Israels Rassismus

Israelische Soldaten im Gaza-Streifen Foto: Israel Defense Forces, Israel Defense Forces IDF soldiers operating in Gaza., CC BY-NC 2.0

TEILEN
Antipalästinensische Gewalt

Israels Rassismus

Von Gilbert Achcar | 26.05.2021

Anti-arabischer Rassismus ist ein wichtiger Teil von Israel. Doch dieser spielt in der öffentlichen Debatte Israels eine viel geringere Rolle als der anti-schwarze Rassismus in den USA.

George Floyd wurde vor fast genau einem Jahr, am 25. Mai, in Minneapolis kaltblütig, wenn auch unbeabsichtigt, durch „felony assault“ (einen strafbaren Angriff) ermordet. Nachdem die Nachricht und das Video von seiner Ermordung viral gegangen waren, erlebte das Gebiet Minneapolis-Saint Paul Tage mit gewalttätiger Randale und Plünderungen. Das Ergebnis war die „zweitgrößte zerstörerische Periode lokaler Unruhen in der Geschichte der Vereinigten Staaten nach den Unruhen in Los Angeles 1992“.

Man stelle sich vor, der Bürgermeister von Minneapolis hätte den Aufruhr der schwarzen Bevölkerung mit dem Kristallnacht-Pogrom der Nazis 1938 verglichen…

Am 28. Mai sagte Jacob Frey, der Bürgermeister von Minneapolis, vor Reporter*innen, die Wut der Protestierenden sei „nicht nur verständlich, sondern richtig“. Er fügte hinzu: „Was wir in den letzten zwei Tagen gesehen haben, (…) ist das Ergebnis von so viel aufgestauter Wut und Trauer (…), die tief in unserer schwarzen Bevölkerung verwurzelt ist, nicht aufgrund von fünf Minuten des Schreckens, sondern von 400 Jahren“. Die Aufruhre führten zur Entsendung der Nationalgarde in das Gebiet Minneapolis-St. Paul. „Es ist Zeit für Umbau. Umbau der Stadt, Umbau unseres Justizsystems. (…) George Floyds Tod sollte zu Gerechtigkeit und systemischer Veränderungen führen, nicht zu mehr Tod und Zerstörung“ sagte Tim Walz, der Gouverneur von Minnesota, der die Entsendung angeordnet hatte.

Man stelle sich vor, der Bürgermeister von Minneapolis hätte den Aufruhr der schwarzen Bevölkerung mit dem Kristallnacht-Pogrom der Nazis 1938 verglichen und auch der Gouverneur von Minnesota hätte, anstatt dass er die Notwendigkeit von Gerechtigkeit und Systemwandel anerkannte, den Aufruhr als „Pogrom“ bezeichnet, der von „einem aufgehetzten und blutdürstigen schwarzen Mob“ begangen worden sei. Sie wären allgemein, heftig und zu Recht für die Verwendung ungeheuerlich verleumderischer Analogien und für offensichtlich rassistische Stellungnahmen verurteilt worden, auch dafür, dass sie für die Realität von Rassismus und Ungerechtigkeit als System in ihrer Stadt und ihrem Staat vollkommen blind seien. Nur Fans von Donald Trump, die Verfechter von weißer Vorherrschaft sind, hätten solchen Stellungnahmen begeistert zugestimmt.

Man betrachte nun den Ausbruch von Gewalt, der vor kurzem in dem israelischen Staat in den Grenzen von 1967 vor dem Hintergrund der Massenproteste in Jerusalem stattgefunden hat, gefolgt von dem Flächenbrand zwischen Gaza und Israel. In der Stadt Lod protestierten palästinensische Staatsbürger Israels, die dort ein Drittel der Bevölkerung stellen, wie andere „arabische Israelis“ in Solidarität mit ihren Mit-Palästinenser*innen in Jerusalem. Diese waren mit einem erneuten Kriegsverbrechen konfrontiert, das fanatische Siedler planten, die beabsichtigten, acht palästinensische Familien aus dem Ost-Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah zu vertreiben, um sich selbst dort niederzulassen. Musa Hasuna, ein 30 Jahre alter palästinensischer Einwohner von Lod, wurde am Montag, dem 10. Mai, von einem jüdischen Einwohner erschossen ‒ aus Versehen sagen die jüdischen Nachbarn des Letzteren; „aus nächster Nähe“ sagte der Vater des Opfers.

