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Debatte

Palästina vor 3. Nakba

Von Hermann Dierkes | 13.10.2023

Israelischer Rachefeldzug legt Gaza in Schutt und Asche

Die aktuelle Zuspitzung des sogenannten Nahost-Konflikts hat die bekannten Reaktionen hervorgerufen. Der politische Mainstream und die Regierungen des „wertebasierten“ Westens stehen entschlossen an der Seite des kolonialen Apartheidstaats Israel, der sich wiederholt gegen „palästinensische Terroristen“ wehren muss. Öffentliche Gebäude werden – wieder einmal – in den Farben Israels angestrahlt. Die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort ‒ Unterdrückung, völlige Willkür, Einkesselung der palästinensischen Bevölkerung und fortgesetzter Raub von Land und Ressourcen ‒, die den verzweifelten Ausbruch aus dem größten Freiluftgefängnis der Welt provoziert haben, werden fast völlig ausgeblendet. Terror kommt nur von den Palästinenser:innen, der Staatsterror der israelischen Seite wird als legitimes Selbstverteidigungsrecht propagiert und munterstützt. Das humanitäre Völkerrecht wird wieder einmal umgelogen und krass missachtet. Israel habe das „Recht auf Selbstverteidigung“. Die israelische Regierung geht noch weiter und behauptet, man müsse sich gegen „menschliche Tiere“ wehren und dabei werde man die angemessenen Mittel und Maßnahmen anwenden. Mit anderen Worten: Alles sei erlaubt.

Der koloniale Apartheidstaat inszeniert sich wie immer als Opfer. Auch ein Teil der breiteren Linken und sogar der Palästina-Solidaritätsbewegung hat sich von der Propaganda-Flut anstecken lassen und verurteilt mit scharfen Worten das Massaker „der Hamas“ an israelischen Zivilist:innen. Um keinerlei Unklarheit entstehen zu lassen: Das humanitäre Kriegsrecht verbietet massenhafte Geiselnahme, die willkürliche Schädigung und Tötung von Zivilisten und Zerstörung von ziviler Infrastruktur und Wohnungen. Rein rechtlich gesehen, hätten sich die weit überwiegend jungen Kämpfer aus dem Gaza-Streifen auf den Kampf gegen Polizei und Militär beschränken müssen.

Aber völlig zu Recht betonen viele überlegte Stimmen aus der weltweiten Friedensbewegung und bekannte Persönlichkeiten aus Israel und Palästina wie Mustafa Barghouti oder der Haaretz-Journalist Gideon Levy, die sinngemäß diagnostizieren: Die Grausamkeiten gegen israelische Zivilisten sind Ergebnis und Spiegelbild der jahrzehntelang erfahrenen Unterdrückung und Entmenschlichung des palästinensischen Volkes, sind Resultat aufgestauter Frustration und Wut. Ein Ende der Besatzung und Selbstbestimmungsrecht für das palästinensische Volk sind der einzige Weg zu einer Lösung. Auch israelische Zivilist:innen bekamen für einige Stunden die bitteren Früchte zu schmecken, die ihnen ihre Regierung und ihre weitgehend rechten, ja rechtsextremen Parteien aufgetischt haben und weiter auftischen. Und vergessen wir nicht, dass die Hunderttausende, die gegen den Verfassungsputsch der Netanjahu-Regierung protestiert haben, nicht bereit waren, die Unterdrückung der Palästinenser:innen und die Apartheid zu thematisieren.

Grausame Handlungen von Kämpfern der Kassam-Brigaden oder der Brigaden des islamischen Dschihad (also den wichtigsten militärischen Faktoren des palästinensischen Widerstands) vor allem in Gaza, müssen kritisiert werden, aber nicht in einer Weise, die sich in die Propaganda-Flut des Mainstreams einklinkt. Wir dürfen die Vorkommnisse nicht von den allgemeinen Bedingungen isoliert sehen und bewerten.

