Die Entgelttarifverträge für den Bereich Chemische Industrie laufen zum 30. Juni aus. Betroffen sind 585.000 Beschäftigte in knapp 1700 Betrieben. Traditionell stellt der Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine „Forderungsempfehlung“ zur Diskussion. Eigentlich immer ergibt die Diskussion in den Betrieben und Tarifkommissionen, dass diese Forderung übernommen wird.
Dieses Jahr schlägt die Spitze der zweitgrößten Industriegewerkschaft in Deutschland als Forderung vor: Die Entgelte sollen um 6 bis 7 % steigen, es soll einen Mitgliedervorteil ‒ also eine Besserstellung der Gewerkschaftsmitglieder gegenüber den nichtorganisierten Beschäftigten ‒ erreicht werden, und der Bundesentgelttarifvertrag (also die Regelung der Eingruppierungen) soll „modernisiert“ werden.
Schwerpunkt ist unstrittig die Entgelterhöhung. Nach drei Jahren hoher Preissteigerungsraten ist auch in der Chemieindustrie die wirkliche Kaufkraft, der Reallohn, gesunken. Es gab seit Mitte 2021 drei bescheidene Entgelterhöhungen von 1,3 % 2021 und zweimal 3,25 % jeweils zum Januar 2023 und Januar 2024, sodass die Nominallöhne in der Tariftabelle gestiegen sind, aber nicht in dem Maße, wie sich die Lebenshaltung verteuert hat. Zusätzlich gab es steuer- und sozialversicherungsfreie Einmalzahlungen in Höhe von 1.400 € 2022 und je 1.500 € im Januar 2023 und Januar 2024.
Das hat bei den Beschäftigten zu einem Kaufkraftverlust und sinkendem Lebensstandard geführt, die Arbeitskraft ist also für die Unternehmen billiger geworden. Sollte der Reallohn wieder auf die Höhe von Mitte 2021 steigen, müssten mindestens die 6 bis 7 % voll durchgesetzt werden. Dass aber eine Tarifforderung auch dem Tarifabschluss zu 100 Prozent entspricht, erwartet niemand. In vielen Betrieben gibt es deshalb eine Diskussion, dass die Gewerkschaft schon zweistellig (10 % +) fordern sollte.
Die beiden anderen Teile der Forderungsempfehlung kommen erst in zweiter Reihe. Das sollte auch so bleiben. Jede weitere Forderung bedeutet die Gefahr, dass ein mögliches Ergebnis gegen die Entgelterhöhung „gegengerechnet“ wird.
Dabei hat die Forderung nach einem „Mitgliedervorteil“ viel Zustimmung unter den ehrenamtlichen Funktionär:innen der IGBCE. In der letzten Tarifrunde 2023 gab es zu diesem Punkt die unverbindliche Zusage der Unternehmer, man könne darüber „reden“. Für die Arbeitgeberverbände ist aber jegliche finanzielle Besserstellung der Gewerkschaftsmitglieder ein Tabu. Von daher löst sich diese Forderung des IGBCE-Vorstandes im Moment in eine nebulöse mögliche Besserstellung bei den Kündigungsfristen oder dem Bezug von Kurzarbeitergeld auf. Das ist aber genau nicht geeignet, um der Absicht der Ehrenamtlichen nach einem überzeugenden Argument zur Mitgliedergewinnung zu entsprechen. Eine Forderung – und ihre Durchsetzung – nach einem freien Tag dieses Jahr und zwei oder mehr freie Tage im Jahr in Zukunft nur für Mitglieder würde in den Betrieben vermutlich große Zustimmung finden.
Kern bleibt aber die Höhe der Entgeltforderung und die Bereitschaft, möglichst viel davon durchzusetzen. Immerhin ist das besondere Schlichtungsabkommen in der Chemischen Industrie von der IGBCE gekündigt worden. Dieses Abkommen verhinderte selbst Warnstreiks nach Auslauf der Tarifverträge vor dem Scheitern einer verbindlichen Schlichtung.
Das ist erstmal nicht mehr als eine symbolische Geste: Ob es zu einer wirklichen Tarifbewegung kommt, hängt von dem Druck aus den Betrieben ab, wirklich einen Ausgleich für den Kaufkraftverlust durch Tariflohnerhöhung zu erreichen. Und dann bleibt immer noch die Hintertür von Einmalzahlungen.
Die endgültige Tarifforderung wird am 10. April bundesweit beschlossen, die regionalen Kommissionen haben ihre Beschlüsse Mitte März gefasst. Nach einer Runde mehr oder weniger symbolischer regionaler Tarifverhandlungen wird dann Mitte Mai und Anfang und Ende Juni drei Mal bundesweit verhandelt.