Befindet sich die EU in einer politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise?
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Nach dem Brexit

Befindet sich die EU in einer politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise?

Von Jakob Schäfer | 05.01.2017

Das Brexit-Votum ist für Linke ganz bestimmt kein Grund zum Jubeln. Weder können wir an der Motivation der übergroßen Mehrheit der Brexit-BefürworterInnen [1] noch an dem politischen Ergebnis anknüpfen: Die Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme werden zunehmen, der Zuzug von Arbeitskräften aus Osteuropa und von Flüchtlingen wird weiter erschwert, die rassistische Spaltung der Klasse wird sich vertiefen … ganz zu schweigen von dem durch das Votum begünstigten Aufschwung rassistischer Kräfte in anderen EU-Ländern.

Selbst für diejenigen, die (wie wir) die EU als eine Institution im Interesse des Kapitals ablehnen und sich eine Schwächung dieser Macht wünschen – wie verheerend die EU wirkt, haben am dramatischsten die Menschen in Griechenland zu spüren bekommen –, gibt es keinen Grund zum Feiern.

Aber auch den Herrschenden in Europa kommt diese Entwicklung höchst ungelegen. Zwar können KapitalistInnen in Großbritannien die zu erwartende Vertiefung der Spaltung unter den abhängig Beschäftigten für sich nutzen, aber viel gewichtiger sind die jetzt befürchteten Behinderungen für den Warenverkehr. Nicht grundlos hatten sich mehr als 80% der Mitglieder des britischen Industriellenverbandes CBI (Confederation of British Industry) gegen den Brexit ausgesprochen. [2] Ganz aktuell können wir hinzufügen: Der CBI stützt die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC (PricewaterhouseCoopers) erstellte Analyse, nach der die britische Wirtschaft durch den Brexit bis 2020 (kumuliert) einen Verlust von ca. 100 Mrd. £ erleiden wird. [3] Und für den Finanzsektor sieht die Sache erst recht nicht rosig aus, denn es bahnt sich eine Neuaufteilung der Finanzmärkte in Europa an. Die City, genauer die im gesamten Königreich ansässigen Banken, brauchen ausländische Anlagen, wenn sie weiterhin 8% zum BIP der britischen Wirtschaft beitragen sollen.[4] Da nun aber das Pfund schon abwerten musste und weiter unter Druck stehen wird, stellt sich die Frage, welchen Sinn es macht, dort Gelder anzulegen. (Ein Großteil der Bankgeschäfte allerdings bleibt vom Brexit relativ unberührt, vor allem der Derivaten-und Devisenhandel, in dem die City weltweit führend ist.)

Sicher sind die unmittelbar wirtschaftlichen Überlegungen nicht für alle Teile des Bürgertums die einzige Richtschnur für ihr Handeln. Das britische Bürgertum (mindestens, was ihre politischen Vertreter angeht) war und ist gespalten. Aber: Es stellt sich doch die Frage, ob – für die längerfristigen Interessen der bürgerliche Klasse – dieser „Betriebsunfall“ auf dem Weg zu einer weiteren Integration des europäischen Kapitals vermeidbar war oder ob es für diese offen ausgebrochene Krise nicht doch tiefer liegende Gründe gibt.

Brexit: Ausdruck einer politischen Krise?

Ganz zweifellos waren die parteiegoistischen Motive der britischen Konservativen (verstärkt durch persönliche Karriereplanungen) der Auslöser dafür, dass sie ihr Heil in einem Referendum suchten. Hierüber wollten sie sich als Regierende absichern, angesichts der größer werdenden Zweifel und auch strikter Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung. Die Gegnerschaft zu „Europa“ wurde allerdings – nicht erst seit gestern – vor allem mit chauvinistischen Begründungen vorangetrieben.

Der Nährboden für diese Bestrebungen: Eine wachsende Zahl von Menschen wurde und wird – nicht nur als Ergebnis von Thatchers Deindustrialisierungspolitik – abgehängt.[5] Die Krise 2007 ff – wie auch der Blick nach Südeuropa – wurde von vielen Menschen (mangels einer starken glaubwürdigen linken Alternative) in traditionell chauvinistischer Weise verarbeitet. Sie schlussfolgerten: „Das wollen wir auf keinen Fall und wir wollen nicht noch mehr Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa (vor allem aus Polen); und wir wollen nicht noch mehr Flüchtlinge. Wir wollen, dass die Grenzen dichtgemacht werden!“

So erscheint zwar die Politik der EU wie auch der Troika als ein wesentliches Element für die Zuspitzung der EU-Ablehnung in den letzten Jahren. Der politökonomische und institutionelle Hintergrund für das Ausbrechen der offenen Krise liegt aber in der Struktur dieses Gebildes. Galia Trépère (siehe den Artikel in dieser Inprekorr) hat das gut dargelegt. Wir verweisen auf ihren Beitrag und wollen an dieser Stelle nur kurz zitieren:

„Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der Lage, ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei dient, den Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit dem ‚nationalen‘ Kapital eint. Die verschiedenen Krisen, die die EU erlebt hat, haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der Kräfteverhältnisse, die von den reichsten und mächtigsten Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt werden. […]

Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen der jeweiligen ‚nationalen‘ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits.“ [6]

Mit anderen Worten: Es liegt gerade nicht an den jeweils Regierenden, dass die EU Glaubwürdigkeitsprobleme hat und bei der weiteren Integration nicht mehr vorankommt. Die in Maastricht und Lissabon verkündeten Ziele – nämlich als geeinte Wirtschaftsmacht den anderen Mächten die Stirn zu bieten – rücken in immer weitere Ferne. Wenn das Kapital sich heute so sehr „transnationalisiert“ und der Nationalstaat demzufolge eigentlich der Vergangenheit angehört: Wieso gelingt es nicht, über die Wirtschafts- und Währungsunion hinauszukommen und eine europäische Wirtschaftsmacht zu etablieren? Dazu bräuchte es einen Bundesstaat. Die Frage ist, warum es dazu nicht kam und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nicht kommen kann. Dazu ein kurzer Blick auf aktuelle Strukturtendenzen des Kapitals.

Nationales oder transnationales Kapital

Ohne jeglichen Zweifel schreitet die Konzentration und Zentralisation des Kapitals länderübergreifend voran.[7] Welches ist die Basis für die politökonomischen Grundsatzentscheidungen der Herrschenden? Ernest Mandel schreibt: „Von Natur aus duldet das Kapital in seiner Expansion keinerlei geographische Schranken.“ [8] Aber Mandel hebt auch hervor: „Das Kapital hat die Neigung, internationale Expansion mit der Herausbildung und Konsolidierung nationaler Märkte zu kombinieren.“ [9]

Das Ganze geht auch heute nicht ohne den Einsatz politischer Macht, weshalb Mandel auch schreibt, dass „sowohl das Verhältnis zwischen nationaler und internationaler Expansion als auch das zwischen kapitalistischen Entwicklungsgesetzen und bewußter Benutzung der Staatsgewalt zu ökonomischen Zwecken eine neue Dimension [annimmt].“ [10]

Und weiter: „Die allgemeine Aufteilung der Welt unter imperialistische Großmächte, selbst eine Folge der Einengung der kapitalistischen Konkurrenz auf dem Innenmarkt, kulminiert in einer Verschärfung der internationalen Kapitalkonkurrenz auf dem Weltmarkt, in interimperialistischer Konkurrenz und in einer Tendenz zur periodischen Neuverteilung dieses Weltmarktes, auch mittels Waffengewalt, d. h. imperialistischen Kriegen.“ [11] Mandel fügt hinzu: „Im Spätkapitalismus wird der internationale Konzern die bestimmende Organisationsform des Großkapitals…. [Der tiefere Grund dafür liegt darin, dass] das Wachstum der Produktivkräfte den Rahmen des Nationalstaates durchstößt, d. h. daß die Mindestgrenze der Rentabilität, mit der gewisse Waren erzeugt werden können,  Serien erfordert, die den Absatzmarkt verschiedener Länder umschließen.“ [12]

Wie vollzieht sich nun die internationale Konzentration und Zentralisation des Kapitals konkret, wo liegt die Verfügungsgewalt und wie sieht dann das Verhältnis zu dem einen oder anderen Staat aus?

Winfried Wolf schreibt: „Es ist kein Zufall, dass Großbritannien an EADS nicht beteiligt wurde und dass der britische Rüstungsriese BAE inzwischen stärker in den USA als in Europa verankert ist. Erst aufgrund des Fehlens eines ‚europäischen Kapitals‘ konnte es diesen ‚Riss‘ in der britischen Kapitalistenklasse und in derselben eine Minderheitsfraktion geben, die für den Brexit eintrat.“ [13] W. Wolf nennt als einen entscheidenden Grund dafür, dass es zu keiner europäischen Bourgeoisie gekommen ist: die „nationalen Beharrungstendenzen aller großen nationalen Bourgeoisien im Allgemeinen und in dem Dominanzstreben der herrschenden Klasse in Deutschland im Besonderen. […] Zweitens ist eine solche EU gescheitert, weil der entscheidende jüngere Schritt zur kapitalistischen Vereinheitlichung, die Einheitswährung, zur internen Spaltung der EU führte und auf deutliche ‚nationale‘ Widerstände stößt.“ [14]

Zur Erläuterung: Vollkommen unabhängig vom Willen der einen oder der anderen Regierung hat die Einführung der Einheitswährung für so unterschiedliche nationale Volkswirtschaften wie die des Euroraums aus strukturellen Gründen katastrophale Folgen: Die schwächeren Volkswirtschaften können ihre Industrie nicht mehr durch Abwertungen schützen. Am Anfang profitierten diese Länder von den gesunkenen Kreditzinsen. Aber schon nach wenigen Jahren wurden sie niederkonkurriert und können sich nicht mehr wehren. Die Kluft in der EU wurde also allein schon deswegen größer, statt kleiner.

Mit der Stringenz nüchterner politökonomischer Analyse schrieb Mandel bereits 1972: „Aber eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Handelspolitik, eine gemeinsame Steuerpolitik, eine gemeinsame Politik von strukturändernden öffentlichen Arbeiten ist ohne eine Bundesregierung mit Steuerhoheit, Finanzhoheit und eine die Autorität garantierende exekutierende Repressionsgewalt, d. h. ohne einen gemeinsamen Staat, auf die Dauer unmöglich.“ [15]

Genau in dieser Falle steckt nun die EU, zuvörderst die Eurozone. Einen Bundesstaat auf europäischer Ebene zu bilden, ist vor allem aus den Gründen der gewaltigen wirtschaftlichen Ungleichheit unmöglich. Die Kosten einer Angleichung auf ein für die Menschen akzeptables Lebensniveau sind nicht zu stemmen, von den sonstigen Schwierigkeiten, die dann auf der institutionellen Ebene, der kulturellen (sprachlichen) und politischen Ebene entstünden, ganz abgesehen. [16]  Würde ein Anlauf in diese Richtung unternommen – mit der zu befürchtenden dramatischen Angleichung der Lebensverhältnisse nach unten – dann käme es in kürzester Zeit zu neuen Austrittsreferenden (Niederlande, Frankreich usw.). Es wäre das endgültige Aus für die EU.

So kann die EU über einen gemeinsamen Markt nicht hinauskommen. Und wenn der Euro beibehalten wird, können die Probleme in keinem Fall kleiner werden. Das Beispiel Griechenland wird sich zwangsläufig wiederholen, und zwar völlig unabhängig davon, wer in Berlin Finanzminister ist. So könnte schon Italien der nächste Fall sein. Dort sind die Banken so marode (sie sitzen auf faulen Krediten von deutlich mehr als 360 Mrd. € [17]), dass ohne die Beschränkungen durch die EU der italienische Staat schon längst eingegriffen hätte (es sind nämlich zu viele Kleinsparer betroffen, was bei einem Run auf die Banken zu einem totalen Zusammenbruch des Finanzsektors führen kann, mit Auswirkungen weit über Italien hinaus). Die EU will diese Intervention aber (noch) nicht erlauben, weil dies „Schule machen würde“. Die Auflagen der EU sind nicht nur eine Folge davon, dass sie aus politischen Gründen gegenüber der aufgebrachten Öffentlichkeit hoch und heilig versprochen hat, dass der Bankenfreikauf von 2008/09 sich nicht wiederholen wird. Der objektive Grund: Die Mittel der öffentlichen Haushalte sind heute stark eingeengt, schließlich wurde mit den damaligen Bankenrettungsprogrammen die Krise in die Staatshaushalte vieler Länder (und damit indirekt auch in die EU als Gesamtgebilde) geholt.

Letztlich stellt sich für das in Europa fungierende Kapital das Problem, wie es Ernest Mandel beschrieb, als er über die damalige EWG ausführte: „Genauso wie innerhalb dieser internationalen Konzerne keinerlei Hegemonie geduldet wird, so kann auch die dieser Form des Kapitals kongruente Staatsform auf die Dauer weder die Vormacht eines einzigen bürgerlichen Nationalstaates gegenüber anderen noch die lose Konföderation souveräner Nationalstaaten sein, sondern nur ein durch Übertragung entscheidender Souveränitätsrechte gekennzeichneter supranationaler Bundesstaat.“ [18]

Und genau hier liegt die Crux der EU im 21. Jahrhundert: Für eine solche Übertragung der Souveränitätsrechte gäbe es folgende Lösungsansätze: Entweder sie wird mit Schwert und Feuer durchgesetzt, vergleichbar der deutschen Reichsgründung 1871. Dies ist aber unter den heutigen Bedingungen der fortgeschrittenen Internationalisierung der Produktion wie auch des Absatzes auf dem Boden der imperialistischen Mächte keine Erfolg versprechende Perspektive. Die Rückschläge für die Profitaussichten auf Jahre und Jahrzehnte hinaus wären zu gravierend, von den mangelnden militärischen und erst recht politischen Erfolgsaussichten eines solchen Abenteuers im 21. Jahrhundert mal ganz abgesehen.

Die zweite Möglichkeit bestünde in einer wirtschaftlichen Dynamik, die alle betroffenen Länder – quasi „freiwillig“ – mitziehen lassen würde. Aber genau diese Dynamik existiert nicht und ist angesichts der stagnativen bis stellenweise sogar rezessiven Phase der derzeitigen langen Welle des Kapitalismus auch überhaupt nicht absehbar. Auf dieser Grundlage kann also die bisherige relative Dominanz des deutschen Bürgertums (oder auch des hauptsächlich in Deutschland basierten Großkapitals) nicht zu einer alles beherrschenden absoluten Dominanz ausgebaut werden. Dies wäre dann möglich, wenn die deutsche Wirtschaft beispielsweise dreiviertel des EU-BIP ausmachen würde (heute sind es aber gerade mal 27%) oder wenn die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Europa über längere Zeiträume hohe Zuwachsraten aufweisen könnte.

Heute ist aber das Gegenteil der Fall: Die wirtschaftliche Ungleichheit in den einzelnen Ländern ist so groß, dass eine Angleichung der Verhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist, und zwar nicht nur wegen der gewaltigen Transfers an Wirtschaftsressourcen, die nötig wären, um eine funktionierende Nationalökonomie auf europäischer Ebene zu schaffen, was übrigens auch die Herausbildung einer europaweit sich ausgleichenden Profitrate voraussetzen würde. Heute wächst sogar die Kluft zwischen Deutschland, den Niederlanden und Österreich auf der einen Seite und den anderen Ländern des „Kerneuropas“ (etwa Frankreich und Italien) auf der anderen Seite. Dies wird auch noch dadurch gefördert, dass der deutsche Staat von dem Schuldendienst der anderen Länder profitiert, denn deutsche Staatsanleihen zu kaufen, bringt den Käufern zurzeit nur Negativzinsen und dem deutschen Finanzminister tatsächliche Einsparungen. In wirtschaftlich unsicheren Zeiten profitieren immer die „sicheren Häfen“, was also die Kluft nur vergrößern kann und vergrößern wird. [19]

Machtblöcke und transnationale Konzerne

Zu diesen Schwierigkeiten gesellt sich eine weitere hinzu: Im internationalen Kampf um Einflusssphären, Zugriffsrechte auf bestimmte Rohstoffe usw. spielen die internationalen Machtblöcke nach wie vor eine bedeutende Rolle. Die über Jahrzehnte existierende Tripoliarität (Nordamerika, Europa, Japan) hat sich aber stark verändert:

  • Eine Reihe von Schwellenländern (BRICS) spielt inzwischen auf der internationalen Bühne eine gewisse Rolle und kann gewissen Konzernen aus den alten imperialistischen Mächten durchaus Konkurrenz machen.
  • Vor allem China baut seine Machtstellung sehr zielstrebig aus (Landkauf in Afrika, Kauf von Rohstoffquellen und Infrastruktureinrichtungen in allen Teilen der Welt, staatlich gesteuerter Kauf von Hochtechnologie – Kuka ist nur das letzte Beispiel – usw.). Inzwischen wird diese Machtpolitik sogar militärisch abgesichert (s. die Besetzung sowie Schaffung von „künstlichen“ Inseln im südchinesischen Meer).
  • Die USA stehen heute ökonomisch schwächer da als noch in den 1970er Jahren und bauen deswegen noch mehr auf ihre militärische Überlegenheit wie auch wieder verstärkt auf die Rolle ihrer Leitwährung.

