„Menschliche Schutzschilde“

Solidarität mit Palästina Foto: Socialist Appeal, cc-by 2.0

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Auf dem Weg zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens

„Menschliche Schutzschilde“

Von Hermann Dierkes | 16.11.2023

Israel wirft der Hamas vor, sie benutze die Zivilbevölkerung in Gaza als „menschliche Schutzschilde“; diese Beschuldigung wird seit langem auch gegen den palästinensischen Widerstand im Westjordanland erhoben. Das Platzieren von „Nichtkombattanten“ innerhalb, in der Nähe oder vor militärischen Zielen, um den Gegner so von einem Angriff abzuhalten, ist nach den Genfer Konventionen illegal.

Menschenrechtsorganisationen, Vertreter:innen der Vereinten Nationen und eine lange Reihe von Staaten werfen Israel Kriegsverbrechen bis hin zu genozidaler Kriegsführung vor. Sie bestätigen, dass die israelische Kriegsführung allein seit dem erneuten Angriff auf Gaza nach dem 7. Oktober über 11 000 Tote und zehntausende von Verletzten gefordert hat ‒ die übergroße Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder. Zu ihrer Rechtfertigung beschuldigt die israelische Armee die den Gaza-Streifen seit 2007 beherrschende Hamas, sie benutze Zivilist:innen als menschliche Schutzschilde, sogar in Krankenhäusern. Hamas weist die Vorwürfe energisch zurück.

Die israelische Regierung und Armeeführung haben den Vorwurf oft wiederholt. Die Hamas verschanze sich hinter Zivilisten. Menschliche Schutzschilde seien „ein Schlüsselelement bei ihren Terroroperationen“, so Netanjahu gegenüber Biden. Der Vorwurf gehört schon seit langem zum Propagandaarsenal der israelischen Politik und Armee, um auch ihre jahrzehntelange Unterdrückung und Zerstörung im Westjordanland zu rechtfertigen, die immer wieder eine hohe Opferzahl von Zivilist:innen und Kindern fordert. Das israelische Regime ist allerdings konkrete Beweise immer schuldig geblieben. Die IOF (engl. Abkürzung für Israelische Besatzungsmacht) ist allerdings bekannt dafür, dass sie oftmals Zivilist:innen und Familienmitglieder vorgeschickt hat, um in deren Schutz Häuser zu stürmen. In internen Anweisungen verlangen deutsche Leitmedien wie die ARD, dass ihre Journalist:innen die israelische Darstellung übernehmen.

Im laufenden Krieg gegen den Gaza-Streifen wird das Argument der Schutzschilde wieder benutzt, um die Evakuierungsbefehle für den gesamten Norden zu begründen, einschließlich der völkerrechtlich geschützten Krankenhäuser wie al-Schifa, das größte von Gaza. Der Beschuss von Krankenhäusern und Krankenwagen wird damit gerechtfertigt, diese würden von „Terroristen“ missbraucht, und damit seien sie „legitime Ziele“ für militärische Angriffe. Die meisten Krankenhäuser mussten mangels Energie, Hilfsmitteln und nach Zerstörungen ihren Betrieb einstellen. Unter dem al-Schifa-Hospital befände sich die wichtigste Kommandozentrale der Hamas. Es wurde zum Symbol der israelischen Angriffe. Der norwegische Arzt Mads Gilbert, der 16 Jahre dort gearbeitet hat, versichert, dass er dort zu keiner Zeit irgendwelche militärischen Aktivitäten bemerkt hat.

