Ein Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken   an Ernest Mandel.
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Zum 100. Geburtstag von Ernest Mandel

Ein Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken an Ernest Mandel.

Von Manuel Kellner | 25.07.2023

Zwischen anfangs 50 und später rund 80 Genossinnen und Genossen nahmen an dem Tagesseminar in Paris teil. Gilbert Achcar trat als Organisator auf und erklärte, dass alles aufgenommen wird, um ein Video zu erstellen. Ganz überwiegende Verkehrssprache war Französisch. Eine Buchveröffentlichung mit verschriftlichen Referaten ist ins Auge gefasst, aber noch nicht konkret geplant. Ein Bericht vom Pariser Seminar zum Gedenken an Ernest Mandel.

Meine Aufgabe war, die erste Runde zum Thema Ökonomie zu moderieren. Daniel Albarracín (Andalusien) und Francisco Louça, genannt Chico (Portugal) sprachen beide zum Thema der Langen Wellen der Konjunktur. Die beiden Referate waren nicht kontrovers und müssen daher hier nicht getrennt vorgestellt werden. Nur konzentrierte sich Chico etwas pointierter auf die Frage, wieso die vierte Lange Welle mit stagnativ-depressivem Grundton seit 1968 sich so lange bis heute hinzieht.

Für Ernest Mandel war ein wichtiger Unterschied der Langen Wellen zu den 7- bis 10jährigen Zyklen der kapitalistischen Ökonomie, dass sich in den Langen Wellen mit expansivem Grundton sehr wohl die Elemente zum Abkippen in die Langen Wellen mit depressivem Grundton entwickeln, nicht aber umgekehrt in letzteren die Elemente zum Übergang in eine neue Lange Welle mit expansivem Grundton. Für das Aufkommen neuer Langer Wellen mit expansivem Grundton seien daher sogenannte „exogene“, außerökonomische Faktoren ursächlich.

Aus dieser Sicht konnte erwartet werden, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und des „Ostblocks“ als bedeutender Sieg des westlichen Kapitals als ein solcher Faktor hätte wirken können. Auch die neuen Technologien im Bereich der Informatik und damit der Automation bzw. der Steuer- und Regeltechnik sind ja vorhanden. Und doch hat sich in den Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR keine neue Lange Welle mit expansivem Grundton aufgebaut. Warum?

Darauf haben beide Referate eine Reihe von Antworten gegeben. Die wichtigste scheint mir zu sein, dass die immensen erzielten Profite zu einem erheblichen Teil nicht produktiv investiert werden, da im Bereich der materiellen Produktion zu geringe Extraprofite erwartet werden. Vielmehr wird sehr viel in fiktives Kapital investiert. Im Wesentlichen sind das Wetten auf zukünftige Entwicklungen. Diese Wortwahl ist übrigens treffender, als von „Spekulation“ zu sprechen, aus dem einfachen Grund, dass alle Investitionen, auch die produktiven, in der kapitalistischen Produktionsweise spekulativ sind (niemand kann im Vorhinein wissen, ob in ausreichendem Maße Extraprofite erzielt werden).

Birgit Mahnkopf, emeritierte Professorin der Hochschule für Wirtschaft in Berlin (nur zur Kennzeichnung der Person: sie ist die Witwe von Elmar Altvater) hat viel zu den ökonomischen, ökologischen und politischen Grenzen der Globalisierung gearbeitet. Sie zeichnete in ihrem facettenreichen Beitrag das Bild eines zeitgenössischen Kapitalismus voller Widersprüche, in dem die Rüstungsproduktion einschließlich der Herstellung automatisierter Waffensysteme und der verschärften Gefahr expandierender kriegerischer Konflikte eine große Rolle spielen.

Cédric Durand, Professor für Ökonomie und Mitglied der Denkfabrik der France Insoumise von Mélanchon, sprach nicht zur Krise des zeitgenössischen Kapitalismus, obwohl er dazu viel arbeitet. Er behandelte die Theorie der sozialistischen Planung bei Ernest Mandel. Dabei stellte er als wichtigstes Element heraus, dass für Mandel alle möglichen Ansätze der demokratischen Selbstverwaltung von Betrieben und Institutionen, so wichtig sie auch seien, nicht ausreichen. Vielmehr muss in einer demokratisch geplanten Wirtschaft darüber hinaus etwas bislang nie Dagewesenes verwirklicht werden: Wirklich demokratische Entscheidungen der großen Prioritäten bei den gesellschaftlichen Investitionen.

Die zweite Runde drehte sich um „Ernest Mandel und der Mai 1968“.

Gleichwohl befasste sich Janette Habel im ersten Referat wiederum mit dem Problem der sozialistischen Planwirtschaft. Ernest Mandel war 1963/64 von Che Guevara zur Teilnahme an der öffentlichen Diskussion über die Wirtschaftspolitik nach Kuba eingeladen worden. Er stimmte mit dem Che in wichtigen Punkten überein und trat deshalb als dessen Bündnispartner auf: Kritik der Reformen für mehr Markt in der UdSSR, wichtige, aber nicht beherrschende Rolle des Wertgesetzes in der Ökonomie von Übergangsgesellschaften, Produktionsanalysen für die Entscheidungen über Investitionen, und vor allem für die Einführung kollektiver statt individueller Anreize zur Hebung der Arbeitsproduktivität in den Betrieben.

Für beide standen Plan und Markt (die Leontieff als „Verbündete“ ansah) in der ganzen Übergangsperiode in einem antagonistischen Konflikt miteinander. Der Markt darf existieren, muss aber dem Plan untergeordnet werden, sonst droht die kapitalistische Restauration. Beide waren auch der Meinung, dass viel Zeit, viele neue Erfahrungen und Irrtümer nötig sind, bevor Gesetze der Ökonomie der Übergangsgesellschaft formuliert werden können.

Bekanntlich war der Che leider der Verlierer der Ökonomie-Debatte.

Für Janette Habel ist auch heute noch die demokratische Selbstorganisation das entscheidende Mittel sowohl im Kampf gegen die Bürokratie wie gegen die entsolidarisierenden Wirkungen des Markts.

Pierre Rousset (Frankreich) erinnerte daran, dass der Mai 68 die sozialistische Revolution „auf die Tagesordnung“ gesetzt hatte. Es sei nun an der Zeit, „von Propagandagruppen zu Kampforganisationen“ überzugehen. Innerhalb einer Woche sei eine Vorhut von tausenden von Arbeitern entstanden, die die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution begriffen hätten.

Jedoch seien wir, die Sektion der IV. Internationale damals, in Wirklichkeit nur „Strohhalme im Wind“ gewesen, die in einer wirklichen Situation der Doppelherrschaft keine wirksame Rolle hätten spielen können. Mandel hatte die Neigung auszuweichen, wenn wirkliche Probleme auftauchen. Seine Vision revolutionärer Prozesse war recht linear. Es gab zwei Riegel, die Kommunistische Partei und die von ihr kontrollierte Gewerkschaft CGT. Wenn man diese beiden in wenigen Wochen wegsprengt, dann könnten auch kleine revolutionäre Organisationen viel beeinflussen.

Jedoch: eine solide Verankerung in den Massen erfordert viel Zeit. Auch in Perioden des Aufschwungs der Massenbewegung und der Doppelherrschaft gibt es Gegenschläge. Und denen können Organisationen nicht widerstehen, die die genannte Verankerung nicht lange vorher erarbeitet haben.

Jaime Pastor (Spanischer Staat) stellte Ernest Mandels Kritik am Eurokommunismus dar (Vgl. Ernest Mandel 1978: Kritik des Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus?). Dabei zeigte er, dass der Führer der spanischen KP Santiago Carillo ein „intelligenter“ Opportunist gewesen war: er war nicht nur sehr kritisch gegenüber der Sowjetunion, sondern äußerte sich auch sehr viel positiver zur Revolte des Mai 68 als etwa Georges Marchais von der KP Frankreichs.

Pastor erinnerte an die Rede von Ernest Mandel in Lissabon, in der er, wie Saint-Just, davor warnte, es sei schlimm eine „nur halbe“ Revolution zu machen. Viele Jahre nach den zerstobenen Hoffnungen der Mitte der 70er Jahre sprach sich Mandel 1992 für die „Wiedergeburt der Hoffnung“ aus, sprach von der „Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus“, von der Notwendigkeit, auch an „kulturellen Kämpfen“ teilzunehmen, den „Paternalismus“ auch in den eigenen Reihen zu bekämpfen und entwickelte eine immer kritischere Einstellung zu den Jahren 1918-1923 in der russischen Räterepublik (also vor dem Sieg der Stalin-Fraktion).

Alexander Neumann, der viel zur Frankfurter Schule gearbeitet hat, zeigte eine Reihe von Parallelen und Berührungspunkten dieser mit dem Schaffen von Ernest Mandel auf. So habe Mandel, etwa in „Der junge Marx“, nicht wie Althusser eine chinesische Mauer zum älteren Marx diagnostiziert. Zwischen Marcuse, Horkheimer, Adorno, Bloch und auch Rudi Dutschke und Mandel habe es aber leider nie eine wirkliche Debatte gegeben. Etwas ironisch erzählte Neumann vom Auftritt Mandels in Berlin (zusammen mit Oskar Negt). Thema war damals angesichts des Zusammenbruchs der UdSSR das Erbe der Oktoberrevolution. Und da hielt Ernest Mandel gegen Wind und Wetter geradezu „obsessiv“ an der Theorie vom „bürokratisierten Arbeiterstaat“ fest.

Sebastien Budgen (England) zeigte den starken Einfluss Mandels als Autor in England auf, wohingegen er dort politisch eine sehr geringe Rolle spielte. Budgen unterstrich die Bedeutung der New Left Review und der Rolle von Perry Anderson als wohl strengster Redakteur, den Mandel je hatte. Andersons Kritik am „Spätkapitalismus“ führte dazu, dass dessen englische Version eine bedeutende Verbesserung gegenüber dem deutschen Original von 1972 war.

Mattéo Allalouf (Belgien) schilderte eindringlich die Rolle von Ernest Mandel in der belgischen Arbeiterbewegung, bei der Vorbereitung des Generalstreiks 1960/61, des Masseneinflusses vermittelt über die Gewerkschaftslinke und die Linke der sozialdemokratischen Partei bis Mitte der 60er Jahre. Er sprach dabei auch über die Problematik des damit verbundenen „Entrismus“, der ja konspirativ durchgeführt werden musste, wodurch sich enge Mitstreiter (wie er selbst) letztlich hintergangen gefühlt hatten, als nach irgendeiner obskuren Sitzung in Paris die Bombe platzte: raus aus der Sozialdemokratie! Die Hoffnungen, dass sich daraus eine relevante linke Kraft entwickeln könnte, zerschlugen sich jedoch völlig.

Es sprach weiterhin Catherine Samary zum Thema Übergang zum Sozialismus und Entfremdung und zur Frage, warum sich die Hoffnung auf eine „politische Revolution“ in der Sowjetunion und den anderen Ländern nicht realisiert hatte, und welche – unvollständigen, aber doch auch heute noch anregenden Lehren Mandel daraus gezogen hatte.

Michael Löwy zeichnete die Entwicklung des ökologischen Problembewusstseins von Ernest Mandel seit den 70er Jahren. 1962, im Jahr des Traité d’Economie marxiste (deutsch: Marxistische Wirtschaftstheorie) hatte er noch keins. In den Folgejahren bis zum Schluss machte er immer wieder Fortschritte, hatte aber auch Rückfälle in die frühere Unterschätzung der Problematik.

Übernommen aus die internationale, 4/2023. Dort sind auch weitere Beiträge zum Seminar sowie Artikel von und über Ernest Mandel zu finden.
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