Tarifabschluss mit eingeplantem Reallohnverlust

Streikdemonstration der IG-Metall in Mühöheim im Jahr 2015 Foto: DIE LINKE Nordrhein-Westfalen, Streik IG Metall, Mülheim2015_05, CC BY-SA 2.0

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Zur Bewertung des Tarifergebnisses in der Metall- und Elektroindustrie

Tarifabschluss mit eingeplantem Reallohnverlust

Von Jakob Schäfer | 21.11.2022

Die konzertierte Aktion wirkt: Mit Hilfe der Bundesregierung ist es dem Kapital der Metall- und Elektroindustrie gelungen, einen Tarifabschluss über zwei Jahre zu erzielen, mit dem die Einkommenszuwächse drastisch hinter den zu erwartenden Preissteigerungen zurückbleiben.

Der Pilotabschluss von Baden-Württemberg besagt im Kern: Die Entgelte werden in zwei Schritten erhöht (am 1. 6. 2023 um 5,2 % und am 1. 5. 2024 um 3,3 %); es wird eine Inflationsausgleichsprämie gezahlt (1500 € im ersten Quartal 2023 und weitere 1500 € ein Jahr später; die Laufzeit beträgt 24 Monate.

Die einzige nennenswerte ergänzende materielle Vereinbarung ist die Erhöhung des Zusatzentgelts (ZUB), das von 12,3 % auf 18,5 % steigt, was für die Entgeltgruppe 7 (Eckentgelt in BW) eine Steigerung von 400 auf 600 Euro ausmacht.

Auch das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass der Reallohnverlust im Verlauf dieser zwei Jahre – je nach der tatsächlichen Preissteigerungsrate – mindestens bei 7 % liegen wird, wahrscheinlich aber eher bei 11 bis 13 %, wenn die Preise weiterhin mit 10 Prozent oder noch mehr steigen. Hinzu kommt, dass die Preissteigerung des Warenkorbs, der für die meisten abhängig Beschäftigten entscheidend ist, heute schon deutlich über den offiziellen 10 % liegt.

Bei so unsicherer Preisentwicklung hätte man mindestens eine Öffnungsklausel durchsetzen müssen, die festlegt, dass bei einem Überschreiten der Inflationsrate von 4,25 Prozent (= 8,5 % geteilt durch zwei) sofort die Friedenspflicht endet und neu verhandelt werden muss. Noch besser wäre natürlich der Abschluss einer Vereinbarung zum automatischen Inflationsausgleich (gleitende Lohnskala), aber mit der Tarifpolitik der IGM (und vorher der IGBCE) erleben wir ja gerade das Gegenteil).

Differenzierung

Trotz aller Beteuerungen im Vorfeld seitens der IG Metall-Verhandlungsführung ist es dem Kapital wieder mal gelungen, Differenzierungen durchzusetzen, mit denen sich dann die Betriebsräte rumschlagen müssen. Zum einen kann die Auszahlung der Inflationsausgleichszahlung per Betriebsvereinbarung verschoben werden („Der Zeitpunkt der Auszahlung kann durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung geregelt werden.“). Wenn also die Geschäftsleitung nur genug jammert (und der Betriebsrat nicht stark genug ist), wird es an vielen Orten genau diese Verschiebungen geben.

Zum anderen kann die Auszahlung des Zusatzentgelts B (ZUB) bis zum April des Folgejahres verschoben werden, wenn der Betrieb in einer „schwierigen wirtschaftlichen Situation“ ist. Besonders skandalös: Die IG Metall akzeptiert die Definition der wirtschaftlichen Schwierigkeit in der Weise, dass festgestellt wird, die Umsatzrendite liegt unter 2,3 %. Eine Öffnung der Bücher ist bei den diesbezüglichen Verhandlungen gerade nicht vorgesehen und so können die Angaben zur Rendite beliebig manipuliert werden.

Nichts zwang diese Bürokraten, zu diesem Zeitpunkt abszuschließen – außer der Sorge um Kapitalrendite.

Warum Abschluss jetzt?

An dem Erfolg für das Kapital haben allerdings nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Verhandlungsführer der IGM und der IGM-Vorstand kräftig mitgewirkt. Denn das Ergebnis bleibt nicht nur hinter den Erfordernissen zum Erhalt des Lebensstandards der Kolleg*innen zurück, sondern auch hinter den konkreten Möglichkeiten. Die Mobilisierungen waren nämlich deutlich auf dem aufsteigenden Ast. Hunderttausende Kolleg*innen haben sich beteiligt. Nichts zwang diese Bürokraten, zu diesem Zeitpunkt einen Abschluss zu tätigen, außer …, wenn man sich Sorgen um die Exportindustrie und überhaupt um die Kapitalrendite macht.

Geht das Ergebnis durch?

Der Apparat der IGM ‒ dies sind vor allem die hauptamtlichen Funktionäre in den Verwaltungsstellen, die diesen Abschluss jetzt erläutern (und „verkaufen“) müssen ‒ erklärt, dass die Tarifpolitik ja nicht alles ausgleichen könne, was durch die Preissteigerungen an Belastungen auf uns zukomme. Deswegen habe man sich „in Berlin“ für die Entlastungspakete eingesetzt, die ja ohne das Einwirken der Gewerkschaften nicht so zustande gekommen wären.

Aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren müssen wir damit rechnen, dass das Ergebnis relativ glatt durchgewunken wird und zwar nicht nur in den Tarifkommissionen, sondern auch in den Betrieben. Die wichtigsten Gründe hier in der Reihenfolge ihrer Bedeutung:

Erstens haben die meisten Kolleg*innen wenig bis überhaupt keine Erfahrungen mehr mit offensiv geführten Tarifkämpfen, sodass die Erwartungshaltung von vornherein nicht sehr hoch war. Erste Reaktionen aus den Betrieben machen deutlich, dass die Ankündigungen und die Forderungen von Gesamtmetall (Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld betrieblich zur Disposition zu stellen, keine tabellenwirksamen Erhöhungen usw.) während der Tarifrunde eher als reale Gefahren angesehen wurden und nicht so sehr als Teil eines Rituals. Viele Kolleg*innen sind spontan recht zufrieden.

Zweitens wirkt immer noch die tabellenwirksame Zahl von insgesamt 8,5 % bei vielen Kolleg*innen als gute Zahl (immerhin auch besser als beim Chemieabschluss). Dass die Laufzeit diese Zahl faktisch mindestens halbiert und dass dem weiter eine hohe und eher steigende Inflation gegenübersteht, wird entweder nicht wahrgenommen oder aber auch bewusst verdrängt.

Drittens wirkt die Einmalzahlung (2 x 1500 €), die steuer- und abgabenfrei gezahlt wird. Dass dabei keine Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt werden, wird einfach verdrängt. Das Kalkül der Bundesregierung scheint bisher jedenfalls voll aufzugehen: Psychologisch wirkt der Gesamtbetrag.

Wahrscheinlich wird es keinen Aufschrei in den Betrieben geben – aber wir sollten uns auf eine Nachschlagrunde vorbereiten.

So bitter das ist, so müssen wir doch konstatieren: Wahrscheinlich wird es keinen Aufschrei in den Betrieben geben (in den stark vom Apparat kontrollierten Tarifkommissionen auch nicht). Um so wichtiger ist es jetzt, nüchtern die Dürftigkeit dieses Abschlusses darzustellen und die Kolleg*innen gedanklich darauf vorzubereiten, dass man in einiger Zeit eine Bewegung für eine Nachschlagrunde in Gang setzen muss. Denn: Die Entlastungspakete bestehen nur aus Einmalzahlungen, der Reallohnabbau, der mit diesem Tarifabschluss vereinbart wurde, ist aber von Dauer. Auf die Regierungspolitik zur Eindämmung der Preissteigerungen können wir uns nicht verlassen. Wir müssen also selbst tätig werden und das geht nun mal am wirksamsten über die Durchsetzung höherer Löhne und Gehälter. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Letzten Endes muss aber auch klar sein: Ohne den Aufbau einer linken, klassenkämpferischen Strömung wird sich an der generellen (Tarif)politik unserer Gewerkschaften nichts ändern lassen.

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