Glaubt jemand ernsthaft, dass der Mainstream in den USA, der EU bis hin zur Bundesrepublik anders argumentieren würde, wenn bei dem aktuellen Ausbruch aus dem „größten Freiluftgefängnis der Welt“ und nach 16 Jahren kollektiver Geiselhaft nicht ein einziger israelischer Zivilist getötet worden und nur einige Dutzend Soldaten und Polizisten gefallen wären? Glaubt jemand wirklich, dass dann die Welt eher geneigt wäre, Verständnis für die palästinensische Sache zu zeigen und „der Hamas” zumindest etwas moralischen Kredit eingebracht hätte? Das ist angesichts der politischen Großwetterlage vergebliche Spekulation. Nach aller Erfahrung wäre die Propagandaflut gegen den „palästinensischen Terrorismus“ kaum anders ausgefallen.

Die Interessenlage ist so ungleich verteilt und festgefahren, dass jeder, auch friedliche Angriff auf den zionistischen Apartheidstaat als Bollwerk des Westens und internationale Waffenschmiede verurteilt und bekämpft wird. Vergessen wir nicht, wie gegen das rein friedliche Mittel Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) vorgegangen wird (Gerichtsurteile hin, Gerichtsurteile her), das 2005 von hunderten Akteur:innen der palästinensischen Zivilgesellschaft ausgegangen ist, um Besatzung, Annexion und Unterdrückung zu bekämpfen? Was immer noch und hartnäckig als antisemitisch und israelfeindlich abgestempelt wird. Wann und wo haben Mainstream-Medien sachlich oder gar wohlwollend über BDS berichtet?

Die Komplizenschaft des „wertebasierten“ Westens mit dem Apartheidstaat ist immer schlimmer geworden. Die Tatsache, dass jetzt eine offen rechtsradikale und annexionistische Regierung am Ruder ist, die hohe Zahl an Morden an Palästinenser:innen (allein seit Beginn des Jahres und noch vor dem aktuellen Krieg über 200, darunter viele Kinder) und ihre immer schlimmere, allgemeine Unterdrückung hat zu keiner Distanzierung der westlichen Regierungen geführt. Die Waffengeschäfte nehmen absurde Ausmaße an.

Unsere berechtigte Kritik an den Kämpfern aus Gaza darf nicht die entscheidenden Ursachen abschwächen oder ausblenden. Insbesondere, da der Rachefeldzug der israelischen Regierung schon jetzt ganz furchtbare Ausmaße annimmt. Die vollkommen völkerrechtswidrige und bestialische Abschaltung aller Strom- und Wasserleitungen, der Lebensmittellieferungen, die noch schärfere Abriegelung von Gaza durch das Apartheidregime, die wiederholte wahnwitzige Bombardierung der Zivilbevölkerung und der drohende Einmarsch von Bodentruppen mit absehbar zahllosen Opfern und Zerstörungen bestimmen das Bild. Der israelische Verteidigungsminister hat auf Fragen von Journalist:innen, inwieweit das denn völkerrechtlich zu vertreten sei, eiskalt geantwortet: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und das bestimmt unser Handeln.“

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das Völkerrecht verbietet das willkürliche Schädigen und Morden von Zivilbevölkerung. Die Palästinenser:innen haben aber bisher immer erfahren müssen, dass Israel und der „wertebasierte Westen“ darauf scheißen. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist in ihrer Einstellung immer rechtsradikaler geworden. Selbst die großen Demonstrationen gegen den Verfassungs-Putsch der Netanjahu-Regierung dulden kaum Demonstrant:innen, die auch die Rechte der Palästinenser:innen einfordern.

Die falsche Gleichsetzung von jüdischen Israelis mit den Unterdrückungsorganen, wie sie häufig in den Köpfen von Palästinenser:innen besteht (was ja auch von der zionistischen Staatsideologie eifrig befördert wird), führt – nicht zum ersten Mal ‒ zu schweren Fehlern im Widerstandskampf. Hätten die Massendemonstrationen gegen den Verfassungsputsch Netanjahus endlich einmal die Unterdrückung der Palästinenser und das Apartheid-Regime thematisiert, wäre es den Eiferern unter den Gaza-Kämp­fern erheblich schwerer gefallen, gegen Zivilist:innen vorzugehen. Wieder einmal eine verpasste Chance – und das korrupte und rechtsbrecherische Netanjahu-Regime ist wieder obenauf, beschwört die nationale Einheit und gemeinsame Kriegsanstrengungen.