Kurz: Die EU konnte die Einbußen in der ökonomischen Dominanz der USA aufgrund ihrer strukturellen Probleme nicht nutzen. Sie ist zwar ein wichtiger Absatzmarkt, aber als gemeinsam handelnder Faktor heute tendenziell eher wieder von abnehmender Bedeutung. Das drückt sich nicht nur in der sinkenden Bedeutung des Euro als Reservewährung aus. Auch militärisch sind die EU-Kapazitäten (im Vergleich zu den Großmächten) bescheiden. So bleibt die EU weiterhin stark an die USA angelehnt. Eine von den USA unabhängige – oder ihr gar widerstreitende – Politik ist ihr aufgrund der nicht lösbaren Strukturprobleme nicht möglich. Die USA werden kein Interesse daran entwicklen, dass die EU zerfällt, aber als ernsthafter, „herausfordernder“ machtpolitischer Konkurrent ist die EU zweite Liga.

Bestimmte Kapitale – nämlich diejenigen, die in einem bestimmten Block (erst recht in einer bestimmten Nation) ihre Eigentümerbasis haben – setzen aber auf eine enge Unterstützung „ihres“ Blocks oder „ihrer“ Nation. Dies um so mehr, als in Zeiten weltwirtschaftlicher Krisen die Unterstützung durch den Staat heute eine größere Rolle spielt als etwa im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus den Erfahrungen nach dem Auslaufen der expansiven Phase der kapitalistischen Entwicklung nach dem II. Weltkrieg schlussfolgerte Mandel: „Die einzige Prognose, die man aus dieser Erfahrung ableiten kann, ist, daß multinationale Konzerne nicht nur eines Staates, sondern besonders eines stärkeren Staates als des ‚klassischen Nationalstaates‘ bedürfen, um die ihre riesigen Kapitalien periodisch bedrohenden Wirtschafts- und Gesellschaftswidersprüche wenigstens teilweise überwinden zu können.“ [20]

In Mandels Analyse sind multinationale Konzerne, die gegenüber der Staatsmacht „indifferent sind“, eher als eine Zwischenform (als eine Übergangsform) anzusehen. Denn früher oder später bemühen sich auch diejenigen Konzerne, die eine multinationale Eigentümerbasis haben, um die „Benutzung der Staatsgewalt zum Zweck der Verteidigung der eigenen Interessen gegen Konkurrenten.“ [21]

Gerade das Scheitern der Herausbildung eines europäischen Bundesstaates ist für EU-beheimatete Konzerne eine gewisse Ernüchterung. Die Rückendeckung, die sie sich möglicherweise noch vor 15 oder 20 Jahren von einer zusammengewachsenen EU erhofften, ist im Konkurrenzkampf mit außereuropäischem Kapital nur begrenzt zu erwarten. Dass diese Konzerne allerdings auf innereuropäischer Ebene sehr wohl die Unterstützung der EU-Institutionen haben – vor allem, wenn es um weitere Privatisierungen, Sozialabbau, Abbau von Gewerkschaftsrechten usw. geht –, muss an dieser Stelle sicher nicht extra hervorgehoben werden.

Die Tatsache, dass die EU auf absehbare Zeit nicht über die Ansätze eines Protostaates hinauskommt, hat zur Folge:

  1. dass sie das internationale Kräfteverhältnis nicht zu ihren Gunsten (und damit zugunsten des hauptsächlich europäisch beheimateten Kapitals) verändern kann;
  2. dass die Krise der EU als politökonomisches Projekt und die Selbstbeschäftigung der EU-Institutionen zwangsläufig andauern werden, ganz gleich, wer gerade im geschäftsführenden Ausschuss zur Umsetzung der Kapitalinteressen (d. h. vor allem in den Regierungen Kerneuropas) sitzt.
  3. Je nachdem, wie sich dieser geschäftsführende Ausschuss anstellt, kann dies die Austrittsbestrebungen in anderen Ländern fördern, was die Krise noch verschärfen würde. Sie wird sich auch ohne weitere Referenden dann verschärfen, wenn rechtsextreme Parteien Zulauf bekommen. Auch die Fortsetzung der Erpressungspolitik gegenüber Griechenland (tendenziell auch gegenüber Portugal) wird die Wogen des politischen Unmuts nicht gerade glätten.

Diese erschwerten Bedingungen sind natürlich dem Kapital wie auch den Regierenden bekannt. Es ist deswegen damit zu rechnen, dass in nächster Zeit verstärkt der Wunsch nach einer Konzentration auf ein Kerneuropa bzw. auf ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ vorangetrieben wird. Allerdings wird eine solche Option aus politischen Gründen (die Grundlagenverträge müssten neu ausgehandelt werden) kaum zu realisieren sein, und zwar allein schon deswegen, weil beispielsweise Polen und andere osteuropäische Länder bei Laune gehalten werden sollen (sie spielen in der Einkreisungspolitik gegenüber Russland eine wichtige Rolle).

Welche Perspektiven des Widerstands und der Entwicklung eines Gegenmodells?

Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, dass die EU nicht einfach nur falsch oder schlecht regiert wird und eine Reihe von Demokratiedefiziten hat. Dieses kapitalistische Projekt hat beispielsweise die Personenfreizügigkeit nur als ein Beiwerk eingeführt, denn auf dem Weg einer weiteren Integration mussten auch die Arbeitskräfte frei sein, durften also keinen regionalen (oder gar vorkapitalistischen) Einschränkungen unterworfen bleiben. Die Menschen „mitnehmen“ war somit nicht nur politisch wichtig, es entspricht auch kapitalistischer Vernunft.

Wenn nun in der nüchternen Analyse die EU kein Projekt im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung ist und sie auch nicht in unserem Sinne reformierbar ist, so ist sie natürlich noch lange nicht für die Mehrheit der Menschen „erledigt“, jedenfalls ganz bestimmt nicht in den Kernländern. Selbst in Griechenland wird die EU immer noch von großen Teilen der Bevölkerung nicht grundsätzlich abgelehnt, weil mit dieser Institution gewisse Errungenschaften (vor allem die Reisefreiheit, der Aufschwung in den frühen 2000er Jahren, der Touristenstrom usw.) verbunden werden.

Es wird deshalb in keinem Fall reichen, die EU zu kritisieren und ihr ein alternatives Wunschmodell gegenüberzustellen. Klar muss sein – erst recht nach dem vorwiegend fremdenfeindlich motivierten Brexit-Votum –, dass wir (bzw. die linken Kräfte in Europa) keine Bewegung für ein anderes Europa erschaffen können, mehr oder weniger aus dem Nichts. Dafür gibt es heute keine ausreichende Basis. Solche Initiativen von linken Kreisen hängen faktisch in der Luft.

Wir sind darauf angewiesen, dass Widerstandsbewegungen entstehen, die sich nicht einfach nur gegen die „EU-Bürokratie“ oder dergleichen richten. Und nur an solchen Bewegungen können wir positiv anknüpfen, die sich nicht gegen Einwanderungen usw. richten, sondern auf grenzüberschreitende Solidarität bauen. Solche Bewegungen sind heute absolute „Mangelware“, selbst im gewerkschaftlichen Bereich, wo Widerstand gegen die Politik von Konzernen mehr denn je angesagt ist. Auch der Widerstand etwa gegen die Stellenabbaumaßnahmen von Alstom (heute General Electric) ist ein mühsames Geschäft und kommt schon auf der nationalen Ebene über kleinere Aktionen kaum hinaus (nicht überall gibt es eine solche Basis für Widerstand wie in Mannheim).

Dessen ungeachtet ist es sinnvoll und wichtig, sich über einige Grundlagen zu verständigen, weil ein rein defensiver Kampf ohne klare Vorstellung der künftigen, auch der weit in der Zukunft liegenden Ziele schnell in eine Sackgasse geraten kann.

  1. Der Schwerpunkt unserer Aktivitäten gegen die Politik der EU (bzw. der Troika) kann nicht auf der Propaganda für die sozialistischen Staaten von Europa liegen (abgesehen davon, dass für unser Fernziel auch diese letztlich nur ein Zwischenstadium darstellen können; alle sozialen wie politischen Grenzen müssen im Interesse einer humanen Gesellschaft überwunden werden). Die Bemühungen müssen sich auf die Unterstützung von defensiven Kämpfen konzentrieren (offensive sind ja leider vorläufig unrealistisch).
  2. In diesen Kämpfen allerdings ist unsere Argumentation keine zweitrangige Angelegenheit. Sie muss nicht nur nachvollziehbar sein, sie muss auch langfristig in sich schlüssig sein. So sollten wir nicht für einen Ausbau der Demokratie in den EU-Institutionen argumentieren, denn dies würde die Illusion fördern, dass wir die EU grundsätzlich für in unserem Sinne als reformierbar erachten. Schließlich kann die EU aus den genannten strukturellen Gründen niemals zu einer sozialen Union werden.
  3. Auch kann eine Forderung nach einer Ausdehnung der Kompetenzen des Europaparlaments für uns keine in sich schlüssige und zukunftweisende Argumentation eröffnen. Das Europaparlament wird nicht dadurch zu einem Instrument der Demokratie von unten, dass wir ihm mehr Kompetenzen verschaffen. Hier stellt sich schon die Frage: Kompetenzen wofür und um welche Interessen durchzusetzen? Etwa mehr Kompetenzen dafür, dass es mit den Tausenden Lobby-Verbänden direkter verhandeln darf? Das EU-Parlament kann nicht losgelöst vom Gesamtprojekt der kapitalistischen EU und den Funktionsweisen eines bürgerlichen Parlaments gesehen werden.
  4. Unsere Vorstellungen eines anderen Europas, für das wir bei unserem Eingreifen in diese Kämpfe argumentieren, müssen im Kern auf Folgendem aufbauen und für Nicht-Linke nachvollziehbar erläutert werden:
    1. Die entscheidende Kraft für die Durchsetzung eines anderen, eines soldarischen, zukunftssicheren, friedlichen und ökologisch ausgerichteten Europas ist die Klasse der Lohnabhängigen. Die Gewerkschaften müssen für diese Ziele gewonnen werden, Abwehrkämpfe gegen die Politik der Konzerne müssen international geführt werden.
    2. Dieses andere, zukunftsweisende Europa kann nur dann den Interessen der großen Mehrheit gerecht werden, wenn das Kapital enteignet wird. Das stellt unvermeidbar die Machtfrage. Innerhalb des kapitalistischen Systems ist eine gerechte und von gesellschaftlicher Unterdrückung freie Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung nicht möglich. Es braucht eine demokratisch geplante Wirtschaft. Eine Fortexistenz von Kapital ist damit unvereinbar, genauso wie es innerhalb des Kapitalismus keine partizipative und kooperative Wirtschaftsweise geben kann.
    3. Politisch kann eine solche andere Gesellschaftsordnung nicht mit den bürgerlichen Machtinstrumenten bewerkstelligt werden, also mit einer abgehobenen Regierung, die von einem nicht abwählbaren Parlament für vier oder mehr Jahre bestimmt wird. Die beste bisher bekannte Form der politischen Partizipation und gemeinschaftlicher Machtausübung (d. h. Entscheidungsgewalt in gesellschaftlichen Fragen) ist die Rätestruktur. Dort ist auf der jeweils für diese Fragen relevanten Ebene nach offener und demokratischer Debatte zu entscheiden.
    4. Eine Etappentheorie, nach der wir zuerst eine „demokratischere EU“ schaffen und dann weiter kommen, beruht auf purer Illusion, einer gefährlichen Illusion, weil sie von den entscheidenden Fragen ablenkt und zwangsläufig in eine Sackgasse führen muss.
    5. Und in keinem Fall kann eine Linke, die sich nicht selbst ad absurdum führen will, den entscheidenden Fragen ausweichen und etwa populistischen Bestrebungen anheimfallen, wie dies beispielsweise Sahra Wagenknecht schon zum wiederholten Mal in der Flüchtlingsfrage gemacht hat. Dies kann nur Verwirrung stiften und uns inhaltlich und argumentativ schwächen. Von solchen Irrungen muss eine sich selbst ernst nehmende Linke öffentlich distanzieren. [22]

Für den Aufbau von revolutionären Kräften, die sowohl am Aufbau einer breiten, möglichst internationalen Widerstandsfront beteiligt sind, als auch in der politischen Ausarbeitung zukunftsweisender Perspektiven engagiert sind, bleibt noch viel zu tun.

1. August 2016

 

Fußnoten

[1] Phil Hearse hat sicherlich Recht, wenn er schreibt: „[The] political content is that Brexit won because of mass hostility to immigration. Much of that is racist or at least xenophobic.” http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article38303

[2] S. Costas Lapavitsas in seinem Beitrag „Warum Brexit?“ in Lunapark21, Heft 34 (Sommer 2016)

[3] http://news.cbi.org.uk/news/leaving-eu-would-cause-a-serious-shock-to-uk-economy-new-pwc-analysis/

[4] Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert unter 5%.

[5] Christian Bunke hat diese Entwicklung recht anschaulich zusammengefasst: „Die soziale Lage arbeitender Menschen in Großbritannien“, in Lunapark21, Nr. 34, S. 44 ff

[6] Weiter führt sie aus: „Die EU ist außerstande, mit dieser Logik zu brechen, da sie – anders, als ihre „Gründerväter“ glauben machen wollen – nicht aus dem Willen der Völker zur Zusammenarbeit entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den USA auf den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich gegen deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren wollen.“

[7] Siehe dazu auch Kapitel 10 in Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt (suhrkamp) 1972

[8] ebenda, S. 289; Mandel verweist hier zusätzlich auf Marx, MEW 25, 345 f.

[9] ebenda, S. 290

[10] ebenda, S. 290

[11] ebenda

[12] Ebenda, S. 294

[13] „Die Troika auf den Champs-Élysées!“, Lunapark21 Nr. 34, S. 6

[14] ebenda

[15] Mandel, a. a. O. S. 305

[16] Die überschlägige Rechnung des Autors für die erforderlichen Summen für eine auch nur annähernde Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU-28 (künftig 27) geht in die Richtung von mindestens 3 % des jährlichen BIP der Kernländer über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren. Das sind unvorstellbare Summen und würde – wenn es zu keiner Konfiszierung der Profite und zu keiner Enteignung des Kapitals führen soll, zu einem beispiellosen Reallohnabbau und zur Vernichtung der sozialen Sicherungssysteme führen, kurz zu einer Senkung des Lebensstandards in D, F usw. um ca. 50%!

[17] Spiegel online v. 12. 7. 2016: „Zusammengenommen hat Italiens Finanzbranche Kredite von insgesamt 360 Milliarden Euro in ihren Bilanzen, die, freundlich gesagt, ‚problematisch‘ sind. Das sind rund 20 Prozent aller ausgegebenen Kredite. Von diesen gelten bis zu 200 Milliarden als ‚wahrscheinlich unwiederbringlich‘, wie Branchenprofis es ausdrücken.“

[18] ebenda, S. 304

[19] Schon 2014 brauchte der Bundeshaushalt aufgrund der Euro-Krise und dem Run auf sichere Anleihen im Vergleich zu 2008 29,61 Mrd. € weniger Zinsen zahlen. Inzwischen hat sich diese Entwicklung so weit fortgesetzt, dass in den Monaten März, Mai und Juni 2016 der Bund über seine Kredite (Staatsanleihen) mehr Geld einnimmt, als er dafür zahlen musste. Er „verdiente“ im zweiten Quartal 2016 mit seinem Schuldenmachen sage und schreibe 1,5 Mrd. €. Spiegelonline, 1. 8. 2016

[20] ebenda, S. 307

[21] ebenda, S. 306

[22] Die Erklärung der AKL vom 26. 7. (Thies Gleiss) ist wohltuend, genauso wie die anderer Mitglieder der Partei (Van Aken, Pflüger usw.). Wir sollten aber nicht vergessen, dass dies kein einmaliger Ausrutscher Sahra Wagenknechts ist. Zu ihren (und Lafontaines) populistischen Äußerungen schrieb der Autor im Zusammenhang mit der Verschärfung der Politik gegenüber Flüchtlingen nach der Silvesternacht von Köln: „Solange also diese vom Imperialismus beherrschte Weltunordnung existiert, verbietet es sich unserer Ansicht nach auch für eine Politikerin der Partei Die Linke, sich in der Form zu äußern wie Sahra Wagenknecht (ähnlich auch Lafontaine) sich gegenüber dem Spiegel äußerte: ‚Wir können nicht jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen.‘ (Spiegel online 12. 12. 2015). Damit wird letztlich (wenn auch ungewollt) nur die Politik der RassistInnen bedient.“

Foto: CC BY-NC-ND 2.0, Jody Sticca, “Mosso Biella 2012”

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