Konsequente Antikriegspolitik
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Nur dann konsequent, wenn sie widerspruchsfrei ist:

Konsequente Antikriegspolitik

Von Jakob Schäfer | 05.04.2023

Eine klare Mehrheit der Linken, erst recht der radikalen Linken, ist gegen Waffenlieferungen in die Ukraine. So weit so gut. Aber für eine konsequente Antikriegspolitik reicht das nicht.

Dass nur ein kleiner Teil der Linken Putins Krieg unterstützt oder sich hierzu neutral verhält, ist gut. Schließlich erleben wir international (auch in Deutschland) ein Wiederaufleben des Lagerdenkens (Campismus). An der Mitverantwortung der NATO für die Zuspitzung des Konflikts in und um die Ukraine sollten keine Zweifel bestehen. Doch daraus darf keine Relativierung der Invasion der russischen Armee entstehen, nach dem Motto: Was regt ihr euch auf? Der westliche Imperialismus hat noch schlimmere Gräuel zu verantworten.

Die Ablehnung der Waffenlieferungen basiert im Kern auf folgenden Fakten, die kaum zu widerlegen sind und auch nicht von nachgeordneter Bedeutung sind:

  • Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden, sondern verlängern den Krieg.
  • Waffenlieferungen erhöhen die Eskalationsgefahr.
  • Waffenlieferungen und die damit verbundene Aufrüstung treiben die Militarisierung der hiesigen Gesellschaft voran (noch ganz abgesehen von den sozialen Folgekosten, den zusätzlichen ökologischen Schäden usw.)

Waffenstillstand – das vorrangige Ziel der Stunde

Immerhin drängt die Mehrheit der Linken auf eine Verhandlungslösung und unterscheidet sich dadurch von der Mehrheit des bürgerlichen Lagers. Das Drängen auf Verhandlungen speist sich aus mehreren Quellen: a) aus der prinzipiellen Überlegung, dass damit dem Blutvergießen schneller ein Ende gesetzt werden kann; b) aus der zunehmenden Erkenntnis, dass die Kriegsziele der ukrainischen Regierung trotz der massiven Waffenlieferungen aus dem Westen zumindest in absehbarer Zeit nicht zu erreichen sind und Putin aus innenpolitischen Gründen (für seinen Machterhalt) nicht einfach den Abzug der russischen Truppen anordnen wird; c) aus der inzwischen mehrfach bestätigten Meldung, dass Ende März 2022 das Verhandlungsergebnis in Istanbul vom Westen (vor allem von der britischen Regierung) hintertrieben wurde. Damit wurden dann auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung neu definiert. Es wäre nämlich möglich gewesen, auf der Basis von Minsk II (kein NATO-Beitritt der Ukraine und Autonomie für die Krim und den Donbas) mindestens einen Waffenstillstand zu erreichen.

Spätestens mit dem im März 2022 bewusst herbeigeführten Scheitern der Waffenstillstandsverhandlungen ist der Krieg in der Ukraine für den Westen zu einem Stellvertreterkrieg geworden, denn es werden jetzt Ukrainer*innen zu Kanonenfutter gemacht. Inzwischen sind in diesem Krieg (Stand: Anfang April 2023) mehr als 240 000 Menschen krepiert (darunter 50 000 Zivilist*innen und mindestens 80 000 ukrainische Soldat*innen, von den Verletzten, den Zerstörungen, den ökologischen Schäden usw. noch gar nicht zu reden).

Auch die ukrainische Regierung hat heute eine Verantwortung

Der Druck seitens der NATO zur Veränderung der Kriegsziele entlässt allerdings die ukrainische Regierung nicht aus ihrer Verantwortung. Reinhard Merkel schreibt in seinem viel beachteten (und von Kriegsbefürwortern wütend attackierten) FAZ-Artikel vom 28. 12. 2022: Es ist die ethische Pflicht der ukrainischen Regierung, „Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden.“ Es ist, so schreibt er, „eine spezifische Verantwortung auch der ukrainischen Regierung und reicht über die triviale Grundnorm jeder Moral, menschliches Leid zu vermeiden, weit hinaus. Denn die Ukraine ist kausal beteiligt an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges.“

In den herrschenden Kreisen des Westens wird sich eine Politik, die auf eine Verhandlungslösung setzt, so schnell nicht durchsetzen, denn für die NATO – und hier in besonderem Maß für die USA – ist dieser Krieg eine willkommene Gelegenheit, ihr geopolitisches Ziel der Schwächung Russlands zu verfolgen, ohne eigene Soldat*innen in Zinksärgen nach Hause holen zu müssen. Leider folgen so manche Linke den Begründungen der Herrschenden (nach dem Motto: „Russland will nicht verhandeln, deswegen müssen wir weiter die Ukraine unterstützen und Waffen liefern“), obwohl die Fakten gegen diese Behauptung sprechen. Die Herrschenden hierzulande (und erst recht in GB und den USA) werden erst dann einen anderen Kurs einschlagen, wenn sie finanziell an ihre Grenzen stoßen oder wenn sie sich aufgrund zu großen Widerstands in der Bevölkerung dazu gezwungen sehen. Danach sieht es im Moment allerdings nicht aus, was zur Folge hat, dass auch weiterhin jede Woche Tausende Menschen (vor allem Soldat*innen) sterben werden.

„Solidarisch mit der Ukraine“?

Selten ist seitens der Herrschenden der Begriff „Solidarität“ so hartnäckig und leider auch politisch so erfolgreich missbraucht worden. Es geht so weit, dass unter dieser Parole auch Linke sich dazu hinreißen lassen, der Fortführung des Kriegs keinen konsequenten und in sich stimmigen Widerstand entgegenzusetzen.

Die Parole „Solidarisch mit der Ukraine“ stellt die Nationalfrage (in dem Fall sogar zunehmend als Territorialfrage, was im Sinne der NATO ist) über das Wohl der Menschen. Die Nation ist – erst recht im Zeitalter der voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaftsordnung – eine äußerst zweifelhafte Bezugsgröße. Wird sie als Grundlage für die Bewertung der Konfliktlage benutzt, dann ist man schon auf der schiefen Bahn, fern jeglicher humanistischen Beweggründe, von der Frage des Klassenstandpunkts noch gar nicht zu reden. Wenn man die „Unabhängigkeit der Ukraine“ als alles überragendes Leitmotiv für das eigene Handeln ansieht, dann zählen nicht mehr die vitalen Interessen der Menschen und natürlich erst recht nicht die sozialen und historischen Interessen unserer Klasse.

Mit der Fixierung auf die Nation lassen sich die Interessen der herrschenden Klasse umso besser kaschieren, je mehr Menschen die Nation als Bezugsgröße und als oberstes zu schützendes Gut ansehen. Unter solchen Bedingungen kann der Krieg mit wenig politischem Vertrauensverlust für die Regierenden weitergeführt werden. Und er kann im Westen natürlich umso besser unterstützt werden, je weniger Soldat*innen der eigenen Bevölkerung in diesem Krieg verrecken.

Dass der Krieg in der Ukraine zu einem Schlachtfeld geworden ist, in dem Menschen eines anderen Landes bluten und mit dem die Rüstungskonzerne einzigartigen Reibach machen und mit dem man die weitere Militarisierung so gut begründen kann wie seit Jahrzehnten nicht mehr, das ist das Verheerende, das Mörderische. Dass nun aber so manche Linke meinen, auf die militärische Karte setzen zu müssen, ist das Tragische. Es schwächt den Kampf gegen die Militarisierung und erschwert die Stärkung einer konsequent antimilitaristischen Argumentation.

Waffenlieferungen abzulehnen reicht nicht!

Es reicht allerdings nicht, das ungute Gefühl gegenüber Waffenlieferungen dadurch zu beruhigen, dass man keine Waffenlieferungen fordert. Eine konsequent antimilitaristische – und antikapitalistische! – Argumentation, eine humanistische Perspektive ist nur dann stimmig, wenn sie auf die einzig realistische Alternative zur Kriegsführung orientiert und sie begründet: den sozialen Widerstand. Wir haben dies in den Heften 3/2022 und 4/2022 der internationale bereits dargelegt und begründet.[1] Das wollen wir hier nicht wiederholen, sondern an dieser Stelle nur Jürgen Grässlin zitieren (Zeitung gegen den Krieg Nr. 53 und Lunapark21 vom Frühjahr 2023):

„Die weltweit Aufsehen erregende wissenschaftliche Studie der beiden US-amerikanischen Friedensforscherinnen [Erica Chenoweth und Maria Stephan] aus dem Jahr 2011 wird in der Friedensbewegung seit ihrem Erscheinen diskutiert.[2] Chenoweth und Stephan dokumentieren darin, dass der rein zivile Widerstand in der deutlichen Mehrheit der Fälle erfolgreicher und auch, angesichts der meist deutlich begrenzten Zahl menschlicher Opfer, humaner verlaufen als der rein militärische. Das war für sie selbst überraschend, denn beide hatten sie ursprünglich die Erwartungshaltung, dass die Macht des militärischen Widerstands weitaus größer sei, als die des gewaltfreien. Das Ergebnis spricht allerdings für sich: Gewaltfreier Widerstand führte in doppelt so vielen Fällen zum Erfolg wie gewaltsamer. Um dieses Forschungsergebnis wissenschaftlich zu belegen, hatten Chenoweth und Stephan 323 Konflikte – Aufstände, Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen – untersucht. Wohlgemerkt für den Zeitraum 1900 bis 2006.“ (Lunapark21 a. a. O. S. 17 f).

Zieht man alles in Betracht – die historischen Erfahrungen, die realen Kräfteverhältnisse vor Ort, die politische Zwickmühle, in der Putin steckt, und nicht zuletzt die Gefahr der Eskalation bis hin zum Atomkrieg – dann ist klar, dass mit dem Krieg (genauer: mit der militärischen Antwort auf den Krieg) unermesslich viel Leid entsteht – genauer: noch vermehrt wird – und auch nicht so bald zu Ende sein wird. Wie soll so etwas moralisch verantwortet werden? Mit dem Verweis auf die Verteidigung der ukrainischen Nation?

Über die vielen zivilen Widerstandsaktionen wird hierzulande so gut wie gar nicht berichtet, was kein Wunder ist. Jürgen Grässlin macht auch deutlich: Es ist nicht zu spät, die Waffen niederzulegen und auf den zivilen Widerstand zu setzen. Doch eins muss ergänzt werden, was Grässlin leider auch in der Langfassung des Interviews (Lunapark) nicht erwähnt: Die Auswertung der geschichtlichen Erfahrungen macht deutlich, dass der zivile Widerstand nur dann eine Chance hat, wenn er nicht zusätzlich zum militärischen Widerstand geführt wird. In diesem Fall nämlich ist für den Aggressor kein Unterschied zwischen zivilem und militärischem Widerstand auszumachen. Er wird also den Krieg weiterführen.

Ziviler Widerstand in der Ukraine

Eine Liste mit 198 verschiedenen Methoden des zivilen Widerstands findet sich hier: https://www.aeinstein.org/nonviolentaction/198-methods-of-nonviolent-action/: Die Online-Datenbank zur Definition des Sozialen Widerstands und anderen wichtigen Infos ist abrufbar unter: https://nvdataba- se.swarthmore.edu/browse-Methods.

Es sei auch auf eine umfangreiche Untersuchung von Felip Daza Sierra verwiesen, der von März bis Juni 2022 Dutzende Aktionen des zivilen Widerstands in der Ukraine untersucht hat.[3] Sierra und sein Team kommen zu dem Ergebnis, dass der zivile Widerstand vor allem in der Region Cherson recht erfolgreich war. Allerdings haben sie unter Kriegsbedingungen letztlich keine anhaltende Erfolgschance.

Der Bevölkerung in der Ukraine wurde durch die Herrschenden in der Ukraine keine Wahl gelassen, was schon mit dem Krieg im Donbas seit 2014 (und der Verweigerung der Autonomie, also dem Sabotieren von Minsk II) vorgezeichnet wurde. Soziale Verteidigung – das zeigt eine zweite Studie von Chenoweth[4] – hat dann die besten Chancen, wenn mindestens 3,5 % der Bevölkerung dies aktiv unterstützen. Und dies geht nur über eine intensive politische Organisierung von unten. Erica Chenoweth: Civil resistance “requires imagination and creativity. It requires organization. And it requires courage and discipline.” Eine solche Bewegung richtet sich – naturgemäß – tendenziell auch gegen die eigene herrschende Klasse, in der Ukraine mindestens mal gegen die Oligarchen. Kein Wunder also, dass Minsk II von der Kiewer Regierung hintertrieben wurde.

Die Regierung in Kiew auf einen anderen Kurs zu bringen, ist angesichts der Gesamtkonstellation extrem schwierig. Umso größer ist die Verantwortung der Antikriegs-Bewegung im Westen. Schließlich können die Herrschenden in der Ukraine nur mit der Unterstützung des Westens Krieg führen. Waffenlieferungen abzulehnen reicht da nicht. Wir müssen für eine andere Perspektive argumentieren, denn dies wird mit tödlicher Sicherheit nicht der letzte Krieg sein, in dem die imperialistischen Staaten eine Rolle spielen. Schließlich bringt der Kapitalismus den Krieg mit sich wie die Wolke den Regen.

3.4.2023


[1] Zur Logik von Putins Ukraine-Krieg und den Folgen (13. 4. 2022): https://inprekorr.de/606-ukr-jak.htm; Jakob Schäfer, Thies Gleiss (am 22.4.2022): https://intersoz.org/die-waffen-nieder-mehr-als-ein-waffenexportverbot/; Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler und Winfried Wolf: Wider eine militärische „Lösung“ des Ukrainekriegs (4.6.2022): https://inprekorr.de/608-ukr-mil.htm;

[2] “Why Civil Resistance works” https://www.ericachenoweth.com/research/wcrw

[3]  https://www.nonviolenceinternational.net/supporting_nonviolent_resistance_to_the_war_in_ukraine. Die deutsche Ausgabe ist leider miserabel übersetzt und schlecht layoutet: https://wfga.de/wp-content/uploads/2022/12/Ukraine-Gewaltfreier-Ziviler-Widerstand-Study-Deutsche-Fassung.pdf

[4] https://www.ericachenoweth.com/research/civil-resistance-what-everyone-needs-to-know

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