Politische und taktische Kritik an den Kassam-Brigaden und den Dschihadisten ist notwendig. Sicher müssen wir von einer politisch-militärischen Führung – auch einer islamistischen – verlangen, dass sie sich am Völkerrecht orientiert. Sicher ist eine andere Art der Kampfführung möglich und notwendig. Aber auch hier gilt: Der Ton macht die Musik.

Wir wissen aus langer Erfahrung, dass völkerrechtlich basierte Kriegsführung eindeutig nicht im Wertekanon der USA oder der EU steht, von Israel ganz zu schweigen. Wir vergessen nicht, was die USA in Indochina angerichtet haben, im Irak, in Libyen, in Afghanistan. An welchen Beispielen sollen sich islamistische Führungen wie Hamas – oder die jungen Kämpfer allgemein – denn orientieren? Selbst Selenskyj erklärt sich für Israel und gegen die Palästinenser:innen, obwohl er ständig auf den Überfall des großen Nachbarn, seinen Landraub und seine kriminelle Kriegsführung verweist.

Die Mainstream-Parteien in Deutschland und der EU stehen eindeutig auf Seiten des Unrechts. Sie bereiten jetzt eine weitgehende Sperrung aller Gelder für Palästina vor – eindeutig eine Kollektivstrafe, die das Völkerrecht verbietet, was immerhin auf Kritik aus etlichen EU-Staaten und seitens der UN getroffen ist. Die Beck, Roth und Konsorten hetzen in diese Richtung, aber die Richtung geben schon andere vor. Der „wertebasierte“ Westen ist dabei, umfangreiche Waffen- und Munitionslieferungen nach Israel zu schicken und Luftüberwachung zu organisieren, um Gaza aufzurollen. Es besteht die akute Gefahr einer weiteren Nakba – der massenhaften Vertreibung der bereits mehrmals vertriebenen Gaza-Bevölkerung. Die UN verurteilt Kriegsverbrechen auf beiden Seiten – aber wen kümmert es?

Der Gewaltausbruch der jungen Gaza-Kämpfer und ihre Bereitschaft, sich zu opfern, bringt nichts anderes als Verzweiflung und aufgestaute Wut zum Ausdruck. Sie leben im Vorhof zur Hölle – oder schon mit einem Fuß drin. Was haben wir hier zu rechten? Wir wissen, wer die Mörder sind, wer die Mordwerkzeuge und die sonstigen Bedingungen liefert und festigt. Wir müssen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Mördern und Ermordeten unterscheiden, sonst laufen wir Gefahr, unsere grundsätzliche Parteinahme gegen das Unrecht zu untergraben. Keine Kritik, die dem Wüten des Apartheidstaats irgendeine Legitimität verleihen könnte, keine falschen Signale!

Es gibt in sehr wichtiges, aktuelles CNN-Interview mit dem palästinensischen Politiker Mustafa Barghouti. Er distanziert sich nicht lang und breit von der Kampfführung der Hamas, wie es der Journalist eingangs von ihm verlangt hat, sondern geht präzise auf die Hintergründe, die Rahmenbedingungen und die israelische Politik ein, die vom Westen unterstützt wird.

Mir fällt ein Gespräch mit einer jungen „Kopftuch-Palästinenserin“ ein (einer Literaturstudentin), das ich 2011 im Bus bei einer Exkursion im Westjordanland hatte. Ich fragte sie, was sie von den Selbstmordanschlägen gegen israelische Zivilist:innen halte, denen schon viele zum Opfer gefallen waren, und ob sie dazu auch bereit wäre. Sie überlegte kurz und antwortete: Weißt Du, mein Bruder sitzt wegen seiner politischen Aktivität im Gefängnis, unser Haus wurde zerstört, meine Familie hat kaum noch das Nötigste. Manchmal denke ich schon darüber nach…

Das gab mir zu denken.

11. Oktober 2023

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