Permanente Inflation ‒ Symptom für den Niedergang des Kapitalismus
TEILEN
Analyse von Ernest Mandel aus dem Jahr 1972

Permanente Inflation ‒ Symptom für den Niedergang des Kapitalismus

Von Ernest Mandel | 01.11.2022

Vor 50 Jahren erschien in der französischen Monatszeitung Le Monde diplomatique ein Artikel von Ernest Mandel über die Inflation, „die Plage der modernen Volkswirtschaften“.[i]

Vor dem Zweiten Weltkrieg nahm die Inflation vor allem die Form einer extrem hohen Ausgabe von fiat money [Papiergeld] an. Sie entsprach großen Haushaltsdefiziten, die der Staat durch das Anwerfen der Notenpresse deckte. Sie war daher gewöhnlich mit plötzlichen politischen Störungen verbunden: Kriegen, ausländischen Besetzungen, Bürgerkriegen, beschleunigter Wiederaufrüstung, Zahlung von Kriegsreparationen etc.

Es wäre nutzlos, die Hauptverantwortung für die Inflation entweder den Monopolen, ihrem Staat oder den Banken zuschreiben zu wollen.

In der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus (die manche als neokapitalistische Epoche, andere als Epoche des staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnen) nimmt das Phänomen nicht mehr hauptsächlich die Form der extrem hohen Ausgabe von Fiat-Geld an, sondern die einer Aufblähung der Bankkredite, d. h. einer Inflation des Buchgeldes. Die Ursachen liegen nicht mehr nur in den Defiziten oder unproduktiven Ausgaben der öffentlichen Hand. Sie liegen in der Funktionsweise der Wirtschaft selbst: in den Bemühungen der Monopole, sich die Liquidität zu sichern, die sie benötigen, um ihre Investitionsvorhaben zu verwirklichen und ihre Produkte abzusetzen, um „Mehrwert zu erzielen“.

Es wäre nutzlos, die Hauptverantwortung für die Inflation entweder den Monopolen, ihrem Staat oder den Banken zuschreiben zu wollen.[1] Es handelt sich lediglich um drei verschiedene Aspekte ein und derselben komplexen Realität, die untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist entscheidend zu verstehen, dass die Inflation in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus zu einer dauerhaften Erscheinung wird: Ohne permanente Inflation kann das System eine schnelle Abfolge katastrophaler Krisen wie die von 1929‒1932 nicht mehr verhindern, d. h. es kann nicht überleben, sogar kurzfristig nicht.

Folglich liegt die Hauptursache der Inflation nicht in der Aufblähung der Militärhaushalte. Zwar sind Haushaltsdefizite und die Bedeutung der Rüstungsausgaben eine wichtige Quelle der Inflation. Sie sind jedoch weder die einzige noch die Hauptquelle der Inflation.

Um dies zu erkennen, muss man sich nur die Entwicklung der Inflation in Ländern wie Japan ansehen, wo die Militärausgaben einen viel kleineren Teil des Bruttosozialprodukts ausmachen als in den USA oder Frankreich. Man muss auch die unterschiedlichen Entwicklungen im Verhältnis zwischen Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt einerseits und Privatverschuldung und Bruttoinlandsprodukt andererseits sehen. Während sich das erste Verhältnis in den USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs um mehr als die Hälfte verringert hat, hat sich das zweite Verhältnis mehr als verdoppelt.

Ab dem Zeitpunkt, als die Währungen „gelenkt“ wurden, hingen die Grenzen des Kredits nur noch von der Politik der Monopole und ihrer Regierungen ab.

Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass 25 Jahre „neokapitalistische Prosperität“ (unterbrochen von sechs Rezessionen) in den USA zu einem guten Teil auf einen außergewöhnlichen Anstieg der privaten Verschuldung zurückzuführen sind. Im Jahr 1946 belief sich die Belastung durch private Schulden für den durchschnittlichen US-amerikanischen Haushalt auf 6 % seines laufenden monatlichen Einkommens; 1970 erreichte sie fast ein Viertel desselben Einkommens. Es bedarf keines großen Sachverstandes, um zu erkennen, dass dieser Amoklauf nicht endlos weitergehen kann.

Solange Papierwährungen nur auf Edelmetallen basierende Geldzeichen waren, setzte der Automatismus des Devisenmarktes und der Goldbewegungen dem Kredit enge Grenzen. Ab dem Zeitpunkt, als die Währungen „gelenkt“ wurden, hingen die Grenzen des Kredits nur noch von der Politik der Monopole und ihrer Regierungen ab. Die „keynesianische Revolution“ lässt sich im Wesentlichen auf Folgendes reduzieren: Aufschub allzu explosiver Wirtschaftskrisen und Umwandlung in „moderate“ Rezessionen, indem man die Schleusen für Kredit und Inflation weit öffnet.

Die internationalen Grenzen

Heißt das, dass der Kapitalismus das Geheimnis entdeckt hat, wie er dank der Inflation schwere Wirtschaftskrisen für immer vermeiden kann? Nein, denn erstens verfehlt die Inflation ihre Wirkung, wenn die Schuldenlasten letztlich die laufenden Ausgaben reduzieren, anstatt sie zu erhöhen. Zweitens weil „gelenkte Währungen“ an den Imperativen des internationalen Wettbewerbs, d. h. an der Logik des Privateigentums scheitern.

Da jede kapitalistische Regierung die Kreditpolitik betreibt, die den Interessen ihrer bürgerlichen Klasse am besten entspricht, und da diese Politik auch ein Instrument des internationalen Wettbewerbs ist, unterscheiden sich die Inflationsraten von einer imperialistischen Macht zur anderen. Infolgedessen sind national „gelenkte“ Währungen immer weniger in der Lage, die Rolle einer Weltwährung, eines allgemein akzeptierten Tausch- und Zahlungsmittels zu spielen.

Immer wenn ein Land eine höhere Inflationsrate als seine Hauptkonkurrenten hat, rächen sich die Marktgesetze über das Zahlungsbilanzdefizit am „Dirigismus“, und die Kreditausweitung muss gedämpft werden. So verschränkt sich in der Zeit des Niedergangs des Kapitalismus der klassische Industriezyklus mit einem „Kreditzyklus“, für den die berüchtigte „Stop-go“-Politik der Tory-Regierun­gen in Großbritannien ein typisches Beispiel war.

Andererseits steht das mächtigste Land der kapitalistischen Welt, dessen Währung die Grundlage des internationalen Währungssystems bildete, nämlich die USA, vor einem unlösbaren Dilemma. Entweder führt das Bemühen, die Stabilität des Dollars um jeden Preis wiederherzustellen und zu erhalten, regel­mäßig zu schweren Wirtschaftskrisen, oder die permanente Inflation des Dollars, das Hauptinstrument der Antikrisenpolitik, führt unweigerlich zur Nichtkonvertierbarkeit des Dollars und zum Zusammenbruch des Gold-Dollar-Standards (und später des Dollar-Standards).

Hinter der Inflation stehen der tendenzielle Fall der durchschnittlichen Profitrate.

Dieses Dilemma ist auch ein Dilemma für die gesamte internationale Bourgeoisie. Sie will immer weniger einen abgewerteten Dollar als Weltwährung verwenden. Aber sie will auch eine schwere Wirtschaftskrise in den USA vermeiden. Der US-Markt ist heute der wichtigste Sektor des Weltmarkts; eine solche Krise hätte auf die Konjunktur in allen kapitalistischen Ländern verheerende Auswirkungen.

Die tieferen Wurzeln der Inflation lassen sich vor dem Hintergrund dieser Dilemmata besser erkennen. Sie liegen weder in technischen Fehlern der Regierungen, noch in der Gier der Banken oder der Engstirnigkeit der Monopole. Sie liegen in den Widersprüchen, die dem kapitalistischen System innewohnen, das sich in der Phase des Niedergangs befindet. Hinter der Inflation stehen der tendenzielle Fall der durchschnittlichen Profitrate, die Verwertungsschwierigkeiten der riesigen angehäuften Kapitalien und die wachsenden Schwierigkeiten, die Warenberge abzusetzen, die der Industrieapparat der westlichen Welt produzieren könnte.

Die Inflation verschärft letztlich tatsächlich die Widersprüche des Systems, die sie zunächst abmildern half.

Inflation war seit jeher eine bevorzugte Technik, um die Mehrwertrate und damit die Profitrate zu erhöhen, indem ein relativer Rückgang oder eine Stagnation der Reallöhne hinter steigenden Nominallöhnen verschleiert wurde. Keynes selbst singt aus diesem Grund ein Loblied auf sie. Da sich die Beschäftigten aber an den inflationären Prozess gewöhnen, schlagen sie mit immer höheren Lohnforderungen und der Forderung nach immer kürzeren Vertragslaufzeiten zurück. Der Anstieg der Mehrwertrate kommt zum Stillstand; die Profitrate beginnt wieder zu sinken.

Die Inflation soll die Investitionen ankurbeln. Sicherlich wirkt ein reichlicher und billiger Kredit eine ganze Zeit lang in diese Richtung; die Erwartung, dass jeder Kredit in einer abgewerteten Währung zurückgezahlt werden kann, wirkt in die gleiche Richtung. Wenn die Inflation jedoch überhandnimmt, beginnt sie das Gegenteil zu bewirken. Prognosen zum Geld werden zunehmend schwieriger. Langfristige Investitionsprojekte werden zunehmend durch kurzfristige Projekte ersetzt. Ein Anstieg des nominalen Zinssatzes ist unvermeidlich, wenn sich dieser aus der Summe des „Realzinses“ und der jährlichen Inflationsrate zusammensetzt. Ein steigender Zinssatz, der auf eine sinkende Profitrate trifft, entmutigt letztendlich auch das Wachstum der Investitionen.

Die Inflation sollte eigentlich den vollen Einsatz der „Produktionsfaktoren“ sicherstellen. Aber das Anschwellen der Kredite fördert Überinvestitionen und die immer weiter verbreitete Entstehung von überschüssigen Produktionskapazitäten. Diese schrecken natürlich von Investitionen ab. Der Auslastungsgrad sowohl der Arbeitskräfte als auch der Produktionsanlagen beginnt wieder zu sinken.

Da die Inflation nicht an diesem Punkt endet, sondern sich immer weiter fortsetzt ‒ die berühmte „Stagflation“! ‒ tendiert sie dazu, die „Realwerte“ in die Zirkulationssphäre zu saugen. Baugrundstücke, Kunstwerke, Gold und Schmuck erleben spektakuläre Runs, die immer spekulativer werden. Diese Spekulation sterilisiert Kapital, senkt das Beschäftigungsniveau weiter und wird ihrerseits zu einer sekundären Quelle der Inflation. Denn es gibt zahlreiche Transmissionsriemen, die diese spekulativen Preissteigerungen auf die Preise der „Produktionsfaktoren“ übertragen, insbesondere über die steigenden Preise für Grundstücke, Wohnungen und Industriegebäude sowie über die steigenden Mieten.

Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried

Quelle: „L’inflation, plaie des économies modernes. Devenu permanent, le phénomène semble lié au déclin du capitalisme“, in: Le Monde diplomatique, Paris, 4. Juli 1972, S. 4/5.

Übersetzung des ersten Teils ins Englische von Garret Ormiston: „Permanent Inflation ‒ Symptom of Capitalist Decline“, in: Intercontinental Press, New York, Jg. 10, Nr. 32, 11. September 1972, S. 961.


[1] Aus dieser Analyse folgt natürlich, dass der Anstieg der Löhne eine Begleiterscheinung ist, die in keiner Weise für die Inflation verantwortlich gemacht werden kann. Wenn die Geldmenge stabil bleibt, führen steigende Löhne zu sinkenden Gewinnen und nicht zu einer Inflation.


[i] Ernest Mandel hatte der Inflation bereits in Kapitel XIV („Die Epoche des Spätkapitalismus“) seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie (zuerst 1962) die Abschnitte „Die permanente Tendenz zur Geldinflation“ und „Ein Kapitalismus ohne Krisen?“ gewidmet (dt. Ausg. 1968, S. 555‒557 sowie S. 558‒564; Taschenbuchausgabe 1972, 2. Bd., S. 665‒668 sowie S. 668‒676).

Auf Phänomene wie die Krise des Weltwährungssystems, Auf- und Abwertungen von nationalen Währungen war Ernest Mandel in den Jahren 1964 bis Anfang 1972 in zahlreichen Artikeln und Reden eingegangen, die in dem Buch Decline of the Dollar. A Marxist View of the Monetary Crisis veröffentlicht wurden (New York: Monad Press, 1972; erweiterte dt. Ausg.: Der Sturz des Dollars. Eine marxistische Analyse der Währungskrise, Westberlin: Verlag Olle & Wolter, 1973).

In Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1972) analysierte er die „Permanente Inflation“ in Kapitel XIII (S. 373‒400); mit diesem Werk promovierte er am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin (mündliche Prüfung: 25. August 1972).

Auf der internationalen Arbeiterkonferenz der Vierten Internationale im Herbst 1974 hielt Ernest Mandel ein Referat über die Verteidigung der Kaufkraft der abhängig Beschäftigten gegen Inflation und Teuerung, die in der Zeitschrift Quatrième Internationale abgedruckt wurde; auf Deutsch: Theoriebeilage zu Avanti2, Mannheim, Nr. 98, Oktober 2022.

Artikel teilen
Tags zum Weiterlesen
Kommentare auf Facebook
Ähnliche Artikel
Zur Startseite