Welchen Krieg verurteilen – welchen verteidigen?
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Debatte Ukrainekrieg

Welchen Krieg verurteilen – welchen verteidigen?

Von H.L. | 10.05.2022

Zum Diskussionsbeitrag von Jakob Schäfer und Thies Gleiss „Die Waffen nieder!“ – mehr als ein Waffenexportverbot (24.4.2022)

Am Anfang ihres Diskussionsbeitrags https://intersoz.org/die-waffen-nieder-mehr-als-ein-waffenexportverbot/ beklagen Jakob und Thies, dass es in Bezug auf den Ukrainekrieg in Deutschland und auch anderswo „fast so etwas wie eine Trennung“ in zwei Lager gebe, „in ein Lager der Bellizist:innen und eines der konsequenten Kriegsgegner:innen“. Schauen wir ‘mal zurück und nehmen das Beispiel des Vietnamkriegs. Die Autoren würden sicherlich sagen, sie seien „gegen den Vietnamkrieg“ gewesen. Revolutionäre Sozialist:innen waren aber gegen den amerikanischen Vietnamkrieg, nicht gegen den vietnamesischen Befreiungskrieg. Wo hätten die Beiden sich damals selbst eingeordnet – ins Lager der „Bellizist:innen“ oder in das der „konsequenten Kriegsgegner:innen“? Was wären sie im Zweiten Weltkrieg gewesen, Kriegsgegner:innen oder Bellizist:innen? Ist diese Gegenüberstellung immer sinnvoll, angebracht, passend?

Nach nunmehr fast acht Wochen Krieg sind leider die ersten, die (schon im dritten Abschnitt ihres Textes) von Jakob und Thies angeklagt werden ‒ Ukrainer. Was weist ihnen zufolge keinen Weg nach vorne und führt „nur zu Tod und Elend“? „Die militaristische Politik der Herrschenden in der Ukraine“. Haben wir da etwas falsch verstanden? Hat die Ukraine Russland überfallen? Nein, sagen die Autoren, die etwas später vom „Krieg des Kreml“ sprechen und diesen „unmissverständlich“ als „Verbrechen“ bezeichnen. „Unmissverständlich“ nennen sie das, eine Behauptung, die – weil sie folgenlos bleibt – nicht viel wert ist (besser: gar nichts wert ist), denn weiter geht es mit der Feststellung, dass sich die ukrainische Armee ohne „handfeste Unterstützung (mit Waffen und satellitengestützter Nachrichtentechnik vor allem durch die USA)“ „gar nicht auf diesen Krieg“ hätte „einlassen können“. Hätte sich die Ukraine auf den Krieg nicht eingelassen, dann gäbe es ihn nicht? Sollen wir das glauben? Sollten Antiimperialist:innen sich nicht im Gegenteil darüber freuen, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer so lange standgehalten haben?

Das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen fremdländische Besatzung nennen die beiden Autoren legitim, doch dass die Ukraine dieses Recht wahrnimmt, wirft für sie wichtige Fragen auf („prinzipielle Fragen“, wie sie schreiben), nämlich die (nicht doch eher taktische?) Frage, ob es klug und sinnvoll ist, bewaffneten Widerstand zu leisten, und die in der Tat prinzipielle Frage, ob dieser Widerstand moralisch vertretbar ist. Dazu im Einzelnen.

Die Autoren wollen der von Lenin (und anderen) geliebten Maxime „Die Wahrheit ist konkret“ folgen und versuchen, den Ukrainekrieg konkret zu analysieren und zu bewerten. Aber schon mit der Behauptung, der Krieg sei „zu allererst ein Krieg zwischen zwei Staaten“, wo es sich zu allererst um einen ein legitimen Verteidigungskrieg gegen einen imperialistischen Angriff handelt, umgehen sie eine klare Charakterisierung. Sie weichen ihr aus mit dem Hinweis, es handele sich „auch“ um einen „Stellvertreterkrieg der imperialistischen Großmächte USA, EU und Russland um eine Neuaufteilung der Märkte und Einflusszonen“ und „letztlich auch“ um einen „Bürgerkrieg zwischen russischsprachigen und ukrainischsprachigen Teilen des Landes“. Dies alles, um ihre Schlussfolgerung zu begründen, dass eine sozialistische Linke „in diesem komplexen Krieg“ „auf keiner Seite“ stehen kann. (Ernest Mandel, auf den sich die Beiden zu beziehen scheinen, sprach in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg davon, es habe sich dabei um fünf unterschiedliche Kriege in einem gehandelt [vgl. u. a. SoZ Nr. 5, Mai 2022 https://www.sozonline.de/2022/05/fuenf-kriege-in-einem/], aber er hat nie im Leben vertreten, revolutionäre Sozialist:innen hätten in diesem komplexen Krieg „auf keiner Seite“ gestanden.)

Jakob und Thies bezeichnen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Recht auf Selbstverteidigung wie gesagt als „legitim“, aber die Wahrnehmung dieser Rechte stellen sie in Frage, ja sie sprechen der ukrainischen Regierung sogar das moralische Recht ab, bewaffnete Gegenwehr zu üben. „Damit“ würden „Tausende Unschuldiger“ „geopfert“. Für die Tausenden Tote und die Zehntausenden Verletzten und die Millionen Geflüchteten sind also nicht die russischen Aggressoren verantwortlich, sondern die Selenskyj-Regierung? Wäre dann auch zum Beispiel der tschechische Widerstand für die Vernichtung von Lidice und die Ermordung seiner Bewohner:innen 1942 verantwortlich und nicht die nationalsozialistische Besatzungsmacht?

Wenn zurecht über den Tod „so vieler Kinder und alter Menschen, so vieler Männer, die zum Waffendienst gezwungen wurden“, geklagt wird, wem kommt dann die moralische Verantwortung zu? Der ukrainischen Regierung, weil sie nicht kapitulieren will? Das ist denn doch ein starkes Stück!

Allein unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts (das Sozialist:innen wie anderes bürgerliches Recht ja in höherem Recht aufheben, aber nicht annullieren wollen) ist der Krieg eindeutig ein gerechter Verteidigungskrieg gegen einen Aggressor. Wenn man den Angriff der NATO auf Jugoslawien 1999 zurecht als völkerrechtswidrig verurteilt hat, dann muss man das auch jetzt im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine tun. Wenn diese Grundsätze weiterhin normative Geltung haben sollen, dann muss man das Völkerrecht in diesen Punkten gegen wen auch immer verteidigen. Stattdessen beklagen Jakob und Thies eine „militaristische Orientierung, die nicht nur die russische Seite an den Tag legte, sondern auch die ukrainische Seite“, und stellen damit Angreifer und Angegriffene moralisch gleich.

Kein Wort verlieren Jakob und Thies über die geschichtliche Dimension, die den Ukrainekrieg doch in so hohem Maße prägt, da in ihm eine Jahrhunderte lang unterdrückte Nation und die Möchte-gern-Nachfolger der Gefängniswärter des zaristischen Völkergefängnisses aufeinandertreffen. Eine Sache ist es nun, den ukrainischen Nationalismus zu verurteilen ‒ Jakob und Thies werden sich an Lenin erinnern, der kategorisch urteilte, der Marxismus sei „unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ,gerechtʻ, ,sauberʻ, verfeinert und zivilisiert sein“ (Lenin Werke [LW] Bd. 20, S. 19); eine andere, den Unterschied „zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation“ (LW 36, S. 593) zu ignorieren. Zeit seines Lebens stritt Lenin für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das er als ein grundlegendes demokratisches Recht ansah. Lenin sorgte mit dafür, dass das nationale Selbstbestimmungsrecht 1903 in das Parteiprogramm der SDAPR aufgenommen wurde. Nach der Oktoberrevolution wurde das Recht der Völker im russischen Reich bzw. der in der Union der Räterepubliken „auf freie Selbstbestimmung bis zur Loslösung und Bildung eines selbstständigen Staates“ proklamiert und schließlich in der Verfassung der Sowjetunion festgeschrieben („das Recht des freien Austrittes“ aus der UdSSR). Eben das hat Wladimir Putin in seiner Rede vom 22. Februar „völligen Irrsinn“ genannt, den man nur so erklären könne, dass Lenin damals aufgrund des Kräfteverhältnisses gegenüber Deutschland alles getan hätte, um die Macht zu sichern. Putin meint, die Ukraine könne man „mit Fug und Recht als Wladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen“, denn Lenin „ist ihr Erfinder und ihr Architekt“. Wenn etwas Irrsinn ist, dann das – aber das hat hier ja Methode, denn Putin geht es um die Zerstörung der Ukraine als unabhängigem Staat und die Wiederherstellung des russischen Imperiums.

Es wäre ein schwerer Fehler, wenn man das nationale Element im jetzigen Krieg nicht sieht.

Zum Ersten Weltkrieg, den die revolutionäre Sozialist:innen als (inner-)imperialistischen Krieg charakterisierten, schrieb Lenin: „Das nationale Element“ sei in diesem Krieg „nur durch den Krieg Serbiens gegen Österreich vertreten. Nur in Serbien und unter den Serben haben wir seit vielen Jahren eine nationale Befreiungsbewegung, die Millionen Volksmassen umfasst und deren Fortsetzung der Krieg gegen Österreich ist. Wäre dieser Krieg isoliert, d.h. wäre er nicht mit dem gesamteuropäischen Krieg, mit den eigensüchtigen und räuberischen Zielen Englands, Russlands usw. verknüpft, so wären alle Sozialisten verpflichtet, der serbischen Bourgeoisie den Sieg zu wünschen – das ist die einzig richtige und absolut notwendige Schlussfolgerung aus dem nationalen Element im jetzigen Krieg“ (LW 21, S. 230). Bei allen Unterschieden zwischen Serbien 1914 und der Ukraine heute, begeht man m. E. einen schweren Fehler, wenn man das nationale Element im jetzigen Krieg nicht sieht.

Der Krieg in der Ukraine ist – wie es auch in den Stellungnahmen der Vierten Internationale[i] heißt – ein grundsätzlich zu unterstützender Verteidigungskampf der Ukraine gegen einen imperialistischen Aggressor – das Ganze vor dem Hintergrund verschärfter innerimperialistischer Rivalität zwischen den USA und Russland. Es kann sein, dass sich die Schwerpunkte verlagern, aber zurzeit überwiegt das erstgenannte Element. Deshalb sollten Linke und die Friedensbewegung nicht „Waffenstillstand in der Ukraine“ zu ihrer zentralen Losung machen ‒ eine gut gemeinte, aber falsche Losung, weil sie Angreifer und Angegriffene gleichsetzt ‒ sondern „Russische Truppen raus aus der Ukraine“.

3.5.2022


[i] Siehe Erklärung des Büros der Vierten Internationale vom 1. März 2022: „Nein zu Putins Invasion in der Ukraine! Unterstützung für den ukrainischen Widerstand! Solidarität mit dem russischen Widerstand gegen den Krieg!“, https://intersoz.org/nein-zu-putins-invasion-in-der-ukraine/ https://fourth.international/de/566/europa/426
Siehe auch die Erklärung des Büros der Vierten Internationale vom 30. Januar 2022: „Gegen die militärische Eskalation der NATO und Russlands in Osteuropa“, https://intersoz.org/gegen-die-militaerische-eskalation-der-nato-und-russlands/ https://fourth.international/de/566/europa/418

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