100 Jahre nachdem Mussolini mit seinem Marsch auf Rom die damalige Regierung Facta zum Abdanken zwang und sein faschistisches Regime errichtete, hat Italien fast auf den Monat genau seine geistige Erbin Giorgia Meloni zur Premierministerin gekürt. Wie ist das möglich geworden – auf der Basis einer erklärt antifaschistischen Verfassung!? Hier nur einige Teilaspekte.
1. Das Wahlergebnis
Das Wahlergebnis ist für den Mitte-Rechts-Block um die Parteien Forza Italia (Silvio Berlusconi), Lega (Matteo Salvini) und Fratelli d’Italia (Giorgia Meloni) ein Erdrutsch. Dies ist in erster Linie ein Resultat des in den Jahren 1993–2017 in vier Anläufen reformierten italienischen Wahlsystems. Es löst das bis dato geltende reine Verhältniswahlrecht ab und führt ein Mehrheitswahlrecht bei Direktwahl des Kandidaten ein – und zwar für beide Kammern des Abgeordnetenhauses gleichermaßen. Es gilt:
- 37% der Sitze in beiden Häusern werden durch Mehrheitswahl bestimmt – d.h. wer die meisten Stimmen in seinem Wahlkreis hat, hat gewonnen. Das ist wie in Deutschland mit der Erststimme. Bei uns bestimmt die Erststimme mindestens 50% der Sitze im Bundestag.
- 61% der Sitze werden durch Verhältniswahl bestimmt. Es gilt eine 3-Prozent-Klausel.
- 2% der Sitze werden von Auslandsitalienern durch Verhältniswahl bestimmt.
Nach einer drastischen Verkleinerung zählt die Kammer 400 Abgeordneten, der Senat 200.
Das Wahlsystem privilegiert Wahlbündnisse und wirkt so einer Zersplitterung der Wählerrepräsentanz entgegen. Die Rechten – und das ist der zweite Faktor, der den Erdrutschsieg erklärt – haben sich trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten in wichtigen Fragen (etwa der Haltung zur EU, zur NATO und zu Russland) in allen Wahlkreisen auf gemeinsame Kandidaten einigen können. Die Mitte-Links-Koalition ist dort getrennt angetreten. Sie wurde gebildet aus der Demokratischen Partei (PD, Enrico Letta), Grüne/Linke, +Europa (Emma Bonino) und der Liste von Luigi Di Maio (zuvor Vorsitzender der 5-Sterne-Bewegung und stellvertretender Ministerpräsident).
Die Landkarte Italiens ist tiefblau gefärbt, mit ganz wenigen roten, noch weniger gelben (5-Sterne) und zwei grauen (“Andere”) Einsprengseln. Die grauen bezeichnen regionale Besonderheiten in Südtirol, im Val d’Aosta und in Sizilien.
Aber auch bei der Verhältniswahl haben die Rechten deutlich zugelegt. Das Mitte-Rechts-Bündnis kommt zusammen auf fast 44%, das Mitte-Links-Bündnis auf etwas mehr als 26%, die 5-Sterne-Bewegung auf 15%, Azione-Italia Viva (ein Bündnis der Partei von Matteo Renzi, ex-PD, und der Partei von Carlo Calenda (ex-Manager bei Ferrari) auf 7,75%.
Mit 44% der Stimmen und der Mehrheit in fast allen Wahlkreisen hat der Mitte-Rechts-Block nun in der Kammer 257 von 400; der Mitte-Links-Block kommt auf 85 Sitze, die 5-Sterne-Bewegung auf 51 Sitze.
Die extreme Linke ist zersplittert angetreten: die Unione Popolare mit dem linksliberalen Spitzenkandidaten De Magistris kam auf 1,43% (Rifondazione und unsere italienischen Genossen haben diese Liste unterstützt; einige Genossen von Rifondazione haben allerdings die Liste Grüne-Linke unterstützt); die Liste Italia sovrana e popolare mit dem Spitzenkandidaten Marco Rizzo (eine stalinistische Abspaltung der früheren KP) kam auf 0,09%.
Forza Italia: eine Partei, zugeschnitten auf ihren Gründer Berlusconi
Das überwältigende Ergebnis für Giorgia Meloni verdankt sich zwei Wählerbewegungen: Zum einen haben sich die Gewichte innerhalb des Rechtsbündnisses zu ihren Gunsten verschoben. Forza Italia ist eine Partei, die vollständig auf ihren Gründer Berlusconi zugeschnitten ist, der allmählich aus dem Rennen läuft (er hat gegenüber 2018 über 6 Prozentpunkte verloren). Die Lega hat unter Salvini zu viele Kapriolen geschlagen, um noch als eine ernste politische Kraft wahrgenommen zu werden (sie hat über 8 Prozentpunkte verloren). Das allein würde den Riesensprung der Fratelli d’Italia von 4,35% in 2018 auf 26,4% heute nicht erklären. Hinzu kommt aber, dass die 5-Sterne-Bewegung ihr Wahlergebnis halbiert hat. Unter der Führung des ehemaligen Premiers Giuseppe Conte ist sie etwas nach links gerückt, ein Teil ihrer Wählerschaft ist zu den Fratelli d’Italia übergelaufen.
Auf der Linken hat sich nicht viel geändert: Die PD hat einen halben Prozentpunkt verloren, Grüne/Linke stagnieren. Die Wahlbeteiligung ist mit 63% die bisher schlechteste.
2. Wer ist Giorgia Meloni?
Die Spitzenkandidatin von Fratelli d’Italia hat unzweifelhaft selber einen großen Anteil am Wahlerfolg. Erstens ist sie weder Unternehmerin, noch Komödiantin, sondern gibt sich seriös, nicht extremistisch, als Mutter eines Sohnes, mit eigener schwerer Kindheit, die sich durchgebissen hat und die Sorgen und Nöte der Menschen im Alltag kennt. Kurzum: jemand, der man vertrauen kann. Sie strahlt die Zuversicht aus, dass das Land unter ihrer Führung wieder zu ordentlichen Verhältnissen, zu wirtschaftlichen Erfolgen und außenpolitischer Anerkennung kommen werde. “Italien wieder stark machen”, lautet die Quintessenz ihres Programms.
Meloni kommt aus der Schule von Gianfranco Fini, der die italienische Rechte aus dem Korsett der faschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano) befreit und mit der Gründung von Alleanza Nazionale zu einer regierungsfähigen politischen Kraft gemacht hat. Nach der Spaltung von AN ist diese Rolle vorübergehend auf die Lega übergegangen. Nun scheint Meloni, die in der Jugendorganisation der AN politisch sozialisiert wurde, ein ähnliches Manöver gelungen zu sein. Wie es scheint, bedient sie allerdings eher eine katholisch-fundamentalistische Ausprägung des Rechtsextremismus, wenn sie die Familie in den Mittelpunkt stellt, die Homoehe verbieten will, die Abtreibungspraxis verschärfen will, Papst Woityla hochleben lässt. Die größte Gefahr stellt sie für die Migranten dar. Und ihr Projekt mit der größten Tragweite könnte die anvisierte Reform der Verfassung sein: Sie will in Italien ein Präsidialsystem einführen.
Von den Autokraten, die auf Italien schauen, bekam Meloni nur Glückwünsche: von Biden, von Putin, von Macron, von Johnson. Und in Deutschland brach Manfred Weber von der CSU das Tabu, dass Christdemokraten politisch nicht mit Faschisten kooperieren. Auch er richtete seine Glückwünsche aus, während man in der Bundesregierung die Stirn runzelte und die Union sich über ihren Weg noch nicht klar ist.
Angela ist seit 1993 Redakteurin der Sozialistischen Zeitung SoZ, und langjähriges Mitglied der Vierten Internationale.