In der Nacht vom 14. auf den 15. November wurde das 45 000 qm große Klinikgelände mit 1500 Ärzt:innen und Pflegekräften, tausenden Patient:innen und Schutzsuchenden nach einer Teilbombardierung mit Panzern und Kampfeinheiten beschossen, gestürmt, durchsucht, ein Lager mit medizinischen Hilfsmitteln gesprengt, an den Gebäuden sowie in wichtigen Abteilungen erhebliche Zerstörungen angerichtet. Aber es fand sich bis zum folgenden Abend nichts, was die US-israelische Fake-Propaganda steif und fest behauptet hatte: weder militärische Kommunikationseinrichtungen, Hamas-Kämpfer noch Waffenlager und Geiseln. Mustafa Barghouti, der bekannte palästinensische Arzt und Politiker dazu: Die paar Handfeuerwaffen und den Laptop, den man der Öffentlichkeit nach vielen Stunden präsentierte, konnten von den Israel Occupation Forces selbst dort platziert worden sein. Hilfsorganisationen und Hamas selbst hatten immer wieder dazu aufgefordert, eine unabhängige Untersuchungskommission in die Klinik zu schicken, was Israel stets abgelehnt hat.

Nach letzten Informationen hatte sich die israelische Armee zeitweise aus den Gebäuden zurückgezogen, mehrere Dutzend Vertriebene verhaftet, sie gezwungen, sich auszuziehen und an unbekannten Ort mitgenommen. Sie belagert die Klinik aber weiter, benutzt Gesichtserkennungs-Software und durchsucht weiter. Demonstrativ für die Weltöffentlichkeit wurden einige Holzkisten mit der englischsprachigen (nicht israelischen oder arabischen!) Aufschrift „Medical Supplies“ in das Krankenhaus geschleppt. Die Armeepropaganda verbreitete, darin seien auch Inkubatoren für die 36 mangels Sauerstoff um ihr Leben kämpfenden Frühchen. Krankenhausleitung und Ärzte sagen, an Inkubatoren fehle es nicht, was fehlt sei Strom, der seit Wochen ganz oder teilweise abgeschaltet ist. Die geringen Mengen an Dieseltreibstoff, die inzwischen die Grenzstation Rafah passieren durften, sind von der IOF ausdrücklich nicht für Krankenhäuser zugelassen, um medizinische Anlagen zu betreiben.

Die wochenlange Fake-Propaganda der israelischen Seite und die noch am Tag zuvor von John Kirby, „Kommunikationsdirektor“ des US National Security Council, wiederholte Behauptung, „geheimdienstliche Quellen“ hätten die Existenz der Hamas-Kommandozentrale unter dem al-Schifa-Hospital bestätigt, waren geplatzt wie Luftballons. Dafür aber hatte man tausende Patient:innen, unter ihnen viele Schwerverletzte, bis zu 2500 Schutzsuchende und das Krankenhauspersonal terrorisiert sowie  weitere Menschenleben gefährdet.

Völkerrechtliche Lage

Nach dem Völkerrecht handelt es sich bei „menschlichen Schutzschilden“ um Zivilist:innen oder andere geschützte Personen, deren Anwesenheit genutzt wird, um militärische Ziele vor gegnerischer Bekämpfung zu schützen. Das ist laut Genfer Konvention (Protokoll I) verboten, gilt als Kriegsverbrechen und Verstoß gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Man unterscheidet drei Arten von menschlichen Schutzschilden: Freiwillige und erzwungene (als Tauschobjekte oder um einen Angriff abzuwehren) sowie nächstliegende („proximate shields“), weil Menschen sich in der Nähe der Kampfhandlungen befinden.

Nachdem Israel 1,1 Millionen Menschen im Norden des Gazastreifens ultimativ aufgefordert hatte, sich in Schutzzonen nach Süden zu begeben (wie auch immer ‒ Transportmittel stehen fast nicht mehr zur Verfügung oder haben keinen Treibstoff mehr). Die Anordnung wurde vielfach nicht befolgt, weil die Menschen – zu Recht – Angst hatten, sie würden unterwegs beschossen und bombardiert (was ja auch immer wieder geschieht), weil keine Aufnahmemöglichkeiten vorhanden sind und weil sie befürchten mussten, ihre Heimat für immer zu verlieren. Auch der Süden Gazas wird immer wieder bombardiert.