Die israelische Gesellschaft und der israelische Staat leugnen nicht nur diese Hinterlassenschaft, sondern sie machen sie durch den jüdischen Kolonialismus in Palästina, der anders als der weiße Kolonialismus in Nordamerika ein noch andauernder Prozess ist, Tag für Tag schlimmer.

Sein Begräbnis am nächsten Tag führte zu Krawallen, die durch Zusammenstöße zwischen Palästinensern und der Polizei entfacht wurden – Krawalle, die sich nicht von denen in Minneapolis unterschieden, nur dass sie viel kleiner waren. Wie sah die Reaktion der israelischen Behörden aus? „Das ist die Kristallnacht in Lod“, sagte Jair Revivo, der Bürgermeister von Lod‚ im Fernsehen. Der israelische Präsident Reuven Rivlin ging weiter und erklärte: „Das Pogrom in Lod und die Unruhen im ganzen Land durch einen aufgehetzten und blutdürstigen arabischen Mob, der Menschen verletzte, Sachschaden verursachte und sogar heilige jüdische Orte angriff, sind unverzeihlich.“

Dieser riesige Unterschied zwischen den offiziellen Reaktionen auf die schwarzen Riots in den Vereinigten Staaten und die arabischen Riots in Israel sagt viel aus über den großen Abstand zwischen dem zunehmenden Eingeständnis seitens der Gesellschaft und des Staats in den USA, was die Hinterlassenschaft des anti-schwarzen Rassismus, auf dem sie historisch aufgebaut sind, sowie den Heilungsprozess betrifft, mit dem sie seit einigen Jahrzehnten beschäftigt sind und bei dem noch sehr viel mehr zu tun ist, auf der einen Seite und der vorsätzlichen Blindheit von Gesellschaft und Staat im jüdischen Israel gegenüber der Hinterlassenschaft des anti-arabischen Rassismus, auf dem sie historisch aufgebaut sind, auf der anderen Seite. Die israelische Gesellschaft und der israelische Staat leugnen nicht nur diese Hinterlassenschaft, sondern sie machen sie durch den jüdischen Kolonialismus in Palästina, der anders als der weiße Kolonialismus in Nordamerika ein noch andauernder Prozess ist, Tag für Tag schlimmer.

Rassismus ist also ein wesenhafter Bestandteil des israelischen Staates, wie der französische Wissenschaftler Maxime Rodinson[i] vor dem Hintergrund des Sechs-Tage-Krieges 1967 erklärte: „Der Willen, im 20. Jahrhundert in einem arabischen Palästina einen rein jüdischen oder hauptsächlich jüdischen Staat zu schaffen, konnte nur zu einer Situation vom Typus Kolonie und zur (soziologisch gesprochen völlig normalen) Ausbildung einer rassistischen Einstellung und letztendlich zu einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden ethnischen Gruppen führen.“[ii]

Die gleiche Wahrheit erkannte der israelische Schriftsteller David Grossman an, als er einige Monate nach dem Verlust seines Sohnes im israelischen Krieg gegen den Libanon 2006 bei der Gedenkfeier für Yitzhak Rabin am 4. November des gleichen Jahres „Israels schnellen Abstieg in die herzlose, im wesentlichen brutale Behandlung seiner Armen und Leidenden“ beklagte:

„Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Hungernden, der Alten, der Kranken und Behinderten, gegenüber all denen, die schwach sind, dieser Gleichmut des Staates Israel gegenüber Menschenhandel oder den fürchterlichen Beschäftigungsverhältnissen unserer ausländischen Arbeiter, die an Sklaverei grenzen, bis hin zu dem tief verwurzelten institutionellen Rassismus gegenüber der arabischen Minderheit.“

Im offiziellen Diskurs von Israel werden allerdings der „tiefverwurzelte institutionelle“ anti-arabische Rassismus und der Siedler-koloniale Charakter des Staates vehement geleugnet, obwohl das so offensichtlich ist wie nur möglich und von prominenten historischen Persönlichkeiten des Zionismus auch eingeräumt wurde. Die ideologische Ausflucht für diese Leugnung war lange Zeit die Beschwörung von Europas grauenhaftem Erbe des Antisemitismus und des Holocaust, als ob die Nachkommen eines Volkes, das vor Verfolgung und Massaker geflohen war, dadurch das Recht erhalten hätten, das Gleiche mit anderen Völkern zu machen. Unter dem Strich ähneln die israelischen Lynch-Mobs, die „Tod den Arabern“ rufen, unter den strukturellen Bedingungen von Gewalt im israelischen Kontext jüdischer Vorherrschaft unvergleichlich mehr Pogromen als die palästinensischen Riots.

