Ukrainische Schuldenzahlungen weiter aussetzen oder nicht?

Ukraine-Gipfel in Hirsohima Foto: 首相官邸ホームページ, cc-by

TEILEN
G7 vor Entscheidung

Ukrainische Schuldenzahlungen weiter aussetzen oder nicht?

Von Eric Toussaint | 23.05.2024

Wieso diskutieren die G7 über die Schulden der Ukraine?

Seit über einem Jahr diskutieren die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Mächte, die sich nach der russischen Invasion in der Ukraine gegen Russland verbündet haben (Deutschland, Kanada, USA, Frankreich, Italien, Japan und Großbritannien), über die Finanzierung des Krieges und des Wiederaufbaus der Ukraine, ohne sich bislang einigen zu können.

Es sei daran erinnert, dass im Rahmen der von den NATO-Verbündeten verhängten Sanktionen in den westlichen Ländern Vermögenswerte der Russischen Föderation in Höhe von knapp 300 Milliarden US-Dollar blockiert wurden. Der größte Teil davon befindet sich in einem „Clearhouse“ namens Euroclear mit Sitz in Brüssel.

Wer sind die Gläubiger der Ukraine?

Die Unterstützung der USA erfolgt in Form von Waffenspenden oder anderen Finanzhilfen, während die Europäer die Waffen in Form von Spenden bereitstellen und der gesamte Rest der Finanzhilfe in Form von Krediten erfolgt, die die Ukraine zurückzahlen muss. Die Schulden der Ukraine belaufen sich auf über 100 Milliarden US-Dollar. Die Finanzmärkte, d. h. große Investmentfonds, z. B. BlackRock und PIMCO, und Banken sind Inhaber von ukrainischen Schuldtiteln. Es lauern auch Geierfonds, die ukrainische Schuldtitel zu sehr niedrigen Preisen gekauft haben, mit einem Abschlag von 70 bis 80 %. Von den multilateralen Institutionen gehören die Weltbank und der Internationale Währungsfonds zu den Gläubigern der Ukraine. Beide machen keine Spenden; der IWF forderte während des Krieges weiterhin die Rückzahlung seiner Kredite, wobei er einen hohen Zinssatz erhebt.

„Die Europäische Union stellt Finanzhilfe in Form von Krediten bereit, die die Ukraine zurückzahlen muss“.

Haben die Gläubiger entschieden, die Rückzahlungen der Ukraine auszusetzen?

Im Juli 2022 einigten sich die westlichen Mächte darauf, alle Schuldenzahlungen für einen Zeitraum von zwei Jahren auszusetzen. Wenn die Aussetzung der Schuldenzahlungen im Juli 2024 nicht verlängert wird, muss die Ukraine die Zahlungen wieder aufnehmen.

Seit Monaten wird darüber verhandelt, was nach dem Juli 2024 geschehen soll. Die Europäische Union hat das Datum, an dem die Rückzahlungen wieder aufgenommen werden müssen, um mehrere Jahre herausgeschoben. Es geht also hauptsächlich um die Rückzahlungen an private Gläubiger sowie an Länder, die nicht direkt dem westlichen Bündnis angehören oder sogar gegen das westliche Bündnis sind, insbesondere China, das auch ein Gläubiger der Ukraine ist, aber auch Russland.

Es muss klargestellt werden, dass die Behörden in Kiew nicht den Erlass der ukrainischen Schulden fordern. Sie sind dafür, die Verschuldung des Landes fortzusetzen. Die neoliberale Regierung unter Selenskyj hat Kredite innerhalb der Ukraine aufgenommen, um den Krieg und den Widerstand gegen die russische Invasion zu finanzieren, und nimmt weiter Kredite im Ausland auf, so beim IWF, der EU usw.

„Die gesamte Finanzierung, die der Ukraine von der Weltbank und dem IWF gewährt wird, erfolgt in Form von Krediten“.

Bereits im Jahr 2022 war eine Petition für einen Schuldenerlass gestartet worden.

