Nachdem rechte bzw. rechtsextreme Koalitionen bei den letzten Parlamentswahlen in Schweden und Italien gewonnen haben, hat der Aufstieg der extremen Rechten auf den politischen Seiten der europäischen Tageszeitungen in den letzten Monaten Schlagzeilen gemacht.
In Schweden, einem Land mit einer Sozialdemokratie, die fast ein Jahrhundert lang das politische Leben des Landes dominiert hatte, gewannen die Rechte und die extreme Rechte die Wahlen vom 11. September 2022. Die „Sverigedemokraterna“ wurden mit 20 % der Stimmen zur zweitstärksten Partei nach den Sozialdemokraten. Die Partei wurde 1988 von Neonazis gegründet, hat ihre Positionen leicht gemäßigt, ist aber immer noch von dieser Vergangenheit geprägt, und ihre heutige Linie ist vor allem einwanderungsfeindlich.
In Italien gewann eine Koalition aus einer rechten Partei und zwei rechtsextremen Parteien die Wahlen vom 25. September 2022, Giorgia Meloni, die Vorsitzende der „Fratelli d’Italia“, einer neofaschistischen Partei, wurde Premierministerin des Landes.
Diese jüngsten Wahlsiege sind keine isolierten Phänomene. Sowohl in Polen als auch in Ungarn sind seit Jahren rechtspopulistische Parteien an der Macht, und auch in anderen europäischen Ländern ist die extreme Rechte auf dem Vormarsch. Beispielsweise erhielt Vox in Spanien bei den Parlamentswahlen 2019 15 % der Stimmen, und Umfragen sehen sie deutlich im Aufwind; in Frankreich erhielt Marine Le Pen, die Kandidatin des „Rassemblement National“ (RN), im April 2022 im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 23 % der Stimmen, im zweiten Wahlgang 31 %.
Der Vormarsch ist keine europäische Besonderheit.
Festzustellen ist, dass das Wachstum der extremen Rechten nicht auf Europa beschränkt ist. In anderen Teilen der Welt treten Führungspersonen auf, die ‒ wie Jair Bolsonaro in Brasilien oder Donald Trump in den USA ‒ den führenden rechtsextremen Politiker:innen in Europa sehr ähnlich sind.
Unterschiede zu Bewegungen im 20. Jahrhundert
Denkt man an den italienischen Faschismus oder den deutschen Nationalsozialismus der 1920er und 1930er Jahre, haben wir es hier mit Parteien zu tun, die gewalttätige Milizen aufbauen, die Demokratie ablehnen, vor allem die Arbeiterbewegung angreifen und sich auf eine Bourgeoisie stützen, die die Ordnung in einem von revolutionären Wellen geprägten Kontinent wiederherstellen will.
Besessen von der Einwanderung, Hass auf den Islam und die EU.
Die heutigen rechtsextremen Bewegungen in Europa sind weit entfernt vom Faschismus und Nationalsozialismus der Zwischenkriegszeit, aber sie unterscheiden sich auch von der extremen Rechten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden war. Nostalgiker des Faschismus bildeten Parteien ‒ den MSI in Italien, die NPD in Deutschland oder den Front National in Frankreich ‒, die alle die gleichen Merkmale aufwiesen. Sie waren gegen Einwanderung, aber genauso feindlich gegenüber dem Kommunismus, den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung im Allgemeinen und bei einer ganzen Reihe von Themen reaktionär: Frauenrechte, Homosexualität usw.
Die heutigen rechtsextremen Parteien vertreten in vielen Fragen unterschiedliche Positionen, stimmen aber in zwei Fragen überein: Besessenheit von der Einwanderung, die oft mit einem Hass auf den Islam verbunden ist, und Verteidigung der Nation gegen die Eliten und die von ihnen inkarnierten Institutionen, insbesondere die Europäische Union. Ansonsten trennt sie so gut wie alles voneinander. Einige Parteien vertreten konservative Ideen zum Lebenswandel, sind antifeministisch, homosexuellenfeindlich und gegen Abtreibung, wie z. B. Parteien in Polen, Ungarn oder Spanien, während andere, z. B. in Frankreich oder den Niederlanden, sich auf die Rechte von Frauen oder Homosexuellen stützen, um den Islam besser angreifen zu können. Einige unterstützen Putins Russland, wie Orban in Ungarn oder Matteo Salvini in Italien, während andere pro-ukrainisch eingestellt sind, wie die polnische PiS oder Giorgia Meloni in Italien. Gespalten sind sie auch in Bezug auf den Klimawandel (einige leugnen die menschengemachten Ursachen), ebenso die Impfkampagnen gegen Covid-19. In Fragen der sozialen Rechte sind sie gleichfalls gespalten: In Frankreich fordert Marine Le Pen vom RN die Rückkehr zur Rente mit 60, während Eric Zemmour für die Unternehmen und den Neoliberalismus eintritt.
Der Aufschwung der extremen Rechten geht auf die neoliberale Globalisierung zurück
Seit mehreren Jahrzehnten ist die Welt in eine Phase der neoliberalen Globalisierung eingetreten, die zahlreiche Veränderungen mit sich gebracht hat, einige davon bilden die Grundlage für den Aufstieg der extremen Rechten. Drei dieser Veränderungen sind besonders wichtig.
Erstens sind die wachsende Ungleichheit und die Transformation der Arbeit zu nennen. Die europäischen Länder gehören, wenn man den Gini-Koeffizienten zugrunde legt, der das Ausmaß der Ungleichheit Land für Land berechnet, zu den egalitärsten Ländern. Doch die Globalisierung hat zu einer immer stärkeren Konzentration des Reichtums auf eine sehr kleine Zahl von Menschen geführt, und die Eliten werden als eine Welt für sich wahrgenommen, die vom Alltag der großen Mehrheit der Bevölkerung abgekoppelt ist. Der Neoliberalismus und die Globalisierung haben zu einem tiefgreifenden Wandel der Arbeit geführt, viele Arbeitsplätze in der Industrie sind aufgrund von Standortverlagerungen verschwunden, und bei den verbleibenden Arbeitsplätze hat die Prekarität zugenommen, ebenso bei denen im Dienstleistungssektor, die früheren Kollektive der Arbeitenden sind aufgesplittert. Das Ergebnis dieser Entwicklungen hat in Verbindung mit der Existenz eines Sicherheitsnetzes, das die Ärmsten schützt, dazu geführt, dass die Einkommenspyramide nach unten absinkt und dass die Arbeiterklasse und die Mittelschichten sich deklassiert fühlen.
Zweitens wurden die Kapazitäten der Staaten und traditionellen Institutionen gegenüber der Macht der Märkte geschwächt; diese Entwicklung ist in den meisten Regionen der Welt zu beobachten, sie ist aber in Europa besonders ausgeprägt, hier führt die Existenz der Europäischen Union zu einer noch größeren Entfernung der Bürger:innen von den Entscheidungszentren. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der Welthandel sehr begrenzt, die wichtigsten Staaten in Europa hatten die Möglichkeit, diesen oder jenen Wirtschaftszweig zu entwickeln, und das politische Leben war in einem Zweiparteiensystem aus Rechter/Linker organisiert. Heute verfolgen rechte oder linke „Regierungsparteien“ wie die Christdemokrat:innen und die Sozialdemokrat:innen eine vergleichbare Politik und verlieren ihre traditionellen Wähler:innen nach beiden Seiten hin; in ganz Europa kommt es zu einer Zersplitterung der politischen Szene und zu einem Durchbruch der extremen Rechten, die in vielen Ländern die traditionellen Rechtsparteien in Bezug auf die Stimmzahlen überholt haben.
Die dritte Transformation ist die Folge der „Metropolisierung“, eine der Folgen der Globalisierung. Die Großstädte passen sich an die Bedürfnisse der neoliberalen Wirtschaft, die Intensivierung der Handels- und Finanzströme und die weltweite Vernetzung der Volkswirtschaften an. Angesichts der schwindenden wirtschaftlichen Rolle der Staaten entsteht ein hierarchisches Netz von Metropolen, eine Inselwelt, die die Weltwirtschaft beherrscht. Die Metropolisierung hat jedoch den Niedergang der ländlichen Gebiete und der in Europa sehr zahlreichen Mittelstädte zur Folge, in denen die öffentlichen Dienstleistungen und das Leben in den Stadtzentren verschwinden.
Worum es für die Volksklassen und die ländlichen Gebiete geht
Der Durchbruch der extremen Rechten lässt sich nur verstehen, wenn man die drei soeben benannten Veränderungen miteinander verknüpft. Der Grund für den Durchbruch der extremen Rechten bei den Volksklassen, in den ländlichen Gebieten und den Kleinstädten ist ein Gefühl ‒ das oft eine tatsächliche Realität ist ‒ der Deklassierung und der Verlassenheit angesichts eines Staates, der sie nicht schützt und im Dienste der Eliten steht.
In vielen Ländern ist zu beobachten, dass die Metropolen weiter links stehen als der Rest des Landes.
Alle Untersuchungen belegen die Bedeutung der Volksklassen für die Wählerschaft der extremen Rechten. Zwei Beispiele: Die Schwedendemokraten erzielten bei denjenigen mit höherer Bildung 8 % und bei denjenigen mit niedrigerem Bildungsniveau 25 %, und in Frankreich erhielt das Rassemblement National die Stimmen von fast der Hälfte der Arbeiter:innen, aber nur 15 % der leitenden Angestellten.
Auch die Trennlinie zwischen den Großstädten und den übrigen Gebieten ist auffällig. In Frankreich werden fast alle Großstädte von der Linken regiert, und die extreme Rechte erzielt dort nur sehr geringe Ergebnisse, während sie in Kleinstädten und ländlichen Gebieten hohe Werte erzielt. In vielen Ländern ist zu beobachten, dass die Metropolen weiter links stehen als der Rest des Landes.
Die Linke braucht eine neue Strategie.
Diese Realitäten zwingen die linken Kräfte und die sozialen Bewegungen zu einer Strategiedebatte. Die Regierungslinke, ob die Demokraten in den USA, die Sozialdemokraten oder die Grünen in Europa, hat „sozietalen“ Fragen einen Vorrang vor sozialen Fragen eingeräumt: den Rechten der Frauen, der LGBTQ-Gemeinschaften oder dem Antirassismus wird der Vorzug gegeben; in der letzten Zeit war sie bereit, soziale Fragen im Namen der ökonomischen Notwendigkeiten in einer Ära der Globalisierung zu opfern. Angesichts dieser Situation erklärt ein Teil der Linken, man müsse die sozietalen Fragen, insbesondere die Einwanderung, relativieren, um sich auf die sozialen Fragen zu konzentrieren und so zu versuchen, die Volksklassen, die sich der extremen Rechten zugewandt haben, zurückzugewinnen.
Aber eine neue Generation von politischen und sozialen Bewegungen in Europa wie in der übrigen Welt will für all diese Forderungen eintreten, natürlich für soziale Fragen, aber auch für Klima- und Umweltgerechtigkeit, für die Rechte von Immigrant:innen, Frauen und LGTB-Minderheiten und für Antirassismus.
17. November 2022
Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried
Quelle: Croissance de l’extrême droite en Europe
Diesen Beitrag hat der französische Soziologe und Aktivist Christophe Aguiton für die südafrikanische Zeitschrift Amandla! verfasst. Auf Deutsch liegt von ihm das Buch Was bewegt die Kritiker der Globalisierung? Von Attac zu Via Campesina vor (Neuer ISP Verlag, 2002, beim Verlag vergriffen).