Neve Gordon, ein israelischer Rechtswissenschaftler und Anwalt für internationales Recht, der nach Todesdrohungen in London lebt, Autor von Publikationen über die israelische Besatzung/Annexion und ihre militärische Architektur sowie Koautor von Human Shields: A History of People in the Frontline, erklärt dazu, dass der Evakuierungsbefehl dazu führt, dass Israel diese Bevölkerung insgesamt als „proximate shields“ betrachtet und behandelt. Und „proximate shields“ sind ‒ im Gegensatz zu den beiden ersten Varianten ‒ solange vorhanden, wie die Kämpfe andauern. Israelische Regierungsstellen behaupten auch, Hamas habe Zivilist:innen daran gehindert, Nord-Gaza zu verlassen (wofür keinerlei Beweis angetreten wurde) und viele, die verbleiben wollten, werden nun als „Komplizen einer terroristischen Organisation“ behandelt. Zu diesem Zweck warfen die IOF entsprechende Flugblätter ab und verschickten telefonische Warnungen.

Die Anwesenheit von menschlichen Schutzschildern macht nicht in jedem Fall z. B. ein Gebäude immun gegen Angriffe. Die militärischen Ziele hinter ihnen können auch angegriffen werden, was die Zahl der zivilen Opfer allerdings regelmäßig erhöht. Es müssen allerdings die Grundsätze der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Menschliche Schutzschilde verlieren also nicht ihre Schutzbedürftigkeit.

Marc Weller, Professor für internationales Recht und internationale Verfassungsstudien an der Universität Cambridge, erklärt das gegenüber dem Sender al-Jazeera wie folgt: „Wenn etwa 1000 Menschen in einem Gebäudekomplex Schutz gesucht haben, in dem sich erwiesenermaßen Hamas-Kämpfer aufhalten, so darf Israel nur Soldaten einsetzen, um gezielt den Gegner zu bekämpfen (Prinzip der Unterscheidung). Will es allerdings den Komplex mit Fliegerbomben angreifen, so muss es nicht nur die Existenz von feindlichen Stellungen beweisen, sondern auch darlegen können, dass die Verluste an Zivilisten und materiellen Schäden im Verhältnis zu den militärischen Vorteilen angemessen sind (Prinzip der Verhältnismäßigkeit). Außerdem muss vorher gewarnt und die Möglichkeit der Evakuierung gegeben werden. Die Evakuierung von 1,1 Mio. Menschen anzuordnen und diese dann als legitimes Ziel anzugreifen, ist allerdings ein klarer Verstoß gegen diese Prinzipien. Israel darf sich nicht über seine Verpflichtung zur Unterscheidung hinwegsetzen, indem es sich die Zivilisten wegwünscht. Dies verlagert das Schutzprinzip von den Angreifern auf die Opfer. (…) Die bloße Tatsache, dass bis jetzt nur 44 israelische Soldaten gefallen sind, aber über 11 000 Palästinenser, zeigt uns, dass jede Verhältnismäßigkeit missachtet wird und alle vernünftigen Grenzen weit überschritten sind.“

Die israelische Führung und Armee hat durch Wort und Tat schwere Kriegsverbrechen herbeigeführt und verübt und durch Flächenbombardierung sowie die begonnene Vertreibung Hunderttausender den Weg zu einer ethnischen Säuberung Gazas und zu einem Genozid beschritten. Viele Bilder von heute gleichen denen von 1948. Es handelt sich um Terror auf höchstem Niveau. Dafür muss sie zur Rechenschaft gezogen werden, genau wie ihre Kompliz:innen in den USA und der EU.

Eine große Gruppe von Anwält:innen hat beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Anzeige erstattet. Entscheidend bleibt aber, dass die internationalen Proteste weitergehen und massiv ausgeweitet werden: sofortiger Waffenstillstand und massive humanitäre Hilfe jetzt!

16.11.2023

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