Die Krise der EU und unsere Orientierung

Double trouble - 2 zerissene Fahnen in Griechenland. Foto: Theophilos Papadopoulos, Double trouble, CC-BY-NC-ND 2.0

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Debatte zum Weltkongress der Vierten Internationale

Die Krise der EU und unsere Orientierung

Von Angela Klein (ISO), Catherine Samary (NPA), Daniel Albarracín (Anticapitalistas) | 30.01.2018

Erstens

Die EU ist in einer tiefen ökonomischen, gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Krise. Das Vertragswerk von Maastricht und Lissabon, mit dem die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden sollte – gestützt auf die Einführung einer gemeinsamen Währung und eine strenge Haushaltsdisziplin (die „Kriterien von Maas­tricht“) hat dem Sturm der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 nicht standgehalten.

Die EU hat darin ihre größten Schwächen offenbart:

  • es ist ein Projekt, dem die Rettung der Finanzinstitutionen wichtiger ist als der Wohlstand und der gesellschaftliche Zusammenhalt seiner Bewohner;
  • es ist ein Projekt, in dem die Interessen der Eliten einzelner Mitgliedstaaten, vor allem der wirtschaftlich stärkeren unter ihnen, die Oberhand gewonnen haben über die Interessen der Gesamtunion;
  • und es ist ein Projekt, das auf der einen Seite in verschiedener Hinsicht und bis zu einem gewissen Grad die europäische Integration vorantreibt, während auf der anderen Seite ihren Institutionen die demokratische Legitimität fehlt.

Zweitens

Im Umgang mit der Griechenlandkrise hat die EU unmissverständlich ihre Widersprüche und ihren kapitalistischen Klassencharakter gezeigt. Der Verlauf dieser Krise hat uns zwei Dinge gelehrt:

  • Es ist unmöglich, die Austeritätspolitik in einem Land loszuwerden, ohne in radikalen Konflikt mit den maßgeblichen Institutionen und Verträgen der EU zu kommen, denn dies würde das EU-Projekt selbst in Frage stellen. Ihre Institutionen und Verträge können nicht demokratisch „reformiert“ werden. Es ist nötig, mit der EU zu brechen, um die Austeritätspolitik loszuwerden.
  • Es ist nicht möglich, die Austeritätspolitik loszuwerden, ohne zugleich mit der Kapitalherrschaft im eigenen Land zu brechen. Der Brexit in Großbritannien ist ein Beispiel dafür, dass die Frage des Austritts aus der EU nach rechts losgeht, wenn sie losgelöst wird von der Notwendigkeit eines Bruchs mit der Profitlogik. Einen fortschrittlichen Charakter erhält sie erst, wenn sie unlöslich mit dem Projekt einer ökosozialistischen Transformation verbunden wird.

Diese doppelte Bedingung ist für viele fortschrittliche und antikapitalistische Kräfte oft schwer zu durchschauen, deshalb bewegt sich die Debatte darum, wie wir uns von der Diktatur der Märkte befreien können, oftmals in der falschen Alternativen: Raus aus der EU oder Reform von innen? Die EU ist jedoch keine fremde Macht, auch wenn sie manchmal – wie im Fall von Griechenland – als Kolonialmacht auftritt, sie ist ein Anhängsel der nationalen bürgerlichen Staatsapparate.

Jede linke Regierung, insbesondere an der Peripherie Europas, muss, wenn sie ihre eigene Agenda verfolgt, mit einer feindseligen Reaktion der EU rechnen. In solch einem Fall muss sie bereit sein, sich wenigstens für eine gewisse Zeit auf ihre eigenen Kräfte zu verlassen. Das beinhaltet die Vorbereitung neuer internationaler Bündnisse und die Einführung von Mechanismen wie eine alternative Geldpolitik oder neue Bankenregulierungen, die in den privaten Sektor eingreifen können. Es beinhaltet auch den Aufbau eines öffentlichen Bankensektors und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen.

Jede linke Regierung, insbesondere an der Peripherie Europas, muss, wenn sie ihre eigene Agenda verfolgt, mit einer feindseligen Reaktion der EU rechnen.

Wie auch immer der konkrete Weg aussieht, ein dauerhafter Widerstand gegen eine neue Finanz- und Bankenkrise oder gegen die Logik des globalen Wettbewerbs ist, ebenso wie die Einleitung einer gesellschaftlichen und ökologischen Umwälzung – ganz zu schweigen von einer sozialistischen Erhebung – nur im europäischen Maßstab denkbar.

Einzelne Kämpfe gehen unweigerlich von einer lokalen und nationalen Ebene aus. Ein internationalistischer Ansatz aber muss Forderungen und Aktionsformen entwickeln, die verschiedenen Bevölkerungen gemeinsam sind und in den gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse wurzeln. Er sollte auf lokaler und nationaler Ebene solche Forderungen und politischen Vorschläge nach vorn bringen, die mit Massenkämpfen in anderen europäischen Ländern kompatibel sind. Die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen sollten auf allen Ebenen, auf denen das Kapital agiert und sich organisiert, gemeinsame Kämpfe führen.

Drittens

Diejenigen, die nach der Finanzkrise – und mehr noch nach dem Brexit – die EU bereits am Ende sahen, werden wahrscheinlich enttäuscht werden. Die EU ist – mindestens in Kontinentaleuropa, Großbritannien hat immer schon eine Sonderrolle gespielt – für die kapitalbesitzende Klasse ein unverzichtbarer Rahmen, um auf den Weltmärkten und in der Weltpolitik bestehen zu können. Die EU kann innerhalb des kapitalistischen Rahmens auch umgebaut werden, wenn dies erforderlich erscheint, das ist mehr als einmal seit dem Zweiten Weltkrieg passiert. Heute stehen wir erneut vor einem Paradigmenwechsel, der möglichen Schaffung eines Kerneuropas.

Die Schwierigkeiten und Widersprüche, mit denen dieses Projekt konfrontiert ist, sind groß und es ist keineswegs ausgemacht, dass es funktioniert. Es sind aber auch die Zwänge groß – nach dem Brexit und dem politischen Kurswechsel in den USA sehen die herrschenden Klassen in der EU die Stunde gekommen, Weltmarktanteile auf Kosten der USA zu erobern. Deren angebliche Schwächung als „Schutzmacht des Westens“ liefert ihnen eine Legitimation, um einen regelrechten Rüstungswettlauf und eine Militarisierung der EU in Gang zu setzen. Die EU-Außengrenzen werden ohnehin bereits militarisiert.

Diejenigen, die nach der Finanzkrise – und mehr noch nach dem Brexit – die EU bereits am Ende sahen, werden wahrscheinlich enttäuscht werden.

Die Aufrüstung ist aber auch ein Instrument, um eine neue reaktionäre Kohäsionskraft nach innen zu schaffen, da der soziale Zusammenhalt wegen der zunehmend prekären Lebensverhältnisse schwindet – zumal die Ursachen der Finanzkrise alles andere als beseitigt sind und neue Wellen von Kapitalkonzentration Tausende von Arbeitsplätzen vernichten. Dies geht einher mit einer zunehmenden rassistischen Rhetorik und Praxis gegen Arbeitsmigrant*innen und Asylsuchende – sie sind der neue Buhmann eines Kapitalismus, der in eine Systemkrise geraten ist.

Die Schaffung eines Kerneuropa um die Eurozone herum würde bedeuten, dass einige Mitgliedstaaten abgehängt werden, während das Zentrum mehr und mehr unter die Dominanz des deutschen Kapitals gerät (etwa über die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds). Die Verwerfungen, die daraus entstehen, sind nicht absehbar.

Viertens

Wir sagen NEIN zu dieser Politik unserer Regierungen und zu der Karikatur der europäischen Einigung, die sie geschaffen haben und schaffen.Wir organisieren den Widerstand dagegen mit dem Ziel, eine europäische Opposition gegen die herrschende Politik aufzubauen, die in einen konstituierenden Prozess außerhalb des Rahmens der EU münden kann. Unser Europa ist einer ökosozialistischen, demokratischen, antiimperialistischen, das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie gleiche Rechte für alle respektierenden Perspektive verpflichtet.

Wir unternehmen daher einen neuen Anlauf, unsere Aktivitäten zu koordinieren:

  • gegen alle Arten von Freihandelsabkommen (innerhalb der EU und zwischen der EU und ihren „Partnern“, gegen das Schuldenregime, gegen Rassismus und Islamophobie;
  • für gleiche Rechte für alle, gegen die Logik der Konkurrenz zwischen Völkern und abhängig Beschäftigten, für die Angleichung der sozialen Standards (Löhne, Arbeitszeiten etc.) nach oben;
  • gegen Atomenergie und die Nutzung fossiler Brennstoffe;
  • für die demokratische Planung und die Bereitstellung der Mittel, um den Systemwechsel zu organisieren; für die Vergesellschaftung des Finanzsektors und die öffentliche Kontrolle der Kapitalströme.

All dies sind Probleme, die sich auf nationaler Ebene nicht lösen lassen.

Wir beteiligen uns an der Ausarbeitung und Popularisierung eines europäischen und internationalen Manifestes, das solche Forderungen vertritt. Wir beteiligen uns an europäischen Diskussionsforen über linke Alternativen zur EU (Plan B, Alter Summit usw.) und legen dabei den Schwerpunkt auf

  • die Bildung europäischer Netzwerke wie solche zwischen den „Rebel Cities“ oder solche, die die öffentliche Daseinsvorsorge, Arbeiterrechte, Frauenrechte, die Rechte der Migrant*innen etc. verteidigen;
  • den Ausbau von Kontrollmechanismen der abhängig Beschäftigten/der Bürgerinnen und Bürger/der Öffentlichkeit, wie sie etwa in der Forderung nach einem öffentlichen Schuldenaudit enthalten sind;
  • die Rechenschaftspflicht und die öffentliche Kontrolle von Unternehmen und multinationalen Konzernen (etwa in Fällen von Entlassungen, Kapitalflucht, Konversion der Produktion usw.).

Wir schaffen einen Raum für unsere gegenseitige interne Information und Diskussion, mit besonderen Arbeitsgruppen und Mailinglisten.

14. Juni 2017

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