Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) hat einen Tarifabschluss für die 580.000 Beschäftigten der Chemischen Industrie getätigt.
Bei einer Laufzeit von formalen 20 Monaten bis zum 30. Juni 2024 werden die Tariftabellen zum 1. Januar 2023 und 2024 jeweils um 3,2 5% erhöht. Außerdem gibt es spätestens Ende Januar 2023 und 2024 jeweils eine Einmalzahlung in Höhe von 1.500 € netto, genannt „tarifliches Inflationsgeld“.
Vorbild – für wen, für was?
Die Bedeutung dieses Tarifabschlusses ist vor allen Dingen in dem Vorbildcharakter für die gerade laufende Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie mit ihren 2,8 Millionen Beschäftigten und der Runde im öffentlichen Dienst Anfang nächsten Jahres zu sehen.
Mit ausdrücklichem Bezug auf die „konzertierte Aktion“ von Bundeskanzler Scholz rechtfertigte IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis den Abschluss. Die von der Regierung (also der steuerzahlenden Mehrheit der Bevölkerung) subventionierte Einmalzahlung von 3000 € bringt mehr Netto ins Portemonnaie „der Menschen in unserem Land“. Dass aber bei der insgesamt langen Laufzeit die geringen Tabellensteigerungen weit unter der Produktivitätssteigerung liegen, macht die Arbeitskraft in der chemischen Industrie billiger.
Die einschlägigen unternehmerfreundlichen Medien von Spiegel über Die Zeit bis Handelsblatt feiern den Abschluss für die konfliktfreie Abwicklung und das „Augenmaß“, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nicht beeinträchtigt. Die Angst vor Streiks in der Metallindustrie (die IGBCE wäre vermutlich gar nicht streikfähig) ist angesichts dieser „konstruktiven Lösung“ kleiner geworden. Es wird nun erwartet, dass die Unternehmer in dieser Branche und die IG Metall sich auf etwas Ähnliches einigen.
Als die IGBCE wegen der „unkalkulierbaren, internationalen Entwicklungen“ (sprich: weltweite Inflation, Rohstoffknappheit und –spekulation plus Ukrainekrieg) ihre anstehende Tarifrunde im April 2022 mit einem „Brückenabschluss“ von 7 Monaten mit 1.400 € Einmalzahlung in den Herbst verschoben hat, fragten wir: Wohin führt die Brücke?
Es war eine Brücke ins Nichts.
Kanzlertreu
Jetzt wissen wir: Es war eine Brücke ins Nichts, ein Weg in den Reallohnverlust, ein Weg zur Verbilligung der Arbeitskraft, ein weiterer Schritt weg von einer selbständigen Vertretung der Interessen der arbeitenden Klasse hin zum Kuschelkurs mit Unternehmen und Regierung in der „konzertierten Aktion“. Das Schlimmste aber ist, dass die Chance, den Lebensstandard von Millionen Beschäftigten gemeinsam mit der IG Metall (und vielleicht auch mit ver.di) zu verteidigen, nicht genutzt wurde.
Einzelheiten zum Tarifabschluss
Die 20monatige Laufzeit muss mit der „Brücke“ von sieben Monaten zusammen betrachtet werden, dann sind wir bei einer Gesamtlaufzeit von 27 Monaten.
In den 27 Monaten steigen die Tariflöhne nur in den letzten 18 Monaten (ab Januar 2023 und dann nochmal ab Januar 2024). Zwischen April 2022 und Januar 2023 wird es also gar keine tabellenwirksame Steigerung der Tariflöhne geben, sondern nur Einmalzahlungen. (Die letzte Erhöhung der Tariflöhne gab es im Sommer 2021.)
Die „Brücke“ und der neue Abschluss enthalten zusammen 4.400 € Einmalzahlungen. Rechnerisch sind das 163 € im Monat. Da die 1.400 € versteuert und verbeitragt werden mussten, wird im Durchschnitt der 27 Monate ein Nettoergebnis von weniger als 150 € pro Monat übrigbleiben.
Die Umrechnerei von Prozenten auf Laufzeiten ist immer schwierig und mit Fehlermöglichkeiten behaftet. Trotzdem: Die tabellenwirksamen Erhöhungen kommen spät, verteilen sich auch auf die 27 Monate und fallen mit rechnerisch weniger als 3 Prozentpunkten pro Monat ausgesprochen mager aus ‒ und sind Brutto!
Einmalzahlungen und tabellenwirksame Erhöhung zusammen könnten sich bei einem Nettoeinkommen von 2.500 € (im Frühjahr 2022) vielleicht auf rechnerisch rund 8 % Steigerung im Netto für die Laufzeit (also auch rückwirkend) zusammenrechnen lassen.
Für einen Beschäftigtenhaushalt mit diesem Einkommen haben die Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie (die deutlich höher sind als die allgemeine Inflationsrate) ein größeres Gewicht. Und es ist nicht abzusehen, dass die Preissteigerungen geringer werden. Von daher ist davon auszugehen, dass ein Reallohnverlust vorprogrammiert ist.