Mehr Hunger, mehr Schulden

Menschen in Warteschlange ohne soziale Distanz Foto: UN Women Asia and the Pacific, UN Women/Fahad Abdullah Kaizer, CC BY-NC-ND 2.0

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Corona und die Folgen für die Länder des Südens

Mehr Hunger, mehr Schulden

Von Angela Klein | 18.12.2020

Die Corona-Pandemie trifft reich wie arm, aber nicht in gleichem Maße. Während die Reichen in ihren großen Häusern und auf ihren Landsitzen bequem Abstand halten können, drängen sich Ärmere in kleinen Wohnungen, die kaum Ausweichmöglichkeiten bieten.

Was innerhalb eines Landes gilt, gilt zwischen den Staaten einmal mehr. Die reichen Industrieländer legen üppige Konjunkturprogramme auf, auf die Wirtschaft im globalen Süden wirkt sich die Pandemie verheerend aus. Viele Staaten fordern deshalb einen radikalen Schuldenschnitt.

Weltweit ging in der aktuellen Wirtschaftskrise pro Quartal 2020 durchschnittlich das Äquivalent von 332 Millionen Vollzeitjobs verloren – ein Minus von 11,7 Prozent gegenüber dem 4.Quartal 2019. Die reichen Ländern waren daran mit „nur“ 43 Millionen beteiligt.

Die Weltbank schätzt in einem aktuellen Bericht, dass die extreme Armut zum erstenmal seit 1998 wieder steigen wird, und zwar um 88–115 Millionen Menschen. Als extrem arm gelten offiziell Menschen, die mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen müssen. Im Rahmen ihrer „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ hatten sich die Vereinten Nationen (VN) vorgenommen, den Anteil extrem armer Menschen an der Weltbevölkerung bis 2030 auf 3 Prozent zu verringern. Dieses Ziel ist nun in weite Ferne gerückt. Nun schätzt die Weltbank, dass es 2030 noch 7 Prozent sein werden.

Die Folgen

Das Amt zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten bei den UN (OCHA) schätzt, dass an den direkten und indirekten Auswirkungen von Corona täglich bis zu 6000 Kinder sterben. Die Pandemie hat jetzt schon dazu geführt, dass die Masern sich wieder ausbreiten, weil Corona-bedingt weniger Impfungen durchgeführt werden. Die Zahl der Todesfälle durch Aids, Malaria und Tuberkulose könnten sich verdoppeln.

Erfahrungen aus früheren Pandemien zeigen: Sie führen in ärmeren Ländern zu einer höheren Sterblichkeit, einer Verschlechterung der Bildungs- und Gesundheitslage, einem Abschmelzen der Ersparnisse und Vermögen, nicht kompensierbaren Produktionsstörungen, Einkommensrückgängen. Nach der Ebola-Epidemie 2013 hat Sierra Leone nie wieder auf den Wachstumskurs vor der Krise zurückgefunden.

Schulschließungen haben zur Folge, dass Kinder und Jugendliche nie wieder auf den Bildungsweg zurückfinden – damit öffnet sich der Schere der Ungleichheit ein weiteres Stück. Die Vereinten Nationen gehen auch davon aus, dass häusliche Gewalt und sehr frühe Schwangerschaft deshalb zunehmen werden. Ein Drittel der Fortschritte, die im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt erreicht worden seien, könnten wieder zunichte gemacht werden, die Zahl der Kinderehen in den nächsten zehn Jahren um 13 Millionen steigen. Am meisten werden die Frauen unter diesen Entwicklungen zu leiden haben.

Alles zusammen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Hungersnöten, Bürgerkriegen und Migrationsbewegungen. Die VN schätzen, dass sich die Zahl der Hungernden gemessen an der Zeit vor der Pandemie fast verdoppeln wird – von 149 auf 270 Millionen.

Eine Billion gegen zwölf Billionen

Unausweichlich ist diese Entwicklung nicht. Die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie ließen sich verhindern, wenn die reichen Länder bereit wären, ein Stück von ihrem Kuchen abzugeben.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) berechnet die Kosten, die für eine Kompensation der Arbeitsplatzverluste in den Ländern mit niedrigem und niedrigem durchschnittlichen Einkommen anfallen, auf 937 Milliarden – zusammen also nicht einmal ein Billion Dollar für eine Gruppe von Ländern, in denen eine große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt. Das Gesamtvolumen der angekündigen Konjunkturprogramme belief sich im September 2020 auf rund 12 Billionen Dollar.

Die Afrikanische Entwicklungsbank rechnet für das Jahr 2021 mit einem Rückgang des Wachstums auf dem Kontinent um bis zu 47 Milliarden Dollar. Besonders anfällig sind dabei die Staaten, die zum großen Teil von den internationalen Finanzmärkten abhängig (geworden) sind. Sie leiden nicht allein unter den einheimischen Auswirkungen der Pandemie, sie leiden auch unter dem Rückgang der Investitionen aus den reichen Ländern und vor allem unter dem Rückgang der Überweisungen der Arbeitsmigranten. Diese Überweisungen (2019: 554 Mrd. Dollar) überstiegen 2019 erstmals die ausländischen Direktinvestitionen, in einigen Ländern machen sie 10 Prozent oder mehr des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts aus.

Die Weltbank prognostiziert nun für 2020 weltweit einen Rückgang der Überweisungen von Arbeitsmigranten um 20 Prozent. Denn ArbeitsmigrantInnen sind am ehesten von Entlassungen und Gehaltskürzungen betroffen. Länder wie Nepal, Pakistan, Sri Lanka und die Philippinen sind auf diese Rücküberweisungen angewiesen.

Raus aus dem internationalen Finanzsystem!

Die eh schon hohe Verschuldung der Länder im globalen Süden nimmt rasant zu. Zins und Tilgung machten 2020 um die 14 Prozent der Staatseinnahmen der Entwicklungsländer aus (2010: fast 7 Prozent). Dass sie nicht abzutragen ist, dämmert inzwischen auch den oberen Etagen der internationalen Finanzinstitutionn. Carmen Reinhardt, Chefvolkswirtin der Weltbank, empfiehlt deshalb den Erlass der Schulden, um den Entwicklungsländern die Aufnahme neuer Kredite zu ermöglichen. Doch die privaten Kreditgeber lassen nicht locker. „Die Ratinagenturen haben zu verstehen gegeben, dass Länder, die ein Moratorium beantragen, eine Herabstufung ihrer Bonität riskieren und damit Gefahr laufen, vom Zugang zu den Finanzmärkten abgeschnitten zu werden“, schrieb das Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM) Anfang Oktober.

Ghanas Finanzminster Ken Ofori-Atta hat die afrikanischen Staaten nun aufgerufen, „die Initiative zu ergreifen und ein Sekretariat zur Koordinierung der verschiedenen Interessengruppen und Machtzentren einzurichten, um eine Neustrukturierung der globalen Finanzarchitektur vorzuschlagen“, die an die Bedürfnisse Afrikas und der anderen Eintwicklungsländer angepasst ist. Walden Bello, Globalisierungskritiker aus den Philippinen, plädiert für einen kollektiven Austritt der Entwicklungsländer aus dem IWF und der Weltbank.

Quelle: Gilbert Achcar, Der Globale Süden und der große Lockdown, in Le Monde Diplomatique, November 2020

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