Der israelische Kolonialrassismus zeigt sich bei der Verfolgung seiner palästinensischen Bürger*in­nen; er zeigt sich bei der fortwährenden kolonialen Enteignung der wenigen Bodenparzellen, die sich im Besitz von Palästinenser*innen befinden und auf denen sie noch im historischen Palästina leben; er zeigt sich in der grausamen Bombardierung von Gaza im Namen einer in keinerlei Verhältnis stehenden „Selbstverteidigung“, die der kolonialen Tradition des Ausspruchs von Kurtz „Schlagt diese Bestien alle tot“[iii] in der Erzählung von Joseph Conrad sehr ähnlich ist. Es geht um genau diesen Rassismus, dessen Benennung und Verurteilung Unterstützer*innen von Israel verhindern wollen, indem sie das mit „Antisemitismus“ gleichsetzen; dabei beruft man sich auf eine tendenziöse Definition von Antisemitismus, diese besagt, Aussagen, wonach „die Existenz eines Staats Israel ein rassistisches Unterfangen ist“ – wie in dem Zitat von Maxime Rodinson – seien „antisemitisch“.

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Weitz, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Wilfried

Dieser Artikel ist am 18. Mai 2021 auf der Website der US-amerikanischen Zeitschrift New Politics veröffentlicht worden. New Politics, deren zweite Folge seit 1986 mit zwei Heften pro Jahr erscheint, versteht sich als unabhängiges sozialistisches Forum. Am 22. Mai ist auf der Schweizer Webseite „A l’encontre“ eine in Absprache mit dem Autor geringfügig veränderte Fassung erschienen. Die Übersetzung erscheint mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Gilbert Achcar stammt aus dem Libanon und hat in Paris, Berlin und London gelebt, geforscht, unterrichtet und publiziert. Seit 2007 ist er Professor für „Development Studies and International Relations“ an der School of Oriental and African Studies (SOAS), die zur University of London gehört. Von seinen zahlreichen Büchern erschienen einige auf Deutsch, zuletzt Die Araber und der Holocaust: Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen (Hamburg: Edition Nautilus, 2012 https://edition-nautilus.de/programm/die-araber-und-der-holocaust/).

Quelle: https://newpol.org/israels-racism-and-the-misuse-of-antisemitism/
http://alencontre.org/ameriques/americnord/usa/le-racisme-disrael-et-linstrumentalisation-de-lantisemitisme.html


[i] Maxime Rodinson (1915‒2004) war ein französischer marxistischer Linguist, Historiker und Soziologe. Seine Eltern waren russisch-polnische Juden, die vor seiner Geburt nach Frankreich einwanderten, 1920 der kommunistischen Partei beitraten und 1943 in Auschwitz umgebracht wurden. 1940 wurde er von der Armee nach Syrien, dann in den Libanon geschickt (damals unter französischer Verwaltung), bis 1947 lebte er in Beirut. Von 1946 bis zu seinem Ausschluss 1958 war er Mitglied der Französischen Kommunistischen Partei. Seit dem „Sechs-Tage-Krieg“ im Juni 1967 trat er in Frankreich als Kritiker des zionistischen Projekts hervor, wobei er zugleich scharfe Kritik an den arabischen Regimes übte.
Von seinen Schriften (u. a. über den Islam, Israel als Produkt des Kolonialismus), von denen nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden, ist zur Zeit das Standardwerk Islam und Kapitalismus (1966, dt. 1971) lieferbar https://www.suhrkamp.de/buch/maxime-rodinson-islam-und-kapitalismus-t-9783518281840.

[ii] Maxime Rodinson, Israel: A Colonial-Settler State? Aus dem Französischen übersetzt von David Thorstad, mit einer Einleitung von Peter Buch, New York: Monad Press, 1973, S. 77.

[iii] In Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness (1899) kritzelt die Hauptperson Kurtz in ein Heft: „Exterminate all the brutes!“ https://de.wikipedia.org/wiki/Herz_der_Finsternis
Dieser Ausspruch ist auch der Titel einer Dokumentarserie des Regisseurs Raoul Peck, die im Vereinigten Königreich ab dem 1. Mai 2021 auf Sky Documentaries ausgestrahlt wurde. Sie basiert auf dem Buch Exterminate All the Brutes (1996, schwedisch 1992; dt.: Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermords, 1999) des schwedischen Schriftstellers Sven Lindqvist (1932‒2019).

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite