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Ökologie und marxistische Theorie

Marxʼ Ökologie ‒ ein unvollendetes Projekt

Von Daniel Tanuro | 07.06.2023

Das Aufkommen der ökologischen Frage in den 1950er Jahren war für verschiedene Forscher:innen Anlass, um sich mit der Auffassung von Natur und der Beziehung zwischen Mensch und Natur im Denken von Marx zu befassen.

Eine der ersten Arbeiten zu diesem Thema war Alfred Schmidts 1962 veröffentlichte Dissertation Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Dreißig Jahre später war Schmidt der Ansicht, er habe zu viel Gewicht auf den Optimismus von Marx und Engels in Bezug auf die Befreiung der Produktivkräfte gelegt und damit zu wenig Gewicht auf die „unheilvolle Dynamik der Naturbeherrschung(…), die ‒ von Bacon und Descartes methodologisch gerechtfertigt ‒ stets auch Herrschaft über den Menschen gewesen ist“ ‒ und auf die Bedeutung ihrer „Ansätze einer ,ökologischenʻ Kritik des destruktiven Aspekts der modernindustriellen Entwicklung“.[1]

Produktivismus auf der einen Seite, ökologische Kritik auf der anderen: Diese Spannung zieht sich durch die meisten späteren Beiträge über die Beziehungen zwischen Marx, den Marxisten und der Ökologie. Schematisch lassen sich zwei Extrempositionen ausmachen: die Denunziation von Marx’ Produktivismus einerseits und die Apologie seiner vermeintlichen Ökologie andererseits. Die erste hebt die produktivistischen Akzente des Kommunistischen Manifests, des Beitrags zur Kritik der politischen Ökonomie und der Grundrisse hervor; die zweite betont den Naturalismus der Manuskripte von 1844, das Konzept des Mensch-Natur-Stoffwechsels im Kapital und die Bekräftigung der Schlüsselrolle der Natur in der Kritik des Gothaer Programms. Mit einer Schwierigkeit in der Schwierigkeit: Die „produktivistischen“ Positionen nehmen eine Zwischenposition zwischen den Jugendschriften und den reifen Schriften ein.

Produktivismus auf der einen Seite, ökologische Kritik auf der anderen

„Es wäre sinnlos, anhand ausgewählter Zitate einen grünen Engel Marx einem produktivistischen Dämon Marx gegenüberzustellen“, hat Daniel Bensaïd festgestellt.[2] In der Tat, aber die Vorstellung von einem Marx, der sich so weit vortastete, dass er antagonistische Positionen zu einer so grundlegenden Frage wie der Beziehung zwischen Mensch und Natur einnahm, passt nicht zu den Anforderungen an die Strenge, die er sich selbst auferlegte. Wie lässt sich der intellektuelle Weg rekonstruieren, der ihn vom sogenannten „Naturalismus“ seiner Jugend zu seinem Optimismus in Bezug auf die Befreiung der Produktivkräfte führte, um dann Ansätze zu einer ökologischen Kritik des modernen Destruktivismus zu entwerfen (um Formulierungen von Alfred Schmidt aufzugreifen)?

Ein Element der Antwort wurde von dem Forscher Kohei Saito geliefert.[3] Nach einer peinlich genauen Durchsicht von Marxʼ Londoner Notizheften[4] fand er bestätigt, dass Marx eine produktivistische Vision hatte, die er erst spät dekonstruierte. Die produktivistische Sichtweise ermöglichte es ihm, gegen Ricardos Gesetz der abnehmenden landwirtschaftlichen Erträge sowie gegen Malthusʼ „Bevölkerungsgesetz“ anzukämpfen. Diese Sichtweise Sie schien durch die Arbeiten von Liebigs bestätigt zu werden, bis dieser Anfang der 1860er Jahre die Vorstellung aufgab, synthetische Düngemittel würden die Erschöpfung der Böden ausgleichen, und die Sackgasse der „räuberischen Landwirtschaft“ anprangerte. In seinen Überzeugungen erschüttert, begann Marx mit einer tiefgreifenden Revision.

Saitos Buch trägt den Untertitel „Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“. Doch anstatt die Implikationen dieses „Unvollendeten“ in Bezug auf die theoretisch-programmatische Ausarbeitung zu untersuchen, behauptet Saito, für Marx sei „das Problem der ökologischen Krise [der] zentrale Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise“, und er argumentiert, diese Schlussfolgerung sei bereits in den Manuskripten von 1844 und den Grundrissen gezogen worden.

Vor kurzem hat Timothée Haug, ein Doktorand der Universität Straßburg, die Analyse der „London Notebooks“ mit fruchtbaren Schlussfolgerungen wieder aufgenommen.[5] Für ihn ist die Theorie des „ecological rift“ (Riss im Stoffwechsel) im Kapital das Produkt eines theoretischen Krisenmoments, der Marx zu einer tiefgreifenden paradigmatischen Revolution geführt hat. Diese impliziert insbesondere, dass die Natur „produziert“ und „ausgebeutet“ wird und dass die Emanzipation in Begriffen der „rationalen Verwaltung des Mensch-Natur-Stoffwechsels“ statt in Begriffen der „Befreiung von den Produktivkräften“ definiert werden muss. „Marxʼ Ökologie“ erscheint dann als das, was sie ist: eine unfertige Baustelle. Dies regt dazu an, drei Fragen zu vertiefen: die Verbindung zwischen der Ausbeutung der Natur, der Ausbeutung der Arbeit und der patriarchalen Unterdrückung; die Verbindung zwischen kapitalistischen Mechanismen der Versklavung und der Überausbeutung nichtmenschlicher Tiere; die Verbindung zwischen Emanzipation, Maschinen und Arbeitszeitverkürzung.

Dieser Artikel erschien am 2. Januar 2023 auf der Website der Organisation Gauche Anticapitaliste, der belgischen Sektion der Vierten Internationale. Er wurde für L’Anticapitaliste, die Monatszeitschrift der französischen Organisation NPA, verfasst und in Nr. 142 (Januar 2023) sowie auf der Webseite der NPA veröffentlicht.

Übersetzung aus dem Französischen, Bearbeitung der Nachweise sowie Literaturverzeichnis von Wilfried

Literaturverzeichnis

Bensaïd, Daniel: „L’écologie n’est pas soluble dans la marchandise“, in: ContreTemps, Paris, Nr. 4, Mai 2002, S. 44–54; https://www.contretemps.eu/wp-content/uploads/Contretemps-04-24-29.pdf.

Fagan, Gus: Rezension von Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abteilung IV, Band 18, in Marx & Philosophie, Review of Books, 12. August 2019, https://marxandphilosophy.org.uk/reviews/17242_marx-engels-gesamtausgabe-iv-band-18-exzerpte-und-notizen-februar-1864-bis-oktober-1868-november-1869-marz-april-juni-1870-dezember-1872-by-teinosuke-otani-kohei-saito-and-timm-grasmann-e/

Haug, Timothée: La rupture écologique dans l’œuvre de Marx. Analyse d’une métamorphose inachevée du paradigme de la production, Thèse de doctorat en philosophie, École doctorale Humanités, Strasbourg, 2022, https://www.theses.fr/2022STRAC001

Marx, Karl / Engels, Friedrich: Exzerpte und Notizen, Februar 1864 bis Oktober 1868, November 1869, März, April, Juni 1870, Dezember 1872. Text, bearbeitet von Teinosuke Otani, Kohei Saito, Timm Graßmann, Berlin u. Boston: Walter de Gruyter, Akademie Forschung, 2019, (Karl Marx, Friedrich Engels, Gesamtausgabe, hrsg. von der internationalen Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam, Vierte Abteilung: Exzerpte, Notizen, Marginalien, Bd. 18). ‒ XVI, 820 S.
Fünf Notizbücher sowie fünf Exzerpthefte zu Landwirtschaft, Agrikulturchemie, Agrarverfassung und Grundrententheorie aus dem Zeitraum 1864 bis 1868.

Marx, Karl / Engels, Friedrich: Exzerpte und Notizen, Februar 1864 bis Oktober 1868, November 1869, März, April, Juni 1870, Dezember 1872. Apparat, bearbeitet von Teinosuke Otani, Kohei Saito, Timm Graßmann, Berlin u. Boston: Walter de Gruyter, Akademie Forschung, 2019, (Karl Marx, Friedrich Engels, Gesamtausgabe, hrsg. von der internationalen Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam, Vierte Abteilung: Exzerpte, Notizen, Marginalien, Bd. 18). ‒ S. (821)‒1294.

Marx, Karl: „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 42, Berlin: Dietz Verlag, 1983, S. 47–768.
Verfasst Oktober 1857 bis Mai 1858. Zuerst veröffentlicht mit anderen Materialien in zwei Bänden: Moskau 1939/1941; fotomechanischer Nachdruck dieser Ausgabe: Berlin 1953.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin: Dietz Verlag, 1962, (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 23). – 955 S.
1. Ausg.: Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1867; 2. dt. Ausg.: Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1872; 3. dt. Ausg.: Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1883; 4. dt. Ausg.: Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1890.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, hrsg. von Friedrich Engels, Berlin: Dietz Verlag, 1962, (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 25). ‒ 1007 S.
Verfasst 1864/65. 1. Ausg., hrsg. von Friedrich Engels, Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1894.

Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Manifest der Kommunistischen Partei“, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz Verlag, 1959, S. 459‒493.
Geschrieben Dezember 1848 / Januar 1848.
Anonym veröffentlicht Ende Februar oder März 1848: Manifest der Kommunistischen Partei, London: Office der „Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter“ von J. E. Burghard, 1848; 2. dt. Ausg. 1866; 3. dt. Ausg. 1872; 4. dt. Ausg. 1883; 5. dt. Ausg. 1890; 6. dt. Ausg.: Das kommunistische Manifest, 1891; 7. dt. Ausg. 1892.

Marx, Karl: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 40, Berlin: Dietz Verlag, 1985, S. 465–588.
Verfasst April bis August 1844. Zuerst veröffentlicht in: Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften, Leipzig: Alfred Kröner Verlag, 1932, sowie Karl Marx u. Friedrich Engels, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 3, Berlin: Marx-Engels-Verlag, 1932.

Marx, Karl: „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ [Kritik des Gothaer Programms], in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz Verlag, 1962, S. 15–32.
Geschrieben Anfang April bis Anfang Mai 1875; mit einigen ausgelassenen Stellen zuerst veröffentlicht in Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, Stuttgart, IX. Jg., I. Bd. (1890/91), Nr. 18, [Januar?] 1891 (redigiert und mit einem Vorwort von Friedrich Engels, datiert: London, 6. Januar 1891; veröffentlicht zusammen mit Karl Marxʼ Begleitbrief an Wilhelm Bracke, datiert: London, 5. Mai 1875).

Saito, Kohei: Karl Marx’s Ecosocialism. Capitalism, Nature, and the Unfinished Critique of Political Economy, New York: Monthly Review Press, 2017. ‒ 308 S.

Saito, Kohei: Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt a. M. u. New York: Campus Verlag, 2016. ‒ 328 S.

Saito, Kohei: La nature contre le capital. L’écologie de Marx dans sa critique inachevée du capital, aus dem Deutschen übersetzt von Gérard Billy, Paris: Éditions Syllepse; Lausanne: Éditions Page 2, 2021, (Mille marxismes). ‒ 350 S.

