Die Wahl von der Leyens entblößt die europäische Fassadendemokratie

Ursula von der Leyen ist jetzt Präsidentin der Europäischen Kommission. Hier Aufgenommen am 11. Juli 2014. Foto: Global Panorama/Mueller/MSC, Ursula von der Leyen, CC BY-SA 2.0

TEILEN
Neue Präsidentin der EU-Kommission

Die Wahl von der Leyens entblößt die europäische Fassadendemokratie

Von Horst Hilse | 25.07.2019

Die Propagandawelle rollte über allen Kanälen in Deutschland hinweg: „Unsere Ursula“ – Präsidentin der Europäischen Kommission! Aber es wird ebenso verpuffen, wie die noch im Mai für die EU-Wahl mobilisierten Sympathien für das EU-Projekt. Besser als durch Tausende linke Seminare und in Hunderten Büchern bekamen 560 Millionen EU-Bürger*innen durch die Showeinlagen der EU-Spitze vorgeführt, welchen Grad des Verfalls das bürgerliche Regime mittlerweile erreicht hat.

Die bürgerliche Demokratie entzieht sich selbst den Boden unter den Füßen und arbeitet ‒ zwar nicht bewusst, aber dennoch sehr beharrlich ‒ auf den völligen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit hin. Während engagierten linken Menschen der Zynismus bürgerlicher Politik seit langem bekannt ist, sind viele eher politisierte und gutwillige Wähler*innen aller politischen Lager konsterniert zurückgelassen, nachdem sie zuvor mit dramatischen Sprüchen zu einer Wahlbeteiligung motiviert worden waren.

Erster Akt: Schicksalswahlen für Europa

Um die Wähler*innen an die Urnen zu treiben, wurden die Wahlen zum europäischen „Parlament“ im Mai 2019 zu „Schicksalswahlen“ hochstilisiert. Dabei wurden den Wähler*innen von den zwei größten Parteienbündnissen zwei Spitzenkandidaten präsentiert, die im Wahlkampf nur in ihren Herkunftsländern Wahlkampf betrieben. Das war auch nicht anders möglich, denn es gab weder europäische Wahllisten, noch ein europäisches Wahlvolk.

Die Wahlbedingungen waren von Land zu Land unterschiedlich. Hätten beispielsweise die 1,6 Millionen Ausländer*innen in Deutschland nach dem niederländischen Wahlgesetz ein Wahlrecht gehabt, wäre sicherlich nicht der Kandidat der Konservativen durchgekommen. Nirgendwo findet sich in den vielen Bestimmungen der EU eine Passage über „Spitzenkandidaten“ und die Institution ist darauf auch nicht ausgelegt, da die EU keine Mehrheitsdemokratie darstellt.

Rückblickend lässt sich sagen, dass die „Spitzenkandidaten” lediglich eine Werbefunktion ausübten, um den Anschein „ordentlicher“ Wahlen zu wahren. Manfred Weber und Frans Timmermans konnten nur in ihrer jeweiligen Heimat Achtungserfolge einfahren. Für ihre Parteien haben sie – EU-weit betrachtet – nicht mehr Stimmen herausgeholt, im Gegenteil. Es deutet auch nichts darauf hin, dass die Spitzenkandidat*innen zu einer größeren Mobilisierung der Wähler*innen beigetragen hätten. Die TV-Debatten, in denen sie sich präsentierten, hatten miserable Einschaltquoten, und die Nachwahl-Umfragen fallen vor allem für Weber vernichtend aus. Daher ist es nicht verwunderlich, dass 4 Tage nach der Wahl niemand mehr nach diesen Kandidaten fragte.

Es nicht verwunderlich, dass 4 Tage nach der Wahl niemand mehr nach diesen Kandidaten fragte.

Jede*r der*die sich der Inszenierung verweigerte, galt als „Anti-Europäer“ und tatsächlich wählten dann viele aus Protest die Nationalisten, da eine linke Position in diesen Wahlen unkenntlich nebulös blieb. Gegenüber der ARD beispielsweise befand Bartsch (Die Linke): „Wir als Linke sind selbstverständlich eine Partei, die an die Tradition des Friedensprojekts Europa, an das große kulturelle Projekt anknüpfen will.“

Realität ist jedoch, dass die EU von Anfang an kein „großes kulturelles Projekt“ (!) oder gar ein „Friedensprojekt“ (!) war, sondern als Bündnis kapitalistischer Staaten gegründet wurde. Im Kern waren es die alten Großmächte, die diese Gründung gegen die Sowjetunion und die anderen Staaten des Ostblocks vorantrieben. Erinnert sei an die Planungen der „EWG“ im Europastab der SS (sihe dazu Ralf Giordano – „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte“) und an den ersten deutschen Kommissionspräsidenten, den Nazifunktionär Hallstein.

