Der Staat Israel ist nicht plötzlich rassistischer geworden. Er traut sich einfach immer mehr, vor der Welt offen zu seinem Rassismus zu stehen.
Das schlimmste Ergebnis der israelischen Parlamentswahlen im November 2022 ist nicht die Tatsache, dass eine offen faschistische Partei die drittmeisten Sitze errungen hat oder dass sie kurz davor steht, zum Dreh- und Angelpunkt der nächsten Regierung zu werden. Es ist vielmehr die Tatsache, wie wenig sich dadurch in Israel oder im Ausland ändern wird.
Dass der religiöse Zionismus im Zentrum der Regierung vertreten ist, wird sich auf den Ton der israelischen Politik auswirken: Er wird noch rauer, rabiater und kompromissloser werden. Das macht aber keinen Unterschied zum ethnischen Vorherrschaftsanspruch (engl.: supremacism), der die israelische Politik seit Jahrzehnten bestimmt.
Der Staat Israel ist nicht plötzlich rassistischer geworden. Er traut sich einfach immer mehr, vor der Welt offen zu seinem Rassismus zu stehen. Und die Welt – oder zumindest der Teil von ihr, der sich überheblich als internationale Gemeinschaft bezeichnet – steht kurz davor, zu bestätigen, dass dieses Selbstvertrauen gerechtfertigt ist.
Tatsächlich wird sich die Haltung des Westens gegenüber Israels nächster Koalitionsregierung nicht von der Haltung gegenüber den vermeintlich weniger befleckten Vorgängerregierungen unterscheiden.
Inoffiziell hat die US-Regierung unter Biden der israelischen Führung ihren Unmut darüber kundgetan, dass die Faschist*innen nun so prominent in der Regierung vertreten sind, nicht zuletzt, weil ihre Präsenz dazu führen könnte, dass Washingtons Heuchelei auffliegt und die Verbündeten am Golf in Verlegenheit geraten. Dass Washington etwas Konkretes unternimmt, ist allerdings nicht zu erwarten.
Es wird weder Aufrufe geben, die israelische Regierung als Paria zu ächten, noch sie mit Sanktionen zu belegen oder die Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zu streichen, die die USA jedes Jahr ausrichten. In einem Washington, das noch immer unter den Folgen der Ausschreitungen vom 6. Januar [2021] leidet, werden keine Warnungen laut, dass die israelische Demokratie von innen sabotiert worden ist.
Ebenso wird es weder die Forderung geben, Israel müsse die palästinensische Bevölkerung unter seiner Militärherrschaft strenger schützen, noch ein Wiederaufleben der Bemühungen, Israel an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Nach einem schüchternen Aufstampfen und allenfalls einer symbolischen Weigerung, sich mit Minister*innen der faschistischen Parteien zu treffen, wird man wieder zur Tagesordnung übergehen. Und diese besteht in der Unterdrückung und ethnischen Säuberung der palästinensischen Bevölkerung.
Tot und begraben
All dies soll die Bedeutung der Ergebnisse aber keinesfalls herunterspielen. Meretz, die einzige jüdische Partei, die den Frieden höher gewichtet als die Rechte der israelischen Siedler*innen, hat es nicht über die Wahlhürde geschafft. Israels kleines Friedenslager scheint tot und begraben zu sein.
Die säkularen Rechtsextremen, die rechtsextremen Siedler*innen und die fundamentalistische religiöse Rechte haben 70 der 120 Sitze im Parlament errungen. Aufgrund interner Streitigkeiten sind zwar nicht alle bereit, an einem Strick zu ziehen. Ihr Konsens reicht aber aus, um sicherzustellen, dass der abgewählte ehemalige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zum sechsten Mal an die Macht zurückkehrt.
Es ist so gut wie sicher, dass Itamar Ben-Gvir im Zentrum der neuen Regierung stehen wird. Seine faschistische Partei Jüdische Stärke repräsentiert das brutale, mit einem unverhüllten Anspruch auf ethnische Vorherrschaft verbundene Erbe des berüchtigten Rabbi Meir Kahane, der die palästinensische Bevölkerung aus ihren Gebieten deportieren wollte. Netanjahu weiß, dass er sein Comeback dem erstaunlichen Aufstieg von Ben-Gvir zu verdanken hat – und er wird ihn entsprechend belohnen müssen.
Mehrere Dutzend weitere Sitze in der Knesset werden von jüdischen Parteien gehalten, die der mehrheitlich säkularen, militaristischen Rechten angehören. Ihre Abgeordneten bejubeln zuverlässig die nunmehr 15-jährige Blockade des Gazastreifens und seiner zwei Millionen palästinensischen Einwohner*innen sowie die wiederholten Angriffe, mit denen Gaza „zurück in die Steinzeit“ bombardiert wird.
Keine dieser Parteien bemüht sich um eine diplomatische Lösung anstelle der dauernden Unterdrückung der Palästinenser*innen, der allmählichen ethnischen Säuberung Jerusalems und der Etablierung von Siedlungen im besetzten Westjordanland.
Nach ihrem Wahlsieg vor 19 Monaten waren dieselben Parteien in jenem Jahr an der Macht, das für die Palästinenser*innen zum „tödlichsten Jahr“ wurde – so eine kürzliche Meldung der Vereinten Nationen, die sich auf den Zeitraum seit Beginn der Erhebung von Zahlen im Jahr 2005 bezog. Außerdem wurden während der Regierungszeit dieser Parteien sechs namhafte palästinensische Menschenrechtsgruppen mit der nicht belegten Behauptung verboten, es handle sich um terroristische Organisationen.
Dennoch werden die Regierungen im Westen jetzt so tun, als ob diese Oppositionsparteien Hoffnung auf einen – wenn auch noch so fernen – Durchbruch zum Frieden böten.
Mitten in diesem Meer von Gewählten, die unverhohlen an die Überlegenheit von Juden und Jüdinnen glauben, werden zehn Abgeordnete sitzen, die zwei nicht-zionistischen, mehrheitlich arabischen Parteien angehören und damit ein Fünftel der Bevölkerung Israels repräsentieren. Falls sie ihre Stimme laut genug erheben können, um im Parlament durch den Lärm des antipalästinensischen Rassismus zu dringen, werden sie die Einzigen sein, die für eine Sache eintreten, die der internationalen Gemeinschaft offenbar am Herzen liegt: eine Zwei-Staaten-Lösung.
Ein Moment der Klarheit
Der Erfolg der faschistischen Koalition der beiden Parteien Jüdische Stärke und Religiöser Zionismus, die voraussichtlich 14 Sitze erringen wird, sollte als Moment der Klarheit betrachtet werden. Bei dieser Wahl ist der politische Zionismus, Israels Staatsideologie, aus seiner Deckung gekommen und hat sich als enges Spektrum hässlicher Vorstellungen einer Überlegenheit der Juden und Jüdinnen entpuppt.
Insbesondere der Aufstieg von Ben-Gvir wird Israel und seine Unterstützer*innen im Ausland entlarven, denn sie behaupten, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, und deuten damit ziemlich unverhohlen an, Israel stelle einen Vorposten der westlichen Zivilisation in einem moralisch rückständigen, primitiven Nahen Osten dar.
Ben-Gvir und seine Verbündeten in der Regierung machen nur zu deutlich, dass die westliche Unterstützung für Israel nie von dessen moralischem Verhalten oder von seinen demokratischen Ambitionen abhängig war. Von Anfang an wurde Israel als kolonialer Vorposten des Westens gefördert – „ein Bollwerk Europas gegen Asien, ein Vorposten der Zivilisation gegenüber der Barbarei“, wie Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, die Rolle Israels bezeichnete.
Egal, wer in Israel an der Macht war, das zentrale Ziel des Zionismus blieb immer gleich: der Ersatz der einheimischen palästinensischen Bevölkerung durch jüdische Neusiedler*innen, die sich auf ein altes Geburtsrecht berufen. Die Debatte innerhalb des Zionismus drehte sich um die nötigen Mittel zur Erreichung dieses Ziels und um die Bedenken, wie Außenstehende den staatlich geförderten Rassismus Israels wahrnehmen und wie sie darauf reagieren könnten.
Im Laufe der Zeit kam der liberale Zionismus generell zum Schluss, zur Sicherung der jüdischen Vorherrschaft über das Land sei es das Beste, die Palästinenser*innen in Ghettos zu sperren. Es handelt sich dabei um das Apartheidsmodell, das die internationale Gemeinschaft drei Jahrzehnte lang in eine Zwei-Staaten-Lösung zu überführen versuchte.
Doch der liberale Zionismus hat es nicht geschafft, die Palästinenser*innen zu unterwerfen. Und nun ist er durch den Triumph der Revisionist*innen praktisch von der politischen Bühne Israels verschwunden. Der revisionistische Zionismus ist die Ideologie, der sich eine deutliche Mehrheit des neuen Parlaments verschrieben hat.
Angesichts des palästinensischen Widerstands und des Scheiterns des liberalen Zionismus verspricht der revisionistische Zionismus mehr Erfolg. Er will die Vorherrschaft der Juden und Jüdinnen, ob göttlich verordnet oder nicht, über ein erweitertes Gebiet festschreiben. Und er ist der Auffassung, dass die Palästinenser*innen jegliche Rechte verwirken und den Nährboden für ihre eigene Vertreibung schaffen, wenn sie sich mit ihrem Status als Gäste dritter Klasse nicht abfinden wollen.
Faschistische Vorstellungen
Für die Palästinenser*innen wird sich Ben-Gvir von den Abgeordneten der anderen Parteien, neben denen er in der Regierung sitzen wird, vor allem durch das Maß an Unverfrorenheit unterscheiden, mit dem er bereit ist, den Westen – und die liberalen zionistischen Unterstützer*innen von Israel – mit seinem offen gezeigten Rassismus in Verlegenheit zu bringen.
Wenn Ben-Gvir für einen Wechsel steht, dann sicher nicht in Bezug auf die israelischen Praktiken in den besetzten Gebieten. Diese werden weitergehen wie bisher. Allerding könnte Ben-Gvir für Netanjahu in der Frage der Annexion zu einem Hindernis werden, wie auch viele in Netanjahus eigener Partei.
Ben-Gvirs Einfluss wird vor allem im Innern Israels zu spüren sein. Er will die Führung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit übernehmen, um mit der Umwandlung der nationalen Polizei in eine Miliz nach den faschistischen Vorstellungen seiner Partei zu beginnen. Damit möchte er den früheren Erfolg der Siedler*innen wiederholen, die in das israelische Militär eingedrungen sind und es nach und nach übernommen haben.
Das wird die Tendenz zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den bewaffneten Siedlergruppen beschleunigen und dadurch eine noch stärkere Ausübung formeller und informeller Gewalt gegen die große Minderheit der in Israel lebenden palästinensischen Bürger*innen legitimieren. Zudem wird es Ben-Gvir und seinen Verbündeten ermöglichen, gegen „Abweichler“ innerhalb der jüdischen Gesellschaft vorzugehen, das heißt gegen all jene, die in religiösen, sexuellen oder politischen Fragen andere Ansichten vertreten.
Die Faschist*innen in der Netanjahu-Regierung werden sich bemühen, den bestehenden hetzerischen Diskurs gegen die in Israel lebenden palästinensischen Bürger*innen aufzugreifen, um die Minderheit als fünfte Kolonne hinzustellen und ihre Ausgrenzung öffentlich zu rechtfertigen. Doch das ist nicht neu: Schon frühere Regierungschefs und Minister behaupteten, die Palästinenser*innen seien per se verräterisch. Sie verglichen die palästinensischen Bürger*innen mit „Krebs“ oder „Kakerlaken“ und forderten ihre Ausweisung.
Avigdor Lieberman, der in mehreren Regierungen Minister war, legte schon vor Langem einen Plan für die Neuziehung der Grenzen Israels vor, um Teilen der palästinensischen Minderheit die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Im Sommer warb Ben-Gvir für eine Meinungsumfrage, aus der hervorging, dass fast zwei Drittel der israelischen Juden und Jüdinnen das von ihm vorgeschlagene Gesetz zur Ausweisung „illoyaler“ palästinensischer Bürger*innen aus dem Staat und zur Aberkennung ihrer Staatsbürgerschaft befürworten. Für andere jüdische Parteien, die ihre eigene Version ethnischer Vorherrschaft vertreten, wird es schwierig sein, Ben-Gvirs faschistischer Rhetorik etwas Überzeugendes entgegenzustellen.
Schwierige Prüfung
All dies wird zu einer schwierigen Prüfung für Israels Unterstützer*innen in Europa und den USA. Die meisten von ihnen bezeichnen sich als liberale Zionist*innen, auch wenn dieser Flügel des Zionismus in Israel schon vor einiger Zeit zum Verschwinden gebracht worden ist.
Jüdische liberale Zionist*innen betonen immer wieder, Israel sei für ihre Identität von zentraler Bedeutung. Sie haben sogar darauf bestanden, dass neuerdings alles, was über eine harmlose Kritik an Israel hinausgeht, als Antisemitismus definiert wird. Dabei argumentieren sie, ein Angriff auf Israel sei ein Angriff auf die jüdische Identität und stelle somit Antisemitismus dar.
Dieselbe verquere Logik wurde auch von der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken (IHRA) bei der Ausarbeitung ihrer neuen Antisemitismus-Definition angewandt – eine Definition, die von westlichen Parteien, lokalen Behörden und Universitäten weitgehend übernommen worden ist.
Die IHRA versteht unter Antisemitismus zum Beispiel, Israel als „rassistisches Projekt“ zu bezeichnen, seine Handlungen mit denen der Nazis zu vergleichen (vermutlich auch dann, wenn reale Faschist*innen die israelische Politik bestimmen) oder von Israel „ein Verhalten zu fordern, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“ (was die Frage aufwirft, was Israel denn noch tun muss, bis man es nicht mehr mit einer „anderen demokratischen Nation“ gleichsetzt).
Wer sich widersetzt, wie der ehemalige britische Labour-Führer Jeremy Corbyn, bekommt die volle Wucht des liberalen zionistischen Zorns zu spüren – so wie jene, die sich für einen Boykott Israels einsetzen, um dessen Exzesse zu stoppen. Es waren liberale Zionist*innen, die die Aktivitäten für Boykott, Desinvestition undSanktionen (BDS) unterbunden haben. Das Gefühl der Straffreiheit, das so erzeugt wurde, hat sicherlich dazu beigetragen, Israels faschistischen Leviathan zu entfesseln.
Werden die Unterstützer*innen Israels die Definition der IHRA oder Israels zurückweisen, wenn Ben-Gvir in der Regierung sitzt und einen großen Teil der israelischen Bevölkerung vertritt? Sicher nicht.
Wenn Ben-Gvir Israels Unterstützer*innen vor die Wahl stellt, sich entweder für das Vorherrschaftsdenken ihres Zionismus oder aber für ihren Liberalismus zu entscheiden, werden die meisten Ersteres wählen. Wie schon so oft wird Israels Rechtsruck wohl binnen Kürze zur Normalität werden. Schon bald wird es nicht weiter bemerkenswert sein, offene Faschist*innen in der Regierung zu haben.
Schlimmer noch: Ben-Gvir wird den anderen rechtsextremen Politiker*innen an seiner Seite als Alibi dienen, damit die USA und Europa sie als gemäßigte Männer und Frauen des Friedens, als die Erwachsenen im Raum, darstellen können.
Aus: Middle East Eye, 4. November 2022
Übersetzung: A. W.
Übernommen aus: die internationale, Nr. 1/2023