Saito, Kohei: „Reconstructing Marx’s Critique of Political Economy from His London Notebooks“, in: Monthly Review. An Independent Socialist Magazine, New York, Jg. 67, Nr. 7, Dezember 2015, https://monthlyreview.org/2015/12/01/reconstructing-marxs-critique-of-political-economy-from-his-london-notebooks/

Schmidt, Alfred: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, 5. Aufl. [4. dt. Ausg.], mit einem Nachwort zur 5. Auflage von Michael Jeske, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2016, (eva-Taschenbuch, Bd. 209). – 244 S.
1. Ausg. 1962; 2. dt. Ausg. 1971; 3. dt. Ausg. 1993.

Schmidt, Alfred: Le concept de nature chez Marx, aus dem Deutschen übersetzt von Jacqueline Bois, Paris: Presses Universitaires de France, 1994, (Philosophie d’aujourd’hui, hrsg. von Paul-Louis Assoun). – VI, 270 S.

Schmidt, Alfred: „Préface de l’auteur à l’édition française. ,Pour un matérialisme écologique‘“ (datiert: Anfang April 1993), in: ders., Le concept de nature chez Marx, 1994, S. 1‒18.

Schmidt, Alfred: „Vorwort zur Neuauflage 1993. Für einen ökologischen Materialismus“, in: ders., Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, 5. Aufl. [4. dt. Ausg.], Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2016, (eva-Taschenbuch, Bd. 209), S. 7‒22.


[1] Alfred Schmidt, Préface de l’auteur à l’édition française. ,Pour un matérialisme écologique‘“ (datiert: Anfang April 1993), in: Le concept de nature chez Marx, Paris: Presses Universitaires de France, 1994, S. 2. Auf Deutsch: „Vorwort zur Neuauflage 1993. Für einen ökologischen Materialismus“, in: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, 4. dt. Ausg., Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2016, S. 8.
Die erste Ausgabe dieses Buchs, das „1957‒1960 unter Horkheimer und Adorno als philosophische Doktorarbeit“ entstand, erschien 1962 in der Buchreihe des Instituts für Sozialforschung; weitere Ausgaben auf Deutsch erschienen 1971, 1993 sowie 2016. Es erschienen Übersetzungen ins Italienische 1969, Englische 1971, Dänische 1976, Spanische 1977, Serbokroatische 1981, Chinesische 1988, Französische 1994.
Alfred Schmidt (1931‒2012) gilt als „Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno“, war ab 1972 als Nachfolger von Max Horkheimer und Jürgen Habermas Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt a. M., hat sich insbesondere mit der „Kritischen Theorie“ der „Frankfurter Schule“ und den Werken von Ludwig Feuerbach und Arthur Schopenhauer beschäftigt, Schriften von Herbert Marcuse und anderen übersetzt, war Mitherausgeber der 19-bändigen Gesammelten Schriften von Max Horkheimer.

[2] Daniel Bensaïd, „L’écologie n’est pas soluble dans la marchandise“, in: ContreTemps, Paris, Nr. 4, Mai 2002, S. 44–54.

[3] Kohei Saitos Buch erschien 2016 auf Deutsch, 2017 auf Englisch, 2021 auf Französisch.

[4] Karl Marxʼ „London Notebooks“ sind 2019 als Band 18 der Vierten Abteilung der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) veröffentlicht worden; an der Bearbeitung war unter anderem Kohei Saito beteiligt.
Vgl. hierzu die Rezension von Gus Fagan in „Marx & Philosophy, Review of Books“ vom 12. August 2019, https://marxandphilosophy.org.uk/reviews/17242_marx-engels-gesamtausgabe-iv-band-18-exzerpte-und-notizen-februar-1864-bis-oktober-1868-november-1869-marz-april-juni-1870-dezember-1872-by-teinosuke-otani-kohei-saito-and-timm-grasmann-e/; sowie Kohei Saito, „Reconstructing Marx’s Critique of Political Economy from His London Notebooks“, in: Monthly Review, Dezember 2017, https://monthlyreview.org/2015/12/01/reconstructing-marxs-critique-of-political-economy-from-his-london-notebooks/.

[5] Timothée Haug, La rupture écologique dans l’œuvre de Marx. Analyse d’une métamorphose inachevée du paradigme de la production, 2022.

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