Was sich tatsächlich hinter dem „Friedensprojekt“ Europa verbirgt, durften die Jugoslaw*innen bei der gewaltsamen Zersplitterung ihres Staates, die Ukrainer*innen bei der Installierung der Junta und die Griech*innen bei der Degradierung ihres Landes zu einer Kolonie erfahren. In den EU-Verträgen sind die kapitalistische Marktwirtschaft und ein antidemokratischer Bürokratismus tief verankert. Das hart erkämpfte Streikrecht blieb im Lissabon-Vertrag bis heute ausgeklammert. Der Vertrag gilt für alle EU-Bürger*innen und die Griech*innen durften bereits erfahren, wie die EU bei der Zerstörung dieses Rechts agierte.

Zweiter Akt: pulverisierte Blöcke

Die EU-Wahlergebnisse gingen in gewissem Sinne „nach hinten los“, denn sie pulverisierten die beiden großen dominanten Blöcke, die die Wahlpropaganda getragen hatten. Die Wahlergebnisse beendeten die Duopolarität im Europaparlament. Zusammen kommen die bisherigen Mehrheitsströmungen nur noch auf 15%. Und als Fingerzeig für die Zukunft: 72% der unter 25jährigen EU-Bürger*innen haben an der Wahl nicht teilgenommen. Dass auch die Gelbwesten abschmierten, zeigt deutlich, dass sich Anhänger*innen von Protestbewegungen in dieser EU-Konstruktion nicht mehr wiederfinden. Sie weiterhin als „Antieuropäer“ zu brandmarken, wie es Konservative und Sozialdemokraten machen, könnte die kontinentale Ausweitung der Proteste beschleunigen.

Solch ein „Parlament“ erschien den EU-Staatschefs viel zu unsicher, um mit ihm die Frage des Kommissionsvorsitzes abzustimmen. Also kam die deutsch-merkelsche „Blitzkrieg-Taktik“ zum Einsatz: Man musste gut vorbereitet heftig zuschlagen und damit die Initiative an sich reißen. Tusk, Macron und Merkel berieten. Der Europäische Rat hat das Europaparlament überrumpelt, und das bereits einen Monat nach der Europawahl!

Der Europäische Rat hat das Europaparlament überrumpelt, und das bereits einen Monat nach der Europawahl!

Ein klein wenig ehrlicher wäre es gewesen, die konstituierende Sitzung des Parlaments abzuwarten und die neu gewählten Abgeordneten aufzufordern, selbst eine*n Nachfolger*in für Jean-Claude Juncker zu nominieren. Dann wären im Parlament die Spitzenkandidat*innen zum Zuge gekommen, das Parlament hätte abstimmen müssen. Wenn Manfred Weber und Frans Timmermans gescheitert wären, hätte der Rat immer noch allein entscheiden können.

Das Argument von Tusk, dass endlich eine Frau an die Spitze sollte, ist zutiefst verlogen, denn angetreten war auch Margrethe Vestager (liberale Spitzenkandidatin). Sie wäre mit Sicherheit die bessere Wahl gewesen. Doch Vestager hätte Ärger mit den USA bedeutet. Was man von VdL nicht behaupten kann, im Gegenteil: Mit ihrer Nominierung wollen die EU-Chefs die US-Regierung besänftigen und die Osteuropäer*innen ruhigstellen.

Das Argument von Tusk, dass endlich eine Frau an die Spitze sollte, ist zutiefst verlogen, denn angetreten war auch Margrethe Vestager.

Der Vorwurf, das Parlament hätte sich nicht auf einen eigene*n Kandidat*innen einigen können, trifft nicht zu, weil die neu gewählten EU-Parlamentarier*innen (ca. 60 Prozent aller Abgeordnet*innen) erst seit dem 2. Juli überhaupt über ein Büro und Telefon verfügen. Für eine Verhandlung auf Augenhöhe wäre es zumindest erforderlich gewesen, die Konstituierung des Parlaments abzuwarten,

Die Machtprobe mit dem „Parlament“ ist gelungen und von der Leyen wurde gewählt, wenn auch nur mit den Stimmen der Nationalist*innen und Rechtsradikalen. Unter den demokratischen Kräften erhielt sie keine Mehrheit. Die 26 PIS-Stimmen gaben den Ausschlag für die 9 Stimmen-Mehrheit.

Rücktritt als Ministerin war sowieso überfällig

Unter normalen politischen Bedingungen wäre ihre Ablösung als Ministerin fällig gewesen: Die Sanierung der Gorch Fock aus reiner Tradition ist zu einem Millionengrab geworden. Sie persönlich hat dennoch die Marschroute ausgegeben, den alten Kahn um beinahe jeden Preis wieder ins Wasser zu bringen. Und Ursula von der Leyen muss sich noch in diesem Jahr vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss verantworten.

Denn mit ihr zusammen sind Heerscharen von Unternehmensberater*innen direkt mit ins Bundesministerium der Verteidigung eingezogen. Da wurden sich über Jahre die Taschen vollgestopft, Aufträge mutmaßlich über Freundschaften und Bekanntschaftsverhältnisse vergeben, Millionenschwere Rahmenverträge nicht auf ihre Einschlägigkeit geprüft und externe Berater*innen mit Hausausweis und Büro im Ministerium ausgestattet.

Dritter Akt: Vertiefung der Krise

Mit diesem harschen Vorgehen Deutschlands als dem größten Profiteur des EU-Marktes, ist die Krise der EU nun endlich auch in Berlin angekommen. Die Groko wird möglicherweise schon im Dezember dahinscheiden.

Die Kommissionspräsidentin wird weder ihre Versprechungen, noch die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können. Das war bereits bei ihren Vorgängern der Fall.

Keiner der EU Staaten hat je die nationalistischen Bestrebungen aufgegeben, die seine jeweiligen Rechtsvorgänger einstmals zum Waffengang bewogen haben. In Europa geht es weiterhin nur um Profitmaximierung und die Erschließung neuer Absatzmärkte.

Keiner der EU Staaten hat je die nationalistischen Bestrebungen aufgegeben, die seine jeweiligen Rechtsvorgänger einstmals zum Waffengang bewogen haben.

Somit ist die Europäische Union unter deutscher Führung auch nicht das Gegenteil zum blutigen Imperialismus des deutschen Kaiserreichs und des Hitlerfaschismus, sondern seine Fortführung unter neuen Vorzeichen. Im Gegensatz zum alten Nationalismus ist der Euronationalismus eine Ideologie, die beim weltoffeneren Wahlvolk noch nicht verbrannt ist und die sich sogar explizit antirassistisch labelt. Dabei wohnt dem Europawahn derselbe Standortnationalismus und Militarismus inne ‒ nur in neuerem Outfit.

Deutschland ist nicht nur Hauptprofiteur des Binnenmarkts, sondern auch Hauptprofiteur der Einführung des Euro. Dies bestätigt eine Studie, die das Freiburger Centrum für Europäische Politik (cep) im Februar veröffentlicht hat. Demnach läge das Bruttoinlandsprodukt, das 2017 in der Bundesrepublik erwirtschaftet wurde, um 280 Milliarden Euro niedriger, gäbe es die EU-Einheitswährung nicht. Aufsummiert hat Deutschland seit der Euro-Einführung bis 2017 fast 1,9 Billionen Euro dazugewonnen ‒ umgerechnet 23.116 Euro pro Einwohner. Daher hat Deutschland auch das größte Interesse an der Aufrechterhaltung des EU-Gebildes.

In Europa geht es weiterhin nur um Profitmaximierung und die Erschließung neuer Absatzmärkte.

Die in der Tradition der Brüning‘schen Sparpolitik angewendete rigorose Austeritätspolitik hängt wie ein Fluch Schäubles über dem Schicksal vieler europäischer Länder. Da aber nach Italien nun auch Frankreich nicht mehr bereit ist, diese Politik mitzutragen, wird es zu Veränderungen kommen.

  • Frankreich drängt ebenso wie Italien auf die Beendigung dieser deutschen „schwarzen Null“-Politik, um endlich den Gelbwesten Zugeständnisse machen zu können. Daher die mehrfach geforderte Anbindung der EZB-Politik an politische Vorgaben der Kommission. ‒ wie es bei allen Zentralbanken auf dem Globus ansonsten üblich ist. Mit Lagarde als Chefin der EZB ist Frankreich da einen großen Schritt vorangekommen und hat im Gegenzug seine Bereitschaft erklärt, militärisch enger mit Deutschland zu kooperieren. Am Nationalfeiertag erklärte Macron, dass neben engerer militärischer Kooperation der Aufbau einer Weltraumtruppe forciert werden soll. Es wird abzuwarten sein, ob die rüstungsindustriellen Spannungen zwischen Berlin und Paris zur Entwicklung eines EU-Luftkampfsystems und dem Bau eines deutsch-französischen Kampfpanzers der nächsten Generation vermindert werden können. Bei diesen bis 2040 projektierten Systemen geht es um mehr als 100 Milliarden Euro. Die französischen Hoffnungen auf die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin dürften enttäuscht werden, wenn man ihre Bilanz in Deutschland betrachtet.
  • Frankreich und Italien haben seit der Euro-Einführung dramatisch verloren. Das französische Bruttoinlandsprodukt läge ohne den Euro gegenwärtig um 374 Milliarden Euro höher, das italienische sogar um 530 Milliarden Euro, wäre die Einheitswährung nicht eingeführt worden, konstatiert das cep. Zugleich wird Italien ebenso wie Griechenland von der EU mit der Bewältigung der Flüchtlingsproblematik allein gelassen.
  • Polen und Ungarn: Die militärtechnische Kooperation Deutschland-Frankreich liegt im Interesse dieser Länder, die die Neuaufstellung moderner russischer Militärtechnik an der Westgrenze als bedrohlich empfinden und zugleich enger mit den USA kooperieren wollen. Die USA können solch eine Entwicklung nur begrüßen, da Trump schon seit Jahren darauf drängt, dass Europa die eigenen militärischen Kapazitäten im Rahmen der Nato weiterentwickelt (und dafür in den USA Waffen kauft). Zugleich erwarten sich diese Länder eine europäische Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen. In ihrer Kandidatinrede ging die neue Kommissionspräsidentin darauf ein, indem sie eine Neuregelung der Flüchtlingspolitik anmahnte. Ob ihre Vorstellungen mit denen der nationalistischen Regierungen jedoch kompatibel sein werden, ist äußerst zweifelhaft.

Die zukünftige Entwicklung der EU zu beurteilen fällt schwer, weil die Interessenlagen der einzelnen Staaten und ihrer Klassen sehr unterschiedlich sind. Dazu kommen historische und auch perspektivische Probleme die unlösbar erscheinen.

Der Druck der USA mit ihren militärischen Anforderungen und ihrer Brexit-Unterstützung kommen noch on top. Ein „Gemeinwohl“ existiert in diesem Staatenbund nur solange, wie innerhalb der Staaten Profite zu generieren sind.

EU-Staaten sind kostengünstige Produktionsstandorte

Zahlreiche Länder Ost- und Südosteuropas sind zu kostengünstigen Produktionsstandorten für deutsche Konzerne geworden, was die gewaltigen Exporterfolge der deutschen Industrie, wenn nicht ermöglicht, so doch stark befeuert hat. Der deutsche Handel mit der gesamten Region boomt; allein der Warentausch zwischen Deutschland und der Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) belief sich im Jahr 2017 auf rund 256 Milliarden Euro ‒ deutlich mehr als der Handel mit China (gut 170 Milliarden Euro). Dabei besteht ein erheblicher Teil des deutschen Visegrad-Handels aus Lieferungen, die zwischen Fabriken deutscher Konzerne einerseits in der Bundesrepublik, andererseits in den Visegrad-Ländern ausgetauscht werden.

Zahlreiche Länder Ost- und Südosteuropas sind zu kostengünstigen Produktionsstandorten für deutsche Konzerne geworden.

Aufgrund seiner geographischen Lage in der Mitte des Kontinents und aufgrund seiner historisch gewachsenen Beziehungen hat Deutschland mehr als alle anderen EU-Staaten von der Osterweiterung profitiert. Es ist allerdings nicht sicher, dass die Dominanz der deutschen Konzerne auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Denn die sich abzeichnende Wirtschaftskrise könnte einige Kapitalbewegungen zum Nachteil der in Deutschland ansässigen Konzerne beschleunigen.

Die Personalpolitik ist katastrophal und unberechenbar und folgt der Logik von „Deals” und Coups. Am Ende setzen sich jene durch, die am dreistesten zocken und auf Merkel zugehen. Das gilt auch innenpolitisch: Da Kramp-Karrenbauer ja die nächste deutsche Kanzlerkandidatin sein soll, musste ihr sinkender Stern durch einen „verantwortungsvollen Posten“ aufgewertet werden.

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite