Milliardärs Alberto Baillères gerettet.
Die moderne Migration ist ebenso wie die Klimakrise eine ständige Erinnerung an die weltweite Ausbeutung und Armut. Der Schiffbruch vom 14. Juni bei Pylos ist eines jener Ereignisse, die einen ganzen Zeitabschnitt nicht nur markieren, sondern ihn auch kondensieren. Denn der Ablauf der dramatischen Ereignisse des Schiffbruchs spiegelt die Art und Weise wider, wie Migrant:innen in Griechenland und Europa begegnet wird. Der verhängnisvolle Kurs des Schiffes, das zwölf Stunden lang überwacht und mehr als vier Stunden lang von Frontex und der griechischen Küstenwache eskortiert wurde, hat für alle sichtbar gemacht, wie die europäische und die griechische Küstenwache vorgehen, wenn sie Migrantenboote entdecken, die versuchen, Griechenland zu umfahren und auf der sogenannten kalabrischen Route direkt nach Italien zu gelangen.
Vor drei Monaten erlitt ein Boot aus der Türkei in Cutro in Kalabrien Schiffsbruch, nachdem es die gesamte Ägäis unter den Augen der italienischen und europäischen Küstenwache durchquert hatte. Mehr als 100 Männer, Frauen und Kinder ertranken im Wrack von Cutro, nur 40 Meter von der Küste entfernt. Wie in Pylos wurde das Schiff von einem Frontex-Flugzeug geortet – in internationalen Gewässern, aber innerhalb des italienischen Such- und Rettungsgebiets. Sowohl Frontex als auch die italienische Küstenwache spielten den Vorfall herunter und hielten in ihren Berichten Informationen über die Umstände und die Seetüchtigkeit des Schiffes zurück. Sie beobachteten das Schiff viele Stunden lang weiter, ohne eine Rettungsaktion anzuordnen, selbst als sich das Wetter verschlechterte. Eine Rettungsaktion wurde letztendlich erst eingeleitet, nachdem das Schiff gesunken war.
Die Umschiffung Griechenlands und der Einsatz größerer, meist veralteter und seeuntüchtiger Schiffe haben sich in den letzten drei Jahren stark verbreitet. Sie ist nicht das Ergebnis von Schwäche, sondern des „Erfolgs“ der Politik der konservativen Nea Dimokratia und der EU: der Umsetzung der Politik der gewaltsamen illegalen Rückführungen auf den Inseln der Ostägäis und Evros und der Schließung der Balkanroute sowie der Politik der Einsperrung, Isolierung und Entrechtung in den Flüchtlingslagern. Die Migrationsrouten haben sich allmählich von den engen Passagen der östlichen Ägäis auf das offene Meer verlagert und sind extrem gefährlich geworden, wie es im zentralen Mittelmeer der Fall ist.
In diesen Fällen ist es das vorrangige Ziel der Staaten, deren Gewässer von Booten mit Migrant:innen durchquert werden, zu verhindern, dass die Migrant:innen auf ihrem Hoheitsgebiet landen. Die Praktiken, die sie anwenden, reichen von der Duldung bis zur Erleichterung der Weiterreise ins Nachbarland, von Griechenland nach Italien, von Italien nach Malta usw. Es ist bezeichnend, dass 2021 ein Sechstel der in Italien ankommenden Migrant:innen, etwa 150 Boote und 12.000 Migrant:innen, vor den Augen der griechischen Küstenwache die kalabrische Route passierten. Doch in den letzten Jahren sind tödliche Schiffsunglücke in Griechenland zu einer banalen Nachricht geworden, selbst wenn sie in der Nähe von Touristenzielen geschehen: bei Kythera, Folegandros, Paros, Mykonos, Lesbos.
Der Schiffbruch bei Cutro hatte Frontex bereits entlarvt, diese Agentur ist im Mittelmeer, wie auch bei den illegalen Rückführungen in der Ägäis, an illegalen und mörderischen Praktiken des nationalen Grenzschutzes beteiligt und deckt diese Praktiken. Pylos ist jedoch nicht nur ein Fall von verweigerter Rettung, sondern ein Fall von aktiver Beteiligung der griechischen Küstenwache an der Verursachung des Schiffbruchs – das geht aus den Zeugenaussagen, den widersprüchlichen Erklärungen der Küstenwache und schließlich dem offensichtlichen Versuch hervor, Schweigen zu erzwingen und die Verantwortung zu vertuschen. Frontex, die ursprünglich die Handlungen der griechischen Küstenwache gedeckt hatte, entschied sich, sich zu distanzieren, indem sie jegliche Verantwortung ablehnte und damit die griechische Seite bloßstellte.
Auf jeden Fall ist der Schiffbruch von Pylos einer der Momente, in denen sich ein öffentlicher Raum auftut, in dem die Stimme der Migrant:innen gehört werden kann und der die Entwicklung der antirassistischen Bewegung und der sozialen Solidarität nach einer langen Zeit des Rückzugs erleichtert. Es wäre jedoch Selbstbetrug, eine Änderung der Haltung seitens der Europäischen Union zu erwarten; beispielsweise mit dem Abzug (!) von Frontex aus Griechenland. Das Modell der Migrationssteuerung, das 2016 mit der Einrichtung von Hotspots und der Einschränkung des Zugangs zu Asyl durch die Einführung des Konzepts des sicheren Drittstaats im EU-Türkei-Deal eingeführt wurde, wird in dem neuen Migrations- und Einwanderungsgesetz nicht nur nicht erschüttert, sondern verallgemeinert.
Natürlich würde die EU-Kommission Abwehrmaßnahmen mit weniger Toten, Auffanglager mit weniger Misshandlung und Polizeikontrollen ohne offenen Rassismus vorziehen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass die europäischen Sozialdemokraten und Grünen über die Einschränkung des Asyls und die Kriminalisierung von Aktivist:innen und privaten Rettungsbooten beunruhigt wären. Dennoch beugen sie sich der rechten Konjunktur und teilen wahrscheinlich ebenso die Angst vor einer Wiederholung der Grenzöffnung von 2015/16. Sie dulden den Kern der Europäisierung der Einwanderungspolitik, die rasche Zunahme von Abschiebungen im Rahmen von Abkommen bzw. Deals mit Transitländern, akzeptieren Masseninternierung in Ländern mit Außengrenzen und schließen gehen mit der herrschenden Logik der Reduzierung der „Pull-Faktoren“ der Migration mit.
Für die antirassistische Bewegung, die Linke und die anarchistische/autonome Bewegung ist es heute eine Gelegenheit und eine Pflicht, gegen Gewalt und die Abwertung des Lebens von Migrant:innen zu kämpfen. In diesem besonderen Moment, in dem die Todespolitik der Grenzen aufgedeckt wird und sich die Widersprüche zwischen nationalen und europäischen Institutionen verschärfen und in gewissem Maße die tiefe Hegemonie des Diskurses über die migrantische Bedrohung und des Schutzes der Grenzen destabilisiert wird, haben wir die Möglichkeit, zu einer vielgestaltigen Solidarität mit Migrant:innen zurückzukehren und uns auf internationaler Ebene neu zu organisieren. Es ist heute vorrangig, den mehrheitlich rassistischen Haltungen und Praktiken in der Gesellschaft entgegenzutreten und dem beispiellosen Aufstieg des Faschismus in Europa entgegenzutreten.
Die aufeinanderfolgenden Demonstrationen und Kundgebungen anlässlich des Verbrechens von Pylos, die Anwaltsinitiative gegen die Vertuschung und für die Untersuchung der strafrechtlichen Verantwortung der Küstenwache, die Unterstützung der Überlebenden und die Solidarität mit den Sündenböcken des Staatsverbrechens von Pylos, den neun als „Schleppern“ verfolgten Ägyptern, zeigen, dass die ersten Schritte bereits getan wurden.
Aus dem Neugriechischen übersetzt von Mino
Dieser Artikel ist am 11. Juli 2023 auf der Webseite der griechischen Programmatischen Tendenz Vierte Internationale (TPT) und in ihrem Magazin Nr. 11 veröffentlicht worden. Eine Übersetzung ins Englische erschien auf International Viewpoint.