Interview von David Nassar mit Gilbert Achcar, Samstag, 15. September 2018.
Für Gilbert Achcar befindet sich der Friedensprozess „in einer völligen Sackgasse“.
25 Jahre nach den Oslo-Abkommen steht der Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinenser*innen still. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanyahu – die am weitesten rechtsgerichtete in der Geschichte des zionistischen Staates – will nichts von Friedensverhandlungen wissen. Die palästinensische Führung scheint nicht in der Lage zu sein, das Scheitern dieser von Jassir Arafat eingeleiteten Dynamik zu überwinden. Die Vereinigten Staaten als wichtigster Vermittler haben mit dem Amtsantritt von Donald Trump mit ihrer traditionellen Diplomatie gebrochen, die darin bestand, keine Entscheidung zu treffen, die den Friedensprozess stoppen würde. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären, die das Ungleichgewicht im Kräfteverhältnis zwischen Israelis und Palästinenser*innen verstärkt und jegliche Aussicht auf Frieden vereitelt? Professor Gilbert Achcar von der School of Oriental and African Studies (SOAS, University of London), Autor mehrerer Bücher, darunter Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen (dt. 2012, Nautilus), liefert im Interview mit L’Orient-Le Jour einige Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der Ereignisse seit den Oslo-Abkommen.
David Nassar: Sind die Oslo-Abkommen tot und begraben?
Gilbert Achcar: Die Oslo-Abkommen sind eine Totgeburt. Ich gehöre zu der Minderheit derjenigen, die 1993 diese Vereinbarungen kritisiert und davor gewarnt haben, dass sie in eine Sackgasse münden würden. Der berühmteste Kritiker damals war der mittlerweile verstorbene Edward Said. Diese Abkommen beruhen auf einer Art naiver Hoffnung von Jassir Arafat und der palästinensischen Führung, dass es möglich wäre, eine Dynamik in Gang zu setzen und das Ziel eines unabhängigen palästinensischen Staates zu erreichen. Auf dieser Grundlage haben sie in die Unterzeichnung eines Abkommens eingewilligt, für die sie auf die wichtigsten Bedingungen verzichteten, die insbesondere die in Palästina selbst lebenden palästinensischen Verhandlungsführer*innen bis dorthin verteidigt hatten. Das betrifft insbesondere das Einfrieren des Siedlungsbaus und erst recht die Jerusalem- und die Flüchtlingsfrage.
Auf der israelischen Seite gab es keine Illusion oder naive Hoffnung, die Perspektive war ganz anders. Die Oslo-Abkommen waren Teil der seit 1967 entwickelten Perspektive, das Westjordanland zu kontrollieren, aber ohne die palästinensischen Zentren, die das demografische Gleichgewicht verändern würden. Die Kolonisierung des Westjordanlandes zielt darauf ab, diese faktische Annexion des größten Teils dieses Territoriums zu verwirklichen und die palästinensisch bevölkerten Gebiete der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde zu unterstellen, die die Rolle einer Art „Stellvertreterpolizei“ zu spielen hat.
Am ehesten entspricht die Situation der Palästinensischen Autonomiebehörde jener der Bantustans in Südafrika, d. h. sogenannter Staaten für die schwarze Bevölkerung, die während der Apartheidzeit in der Tat der Herrschaft des südafrikanischen Staates unterstanden. Wie Kritiker*innen vorhergesagt hatten, haben die Oslo-Abkommen keineswegs zu einem Einfrieren und damit zum Abbau von Siedlungen geführt, sondern den Siedlungsbau beschleunigt. Die koloniale Expansion hat sich im Zeitraum 1993–2000 verdoppelt und entspricht damit dem Zuwachs im gesamten Zeitraum 1967–1993.
Wie hat Oslo den Prozess der Kolonisierung der palästinensischen Gebiete beschleunigt?
Die Oslo-Abkommen schufen eine Ruhe, die der Beschleunigung der Kolonisierung zugutekam. Die Kontrolle, die die Palästinensische Autonomiebehörde über die palästinensische Seite ausübt, hat das Risiko von Angriffen und Demonstrationen erheblich verringert. Die zionistische Bewegung nutzte die Gelegenheit, die Kolonisierung zu intensivieren.
Wie lässt sich die zurzeit verfahrene Situation erklären?
Der Prozess befand sich bis zum Tod von Jassir Arafat im Jahr 2004 in einer akuten Krise. Auf ihn folgte Mahmoud Abbas, der Lieblingskandidat der Regierung Bush. Obwohl er bei der Unterwerfung unter die israelisch-amerikanischen Bedingungen weiter ging als jeder palästinensische Führer vor ihm, erhielt er nichts. Es ist offenkundig, dass wir uns in einer völligen Sackgasse befinden, was zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Osloer Abkommen durchaus vorhersehbar war.
Heute wird die Situation noch verschärft durch die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten seit 2017 eine Regierung haben, die weit über die traditionelle pro-israelische Parteinahme amerikanischer Regierungen hinausgeht. Wir haben es hier mit einer Verwaltung zu tun, die mit der extremen israelischen Rechten übereinstimmt und die meiner Meinung nach die politischen Voraussetzungen für eine offizielle Annexion der derzeitig unter israelischer Kontrolle stehenden Gebiete des Westjordanlandes durch Israel schafft.
Wie würde diese Annexion gegenüber der internationalen Gemeinschaft gerechtfertigt?
Das wäre im Einklang mit der Logik der israelischen extremen Rechten, die eine einseitige Trennung will. Ihr Problem ist: Was tun mit den verbleibenden palästinensischen Gebieten? Die Regierung Trump versuchte mit Jared Kushner, Jordanien davon zu überzeugen, wieder die Kontrolle dafür zu übernehmen. Natürlich wollen die Jordanier diese heiße Kartoffel nicht. Wir bewegen uns auf eine offizielle Annexion, eine de jure Annexion zu. Der Vorwand wird die palästinensische Ablehnung des viel zitierten amerikanischen Friedensplans sein. Die Israelis werden dann sagen: „Seht ihr, die Palästinenser haben die Friedenspläne immer abgelehnt, also werden wir einseitig handeln und die Gebiete annektieren.“
Ist die Kolonisierung irreversibel?
Nein, es wäre möglich, den Prozess umzukehren, wenn es einen amerikanischen Willen gäbe, Israel den Rückzug aus den seit 1967 besetzten Gebieten aufzuzwingen. Ohne eine schwere Krise in Israel wäre das natürlich nicht machbar, aber es ist nicht unmöglich. Im Westjordanland gibt es nicht mehr Siedler*innen, als es in Algerien 1962 Europäer*innen gab, die das Land dann verlassen haben. Es ist eine Frage des politischen Willens. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr werden die Israelis Wurzeln schlagen und desto schwieriger wird es. Beim derzeitigen Kräfteverhältnis sehen wir nicht, wie dies erreicht werden kann.
Glauben Sie, dass es eine alternative Lösung für die Schaffung eines palästinensischen Staates gibt?
Ein Argument ist die Forderung nach einem gemeinsamen Staat, der manchmal als binational oder säkular bezeichnet wird, ohne dabei einen nationalen Faktor zu berücksichtigen. Aber für mich ist das noch utopischer als der Rückzug der Siedler*innen aus den Gebieten. Die Logik, der zufolge es, weil ein Rückzug der Siedler*innen unmöglich ist, einen einzigen Staat geben muss, in dem die Palästinenser*innen das Wahlrecht haben und Palästinenser*innen und Israelis gleichberechtigt sind, ist heute noch schwerer vorstellbar. Wir befinden uns also in einer Sackgasse. Es ist tragisch, aber in diesem Konflikt ist heute kein Ausweg in Sicht.
Übersetzung aus dem Französischen: Birgit Althaler
Gilbert Achcar: Les accords d’Oslo ont accéléré la colonisation israélienne, in: L’Orient-Le Jour, 15.9.2018, https://www.lorientlejour.com/article/1134445/gilbert-achcar-les-accords-doslo-ont-accelere-la-colonisation-israelienne.html