Scheinbar ist COVID-19 in Deutschland auf dem Rückzug, aber die Bedrohung durch das Virus ist nicht verschwunden. Die Todeszahlen steigen – wenn auch verlangsamt – weiter an. Unser gesellschaftlicher Aktionsplan bedarf also einer weiteren Aktualisierung. Ein anderes Virus überlagert derzeit aber immer mehr die Frage des Gesundheitsschutzes – das Profitvirus. Die Angriffe entscheidender Kapitalfraktionen nehmen zu.
Vor allem in der Autoindustrie und bei den Zulieferfirmen geht es infolge der Krise rund. Die Branche gilt als Deutschlands Schlüsselindustrie. Einschließlich der von ihr abhängigen Bereiche arbeiten dort rund 2 Millionen Beschäftigte.
Laut Angaben der IG Metall sind rund 10 Prozent der Branchen- betriebe
bereits jetzt akut von Insolvenz bedroht. Über 100.000 Beschäftigte könnten
in naher Zukunft erwerbslos werden.
Hinzu kommt die „Transformation“ vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb
in Verbindung mit der „Digitalisierung“. Sie wird den Kraftfahrzeugbau
in den nächsten Jahren massiv verändern.
Handlungsfähigkeit der IGM gefährdet
Die mit über 2,2 Millionen Mitgliedern größte Einzelgewerkschaft weltweit, die IG Metall, steht vor der Frage, ob sie in Zukunft noch handlungsfähig sein wird – oder nicht.
Was ist die Antwort der IGM-Spitze auf diese für den gesamten DGB existentielle Herausforderung? Auf der einen Seite die auf dem Gewerkschaftstag 2019 beschlossene Orientierung unter dem Motto „Die IG Metall vom Betrieb aus denken“. Sie ist bisher nicht wirklich in die Gänge gekommen.
Auf der anderen Seite der Ruf nach der „Vernunft“ der „Sozialpartner“ und – in ziemlich bester Eintracht mit dem Kapital – die Forderung nach einer milliardenschweren Abwrackprämie 2.0. Sie soll nach Pfingsten kommen, obwohl sie die erforderliche Verkehrswende noch mehr blockiert.
Im Prinzip ist das die gleiche Gewerkschaftspolitik wie 2009 nach der „Finanzkrise“. Sie hat zwar damals die IGM vor dem Absturz bei den Mitgliederzahlen bewahrt. Aber sie hat nicht die Erosion ihrer politischen und organisatorischen Handlungsmacht gestoppt. Im Gegenteil!
Das Beispiel ZF
Das aktuelle Beispiel des Autozulieferers ZF zeigt, wie gelähmt die IG Metall derzeit selbst in ihrem Vorzeigebezirk Baden-Württemberg ist.
ZF will bis zu 15.000 Arbeitsplätze weltweit, davon die Hälfte in Deutschland, in den nächsten Jahren vernichten. Für den Konzern arbeiten aktuell rund 148.000 Menschen, fast 51.000 davon im Inland. Bis Ende 2022 sind betriebsbedingte Kündigungen in den meisten Werken offiziell noch ausgeschlossen.
Das Management versucht aber natürlich, mit den Abbauplänen Druck auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften auszuüben. Zudem will es die milliardenschweren Übernahmekredite für den Erwerb der Unternehmen TRW und Wabco nicht gefährden. Diese sind nämlich üblicherweise an das Erreichen von Kennzahlen – meist des operativen Gewinns – geknüpft.
Pikant an der Angelegenheit ist, dass ZF über zwei Stiftungen praktisch der Stadt Friedrichshafen gehört. Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender ist Roman Zitzelsberger, der IGM-Bezirksleiter von Baden-Württemberg.
Bei der virtuellen Funktionärskonferenz der IGM Baden-Württemberg am 28. Mai 2020 war die Zuspitzung bei ZF erstaunlicherweise kein Thema, obwohl dort neben Zitzelsberger auch der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats von ZF zu Wort kam.
Suche nach der IGM-Strategie
Die Zeichen stehen nicht nur bei ZF auf Sturm. Umso gefährlicher ist es, dass offenbar die IGM-Führung derzeit über keine erkennbare Strategie der Gegenwehr verfügt.
Statt des Traums von der Sozialpartnerschaft ist jetzt der Aufbau einer sozialen Front der Gegenmacht angesagt. Das erfordert sowohl bei den haupt- als auch den ehrenamtlichen GewerkschafterInnen einen Bruch mit der Logik der Profitmaximierung.
Das bedeutet zum Beispiel, die Einhaltung von Artikel 14 des Grundgesetzes einzufordern („Eigentum verpflichtet“) und für das Verbot von Entlassungen zu kämpfen – wie es vor kurzem erst von IGM und Betriebsrat bei Bopp & Reuther in Mannheim vereinbart worden ist. Das bedeutet ferner, die Offenlegung aller Geschäftszahlen und Unternehmensstrategien einzufordern sowie ökologische und gesellschaftlich sinnvolle Produktionsumstellungen zu entwickeln und durchzusetzen.
Kurzum: Es geht perspektivisch um nicht weniger als um die Frage, ob die Wirtschaft der Gesellschaft dient oder dem Profit. Und es geht um die Zukunft der IG Metall und damit um das grundlegende Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hierzulande.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf der Seite der ISO-Rhein-Neckar.