Seit nun 11 Monaten bemüht sich der Fachbereich Handel von ver.di, in den Bereichen Einzel- und Großhandel zu einem Tarifabschluss zu kommen. Trotz zahlreicher Streiks in den beiden Tarifbereichen konnte keine Einigung mit den Arbeitgeberverbänden erzielt werden. Inzwischen haben die beiden Arbeitgeberverbände sogar Empfehlungen an die Mitgliedsunternehmen für 2024 herausgegeben, die für den Einzelhandel eine Erhöhung um 4,7 % und im Großhandel um nur 2,9 % vorsehen.
Was wollen die Arbeitgeberverbände?
Offensichtlich haben die beiden Arbeitgeberverbände ihre Strategie abgesprochen. Sie orientieren ihre Vorstellungen zur Tarifrunde strikt an der Situation in den jeweiligen Bereichen und nicht an der Situation der Beschäftigten, die durch die hohen Preissteigerungen der letzten Jahre extrem angespannt ist. Sie schätzen auch die Fähigkeiten von ver.di als nicht so stark ein, dass die Gewerkschaft einen ihnen nicht passenden Abschluss durchsetzen könnte. Dieser Einschätzung liegt die mangelnde Tarifbindung in beiden Bereichen zugrunde, die in der Tat eine schwere Hypothek für ver.di ist. Viele Betriebe in den beiden Bereichen haben sich schon von der Tarifbindung verabschiedet. Bundesweit ist die Tarifbindung in beiden Bereichen schon unter 50 %, in manchen Bundesländern liegt sie unter 40 %, d. h. die Mehrheit der Unternehmen hat den Arbeitgeberverband verlassen oder ist in den Status ohne Tarifbindung (OT) gewechselt. Offensichtlich sind die beiden Arbeitgeberverbände zu der Auffassung gekommen, dass sie auch ganz ohne Tarifabschluss zurechtkommen werden, sie meinen sie könnten ein Tarifdiktat gegen ver.di durchsetzen. Dies wäre das Ende einer Entwicklung, die sich in den Tarifrunden der letzten Jahre gezeigt hat: Es war nicht gelungen, die Einkommen der Beschäftigten zu sichern. Auch der Personalwechsel in der Fachbereichsleitung von der Kollegin Stefanie Nutzenberger zu Silke Zimmer auf dem Bundeskongress im September 2023 hat sicherlich zu einer Verhärtung im Arbeitgeberlager geführt.
Die Strategie von ver.di
Gegen diese harte Haltung der Arbeitgeberverbände versucht ver.di mit einer Doppelstrategie vorzugehen. Seit Jahren wird versucht, die Tarifbindung der Arbeitgeberverbände in den Tarifrunden durch begleitende Kampagnen wieder herzustellen. Diese haben aber wie beschrieben kein Interesse daran, und ver.di stößt jedes Mal auf eine geschlossene Abwehrfront. Nach mehreren Jahren von schlechten Abschlüsse in beiden Bereichen hat ver.di sich 2023 entschlossen, die Höhe der Einkommen der Beschäftigten zu verteidigen. Die entsprechenden Forderungen ‒ plus 2,50 € pro Stunde mehr im Einzelhandel und 15 % mehr im Großhandel ‒ waren ein deutliches Signal und an der oberen Grenze der Tarifforderungen im letzten Jahr. In der Frage der Tarifautonomie soll der Druck auf die Arbeitgeberverbände aufrechterhalten werden. Aber ohne eine politische Lösung in der Frage der Anerkennung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen wird es keine Regelung geben. Um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, müssten die Gewerkschaften insgesamt tätig werden. Ein Fachbereich alleine wird dieses Problem nicht beseitigen können.
Tarifrunde 2023
Da die Unternehmen in den Branchen aber nicht bereit sind, über die berechtigten Forderungen ernsthaft zu verhandeln, und Angebote weit unterhalb der Forderungen „anboten“, versuchte die Fachbereichsleitung von ver.di, die Arbeitgeberverbände durch häufige und länger als einen Tag anhaltende Streiks unter Druck zu setzen. Dabei stellte sich heraus, dass die Einzelhandelsunternehmer nicht bereit waren, über die lineare Lohnerhöhung von 2,50 € zu verhandeln, sondern nur schlechte Prozentangebote abgaben. ver.di musste die Aktivitäten ausweiten.
In der laufenden Tarifrunde wurden neue Unternehmen erschlossen, deren Belegschaften direkt mit in den Streiks eintraten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Beteiligung in einzelnen Tarifbezirken und Unternehmen sehr unterschiedlich war und ist. Dies macht deutlich, dass eine Abkehr von regionalen auf bundesweite Verhandlungen die Situation im Handel eher verschlechtern würde. Im Herbst 2023 empfahlen die Arbeitgeberverbände ihren Mitgliedsunternehmen, die Löhne um 5,7 % zu erhöhen; damit wurde klar, dass sie in weiteren Verhandlungen keinen Sinn mehr sahen. Dementsprechend wurden auch bereits vereinbarte Verhandlungstermine abgesagt. Es gelang lediglich in Hamburg, am 28. Dezember erneut zu verhandeln; dort legten die Unternehmer ein leicht verbessertes Angebot von 6 % vor, das war aber offensichtlich noch nicht einmal in den eigenen Reihen abgesprochen. Aber auch von ver.di wurde dieses Angebot abgelehnt.
Ver.di hat in dieser Tarifrunde nach Jahren des Niedergangs viele neue Mitglieder gewinnen können. Für die Fachbereichsleitung wird es schwierig werden, die Mitglieder zu halten, wenn es zu keinem guten Ergebnis kommt. Wenn ihre Gewerkschaft kein Ergebnis erzielen kann, bedeutet das in den Augen vieler Mitglieder ein Scheitern.
Auch in 2024 keine Einigung in Sicht
In diesem Jahr starten die Tarifrunden zeitlich unterschiedlich schon im April. Bevor es überhaupt losgeht, zeigten die Unternehmerverbände, was sie von der Tarifautonomie halten. Sie empfahlen den Mitgliedsunternehmen, die Löhne zum jeweiligen Stichtag im Einzelhandel um 4,7 % und im Großhandel um 2,9 % zu erhöhen. Damit dürften die Schwierigkeiten für ver.di nicht kleiner werden. Ob es durch weitere Mobilisierungen gelingt, die Unternehmerverbände an den Verhandlungstisch zu bewegen bleibt abzuwarten.
Ich wage die Behauptung: Ohne eine politische Lösung der Allgemeinverbindlichkeit oder aber ein Einknicken von ver.di wird es kaum zu Abschlüssen kommen. Dabei gibt es jetzt eine EU-Richtlinie, deren Anwendung im Handel die Verhältnisse erheblich erleichtern würde. Diese Richtlinie sieht vor, dass in einer Branche, in der die Tarifbindung unter 80 % liegt, die jeweilige Regierung tätig werden soll, um die Allgemeinverbindlichkeit durch Gesetz herzustellen. Aber auch hier wird der Druck auf diese Bundesregierung erheblich erhöht werden müssen, damit wenigstens diese EU Richtlinie umgesetzt wird.
Da auch in diesem Jahr weitere Tarifrunden anstehen, sollten diese für gemeinsame Mobilisierungen genutzt werden. Zumindest um die Aktivierung der Mitglieder aufrecht zu erhalten. Wir müssen uns auch in der Bundesrepublik darauf einstellen, dass Gewerkschaften mehr und mehr als lästig angesehen werden und damit die Mär von der Sozialpartnerschaft endgültig zu Grabe getragen wird.
26. März 2024