Von Seiten der sozialen Bewegungen und der linken Opposition gegen den Krieg gibt es die Forderung nach einem vollständigen Schuldenerlass für die Ukraine, um das ukrainische Volk von dieser Last zu befreien und es in die Lage zu versetzen, Widerstand zu leisten und das Recht auf einen Wiederaufbau des Landes im Einklang mit seinen Interessen zu verwirklichen. Bereits 2022 zirkulierte dazu eine weltweite Petition.[i]

Warum finden die Verhandlungen im Rahmen der G7 und nicht der G20 statt?

Die Verhandlungen darüber, wie der Krieg und der Wiederaufbau finanziert werden können, finden innerhalb der G7 statt, denn sollten diese Themen in den G20 diskutiert werden, würde dies die Mächte des globalen Südens, vor allem die BRICS-Staaten, einschließen und damit auch Russland und China, die sich der westlichen Sanktionspolitik widersetzen. Brasilien, Indien und Südafrika widersetzen sich ebenfalls Sanktionen. Beispielsweise hat Indien, obwohl es mit den USA verbündet ist, seit der Invasion in der Ukraine seine Öleinkäufe aus der Russischen Föderation erhöht.

Welche Meinungsverschiedenheiten gibt es unter den G7-Mitgliedern?

Innerhalb der G7 gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Die US-Regierung sagt, es sei möglich, Vermögen aus der Russischen Föderation zu beschlagnahmen; diese Vermögen befinden sich hauptsächlich in Europa und insbesondere in Brüssel. Die USA sagen: „Lasst uns diese Vermögen, diese finanziellen Vermögenswerte nehmen, lasst sie uns in einen Fonds einbringen, um den Krieg und den Wiederaufbau zu finanzieren“, während die Europäer, also die Mehrheit der Europäer, der Europäischen Union, sagen: „Nein, wenn wir das tun, greifen wir in die Immunität der Staaten ein, und das wird nicht nur die Russische Föderation betreffen“.

Für sie zählt aber vor allem, dass, wenn sie das Vermögen der Russischen Föderation, insbesondere das in Brüssel, beschlagnahmen, das Risiko besteht, dass Mächte wie China, die Golfstaaten und andere Länder, die ihr Geld in Europa anlegen, ihre finanziellen Vermögenswerte von europäischen Banken abziehen; was der Russischen Föderation passiert, könnte ihnen im Rahmen von Sanktionen, die in der Zukunft aus anderen Gründen gegen sie verhängt würden, ebenfalls passieren. Die Europäer, insbesondere Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, aber auch die italienische Regierung, die Belgier, die Franzosen, die Deutschen sind dagegen, dass die Vermögenswerte der Russischen Föderation, die sich in Brüssel befinden, angetastet und weggenommen werden, weil dies Auswirkungen auf den Euro als internationale Reservewährung und auf die großen europäischen Privatbanken haben würde. Der Euro würde seinen Status als Reservewährung verlieren, zumindest könnte sein Status als internationale Reservewährung angesichts dieses Präzedenzfalls stark geschwächt werden. Ein großer Teil der Einlagen von Mächten wie China oder aus dem Nahen Osten bei europäischen Privatbanken könnte ebenfalls abgezogen werden. Die Briten stehen in dieser Diskussion eher auf der Seite Washingtons, sind aber vorsichtiger als die Politiker jenseits des Atlantiks.

Auf welchen Kompromiss steuert die G7 zu?

Es wird sicherlich darauf hinauslaufen, dass die G7 beschließen, die russischen Vermögenswerte nicht zu enteignen, sondern die russischen Vermögenswerte weiterhin einzufrieren und auf Basis dieser russischen Vermögenswerte einen Mechanismus schaffen, um ‒ davon kann man ausgehen ‒ Schuldtitel im Namen der Ukraine oder im Namen eines Konsortiums von Ländern auszugeben, um dieses Geld an die Ukraine zu verleihen.

So würden russische Vermögenswerte großen Investmentfonds und Banken, die Wertpapiere dieser Anleihe kaufen würden, als Sicherheit dienen; diese würden dann das Geld bereitstellen, es an die Ukraine verleihen, was die ukrainischen Schulden erheblich erhöhen würde.

In der Fachpresse ist von einer Anleihe im Wert von 30 Milliarden US-Dollar die Rede.

Für welche Position sollten wir eintreten?

Ich würde sagen, dass es grundsätzlich möglich sein müsste, die Vermögenswerte eines Aggressorstaates, eines Staates, der in das Territorium eines anderen eingedrungen ist oder der aktiv an der militärischen Aggression eines anderen Landes teilnimmt, zu beschlagnahmen. Die Frage ist jedoch, wer die Vermögenswerte verwaltet und für welche Ziele. In der gegenwärtigen internationalen Situation ist nicht ersichtlich, wie eine Beschlagnahme so durchgeführt werden kann, dass sie von den sozialen Bewegungen und den Bürgerinnen und Bürgern des angegriffenen Landes kontrolliert wird, um sicherzustellen, dass die Verwendung der beschlagnahmten Gelder tatsächlich den Interessen der Bevölkerung des angegriffenen Landes dient. Die Beschlagnahme des Eigentums eines angreifenden Landes sollte selbstverständlich alle angreifenden Länder betreffen; das bedeutet, dass die USA und ihre Verbündeten, die zahlreiche Aggressionen und Invasionen durchgeführt haben, ebenfalls dieser Regel unterliegen müssten. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Die USA haben in den letzten anderthalb Jahrhunderten vermehrt das Eigentum anderer Staaten beschlagnahmt, angefangen mit dem Eigentum der Staaten, die sie angegriffen oder überfallen haben, wie z. B. Haiti ab 1915, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Aber nicht nur die Beschlagnahme der Vermögenswerte eines angreifenden Landes sollte als mögliche Maßnahme in Betracht gezogen werden. Ein Fonds zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine und des ukrainischen Widerstands gegen die Aggression könnte oder sollte durch eine Steuer finanziert werden, die bei großen privaten Unternehmen, die vom Krieg profitieren, erhoben wird. Die Rüstungsindustrie in Deutschland, Frankreich, Nordamerika und anderen Länder profitiert in erheblichem Maße von der Erhöhung der Militärbudgets und den Waffenlieferungen an die Ukraine. (Auf russischer Seite läuft die Kriegsindustrie ebenfalls auf Hochtouren.)

Das ist beispielsweise bei Rheinmetall in Deutschland der Fall, dieses Unternehmen macht außerordentliche Gewinne, aber andere sehr große Rüstungsunternehmen auch. Sie müssten zumindest eine Steuer zahlen, die proportional zur Steigerung ihrer Gewinne oder gleich der Steigerung ihrer Gewinne ist; dieser Betrag sollte an einen Entwicklungsfonds überwiesen werden, der unter direkter Beteiligung des ukrainischen Volkes verwaltet wird.

Außerdem müsste das Vermögen der Oligarchen, die von der Aggression gegen die Ukraine profitieren, beschlagnahmt werden, sowohl der russischen als auch der ukrainischen Oligarchen, die von der Situation profitieren. Auf diese Weise könnten erhebliche Beträge zusammenkommen, um den Widerstand des ukrainischen Volkes und den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren.

Eine Steuer in Höhe der zusätzlichen Gewinne, die Rüstungsunternehmen in diesem und anderen Kriegen machen, würde die Bereitschaft dieser Unternehmen einschränken, sich über die Fortsetzung des Krieges zu freuen und dazu beizutragen, da sie nicht mehr direkt davon profitieren würden.

Maßnahmen zur Beschlagnahme des Eigentums der Oligarchen, die Konfiszierung, die Enteignung ihres Eigentums, verstoßen direkt gegen die Heiligkeit des Privateigentums. Folglich hat es seit 2022 keine größeren Beschlagnahmen gegeben, da die westlichen Regierungen keineswegs geneigt sind, dies zu tun, auch wenn sie gegen die Russische Föderation sind. Man müsste genau erfassen, was bisher getan wurde, aber es war extrem begrenzt, und es wurde nicht in einen Fonds unter der Kontrolle der ukrainischen Bevölkerung transferiert. Von den Unternehmen, die vom Krieg profitieren, ist keinerlei Sondersteuer erhoben. Ich habe von den Unternehmen gesprochen, die Waffen produzieren, aber man kann auch über die Superprofite sprechen, die von den Gas- und Ölunternehmen gemacht wurden, die von dem enormen Anstieg der Preise für Flüssiggas und Öl nach der russischen Invasion der Ukraine profitiert haben. Man kann auch von den steigenden Gewinnen der Unternehmen sprechen, die weltweit mit Getreide handeln, wie die vier großen multinationalen Unternehmen, die 80 % des weltweiten Getreidemarktes kontrollieren. Das sind drei US-amerikanische und ein europäisches Unternehmen. Eine Sondersteuer auf die Gewinne dieser Unternehmen hätte erhoben werden müssen und sollte auch rückwirkend erhoben werden, sowohl zur Finanzierung der Bedürfnisse aller Bevölkerungsgruppen als auch zur Unterstützung des ukrainischen Volkes. Auch die Forderung nach einem Schuldenerlass für die Ukraine muss weiterhin erhoben werden.

„Konfiszierung der Vermögenswerte der Oligarchen, außerordentliche Steuern, Schuldenerlass statt neuer Schulden“

Nichts davon wird von den G7-Staats- und Regierungschefs in Betracht gezogen; deshalb muss eine klare alternative und oppositionelle Position zur Politik der G7 vertreten werden, deren Politik zielt darauf ab, den Krieg zu verlängern und ihn vor allem durch Schulden zu finanzieren. Die Position der G7-Staaten nutzt die Situation auch aus, um die Kontrolle über die natürlichen Reichtümer der Ukraine zu erhalten und die Privatisierung von ukrainischen Staatsunternehmen wie dem Gasunternehmen und dem Unternehmen für Stromerzeugung und -verteilung durchzusetzen. Diese Unternehmen sind öffentliche Unternehmen, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Regierungen Europas, der Europäischen Union, Großbritanniens und der USA möchten sie privatisiert sehen.

Und man muss natürlich auch gegen die großen Investmentfonds und die großen Privatbanken kämpfen, die vom Krieg profitieren, indem sie den Mächten, die direkt in diesen Krieg und in die Ukraine investieren, Geld leihen und damit einen großen Gewinn erzielen.

„Große europäische Privatbanken haben ihre Gewinne in Russland seit Beginn der Invasion der Ukraine trotz der Sanktionen vervierfacht“.

Man muss auch wissen, dass mehrere europäische Privatbanken, darunter die österreichische Raiffeisenbank, die deutsche Commerzbank und die Deutsche Bank, die italienischen Unicredit und Intesa Sanpaolo, ihre Geschäfte in der Russischen Föderation fortgeführt haben. Trotz der Sanktionen haben sie ihre Gewinne in der Russischen Föderation seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine vervierfacht. Sie haben gerade 800 Millionen Euro Gewinnsteuern an die russischen Behörden gezahlt, ohne dass die europäischen Behörden irgendetwas dagegen unternommen hätten. Das ist durch Enthüllungen der Financial Times vom 28. April 2024 belegt.

Der Autor dankt Sushovan Dhar für seine Hilfe.
Dieser Artikel erschien am 23. Mai 2024 auf der Webseite des Komitees zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM); er wurde von Flo Weimerskirch aus dem Französischen übersetzt.
Eine Übersetzung ins Englische erarbeitete Sushovan Dhar zusammen mit Snake Arbusto.


[i] Auf der Webseite des CADTM auf Französisch: https://www.cadtm.org/Au-nom-de-tous-les-Ukrainiens-nous-exigeons-l-annulation-de-la-dette.
Weitere Informationen: Eric Toussaint und Sushovan Dhar, „Why should Ukraine’s debt be cancelled“, 21. April 2022; sowie Eric Toussaint und Sushovan Dhar, „Ukraine: Resisting creditors“, 23. Mai 2023.

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite