Leichenschmaus und Totgeburt – oder sozialistische Massenpartei?
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Fragen des Organisationsaufbaus

Leichenschmaus und Totgeburt – oder sozialistische Massenpartei?

Von Håkan Blomqvist | 25.06.2020

Håkan Blomqvist aus der Leitung der schwedischen „Socialistisk Politik“ beantwortet Fragen zum neuen Weg der Organisation.

Der Beschluss der „Socialistiska Partiet“, sich in eine Organisation ohne Parteicharakter unter dem Namen „Socialistisk Politik“ umzuwandeln und mit der Aufforderung, sich der „Vänsterpartiet“[1] anzuschließen, hat eine gewisse Aufregung in linken Zusammenhängen erzeugt.

Während viele Mitglieder der „Vänsterpartiet“ den Zuwachs herzlich begrüßen – einschließlich des Vorsitzenden Jonas Sjöstedt und anderer führender Parteimitglieder – erwachsen Fragen, Zweifel und Widerstand auf anderer Seite, am meisten in den sozialen Medien.

Hier finden sich Stimmen, die im klassischen stalinistischen Stil linker Sektierer gegen die „Trotzkisten“ oder „Agenten des Imperialismus” hetzen und das „Ende der Vänsterpartiet” prophezeien. Diese können wir beiseitelassen. Gleichermaßen unwesentlich sind die Stimmen, die das große fünfzigjährige Jubiläum der SP mit mehreren hundert Teilnehmer*innen im bis zum Rand gefüllten ABF[2]-Haus in Stockholm – eine der größten Versammlungen des revolutionären Marxismus und der Vierten Internationale in Schweden seit Jahrzehnten – als „Leichenschmaus” bezeichnen. Dass die Umbildung der SP eine Totgeburt und eine „maskierte” Auflösung sein solle, ist hier eine abwegige Hoffnung. Gleichzeitig wie „SPler“ sich jetzt in der „Vänsterpartiet“ organisieren und willkommen geheißen werden, schließen sich Mitglieder der „Vänsterpartiet“, auch leitende Genoss*innen, der „Socialistisk Politik“ an, da dies nun möglich geworden ist. Dies kann der Beginn eines wichtigen Prozesses mit der Entwicklung einer sozialistischen Strategie und des Parteiaufbaus werden.

Eine neue sozialistische Generation in Massenumfang wird gebraucht, um die akuten Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.

Aber hier gibt es natürlich eine Menge berechtigter Fragen, insbesondere von Genoss*innen, die nicht an den umfassenden Diskussionen der „Socialistiska Partiet“ zu dieser Veränderung beteiligt waren.

Warum jetzt? ist eine oft gestellte Frage.

Vor allem wegen der rechtsextremen und nationalistischen globalen Offensiven nach den Verwüstungen des Neoliberalismus, der Schwächen der sozialistischen Lösungen und des Engagements von Millionen junger Menschen für eine radikale Klimaveränderung.

Tausende von Jugendlichen einer neuen radikalen Generation haben sich der „Vänsterpartiet“ und anderen schon etablierten linken Parteien in anderen Teilen der Welt angeschlossen. Aber bei ihnen fehlt oft politische Erfahrung und Wissen zu sozialistischen Strategien, Arbeitsweisen und Zielsetzungen. Die Hoffnung ist, dass wir ein zunehmendes sozialistisches Aktivsein und eine Wissensentwicklung innerhalb und um die „Vänsterpartiet“ bewirken können. Eine neue sozialistische Generation in Massenumfang wird gebraucht, um die akuten Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Wir glauben, wir können hierzu beitragen und zudem uns selbst entwickeln.

Warum nicht die Sozialdemokratie? 

Es gibt Anhänger*innen der „Socialistisk Politik“, die Mitglieder der Sozialdemokraten sind und ihr Bestes für eine radikale Arbeiterpolitik, gewerkschaftlich oder auf andere Art, leisten. Aber die sozialdemokratische Partei ist schon seit langem ein zentralisiertes staatstragendes und institutionalisiertes Organ, das über tausend Fäden mit dem heutigen politischen und ökonomischen System vereint ist. Es ist gut, dass die Reformisten und andere dafür kämpfen, den heutigen Rechtskurs der Partei zu brechen, aber wir glauben, dass wir uns am meisten nützlich machen indem wir die Bewegungs- und Kampfrichtung innerhalb und außerhalb der „Vänsterpartiet“ stärken.

Ist dies eine Art „trotzkistischer Entrismus“, eine Infiltration in eine größere linke Partei, um sie von innen zu übernehmen? Abgesehen von allen Mythen zu „Entrismus“ und „Infiltration“, nein. Die SP definiert sich, seit vielen Jahrzehnten, nicht als „trotzkistisch“, sondern sieht dies als eine historische Bezeichnung. Unsere Umorientierung und Anschluss zur „Vänsterpartiet“ geschieht völlig öffentlich und nach aufrichtigen Diskussionen mit der Führung der „Vänsterpartiet“, die die Initiative willkommen heißt.

Phrasenradikalismus, Dogmatismus und Ultralinkstum sind nichts für uns.

Aber wird SP eine Fraktion in der „Vänsterpartiet“?

Nein, wir sehen uns als eine selbstständige politische und ideologische Strömung in den ganzen Arbeiter- und linken Bewegungen, eine Inspirations- und Aktivierungsquelle, um die ganze Bewegung zu stärken, aktivieren und mit Erkenntnissen zu bereichern. SP-ler*innen, die in der „Vänsterpartiet“ – oder in anderen der Arbeiterbewegung und bei Linken – organisiert sind, streben danach, diese Organisationen unter gleichen Bedingungen wie alle anderen Mitglieder dieser Organisationen aufzubauen und zu entwickeln.

Ja aber ihr werdet wohl doch Teil einer linken Opposition innerhalb der „Vänsterpartiet“ sein?

Das hängt davon ab, worum es bei der Kritik geht und wie die SP-ler*innen sich in der „Vänsterpartiet“ orientieren. Phrasenradikalismus, Dogmatismus und Ultralinkstum sind nichts für uns. In unserer Strömung geht es vorerst darum, soziale Bewegungen und die Aktivitäten der Basisbewegungen, den selbstständigen Kampf der Arbeiterbewegung, Internationalismus und sozialistische Lösungen, ausgehend von einer demokratischen Selbstorganisierung, zu stärken. Hierfür brauchen wir eine demokratische sozialistische Massenpartei mit offener politischer Diskussion, Mitgliedermacht und gleichberechtigten Bedingungen. SP-ler*innen werden in eine solche Richtung Einfluss zu nehmen, aber sich auch von den Erfahrungen anderer Genoss*innen beeinflussen lassen. Die SP ist keine monolithische Formation. Sie war für den roten Knopf[3] gegen das Januarabkommen, aber viele stimmten der Führung der „Vänsterpartiet“ zu, dass ein gelber Knopf trotz Bedenken vorzuziehen sei, um kurzfristig die „Sverigedemokraterna“[4] auf Distanz von der Macht zu halten[5]. Die Kakabaveh-Frage[6] teilte auch die SP-ler*innen, auch wenn die Tendenzfreiheit, die wir unterstützen, das Ziel hat, auch diese Art von Gegensätzen in einer breitgefächerten Partei zu politisieren – und beherbergen.

Wo sind die Grenzen, was werdet ihr akzeptieren?

Das werden wir sehen. Aber dies ist kein „fishing trip“, bei dem SP-ler*innen eine 180-Grad-Wende machen werden, um einige kritische Seelen für ein neues Projekt mitzureißen. Wir wissen, dass die „Vänsterpartiet“ eine parlamentarische Partei ist, die in die große Kompromissmaschinerie des politischen Systems, insbesondere auf lokalpolitischer Ebene, eingefügt ist. Wir hoffen, dass wir zur Bewegungs- und Kampfpraxis der Partei beitragen können, mit der Absicht die Voraussetzungen zu ändern. „Man ist nicht stärker am Verhandlungstisch, als man es an der Basis ist”, so drückte sich einmal Jonas Sjöstedt zum außerparlamentarischen Kampf aus. Es sind gerade die Kräfte an der „Basis”, die wir verstärken und mobilisieren wollen.

Wir respektieren selbstverständlich demokratische Entscheidungen, auch wenn wir sie nicht teilen sollten. In vielen Fragen und Perspektiven werden die Meinungen unterschiedlich sein und die SP wird als Kollektiv in der Internationalen und anderen Foren unsere Ansichten vortragen. Wenn die „Vänsterpartiet“ nicht eine Kehrtwende gegen den Willen ihrer Mitglieder und der Interessen der Arbeiterklasse machen wird, dann sehen wir heute die Partei als den Kern einer notwendigen sozialistischen Massenpartei, die die Voraussetzungen der Politik in Schweden verändern kann.

Wird sich jetzt alles verändern, wird die „Vänsterpartiet“ sich radikalisieren oder die SP Geschichte werden? 
Übertriebene Hoffnungen in der einen oder anderen Richtung werden sich bald legen. In manchen Zusammenhängen werden manche SP-ler*innen eine sehr beachtliche Verstärkung sein, aber es wird dauern bis eine aktive sozialistische Massenpartei mit Verankerung im Volk und der Fähigkeit den „Würgegriff“, der die schwedische Politik beherrscht, zu brechen. Die dagegen, die auf das Ableben von SP gehofft haben, sollten bereits jetzt enttäuscht sein über den Zustrom zum Projekt. SP hat nicht nur ein halbes Jahrhundert politischer Erfahrung und Erkenntnisse auf dem Nacken, sondern auch tiefste Wurzeln in der Arbeiterbewegung und den revolutionären Freiheitstraditionen. So etwas löst sich nicht auf, wenn die organisatorische Form sich verändert. Das werden alle irgendwann einsehen.

Dieses Interview erschien am 31.10.2019 in der schwedischen Zeitung Internationalen.

Übersetzung und Anmerkungen: Michael Brune
Quelle: http://www.internationalen.se/2019/10/gravol-och-dofott-eller-socialistiskt-massparti/


[1]    Die „Vänsterpartiet“ (Linkspartei) hat sich aus der KP entwickelt. Als Zeichen zunehmender Distanz zu Moskau hat sie sich 1967 in „Vänsterpartiet kommunisterna“ (Linkspartei Kommunisten) umbenannt. Im Zuge weiterer Öffnung wurden 1990 der Zusatz „kommunisterna“ gestrichen und andere Kräfte zur Mitarbeit eingeladen. Eine ausdrückliche Einladung an die SP scheiterte damals daran, dass von ihr verlangt wurde, ihren Parteistatus aufzugeben (siehe Inprekorr Nr.  226, S. 30, 1990)

[2]    ABF = „Arbetarnas Bildningsförbund“ (Bildungsverbund der Arbeiter*innen)

[3]    Es werden bei Abstimmungsverfahren im schwedischen „Riksdagen“ (Parlament) rote, gelbe oder grüne Knöpfe, die Ablehnung, Enthaltung und Zustimmung bedeuten, gedrückt.

[4]    Die „Sverigedemokraterna“ sind eine rechtspopulistische Partei im schwedischen Parlament. Sie versucht sich von ihrem rechtsextremen Milieu zu lösen und orientiert sich eher an der österreichischen FPÖ. Auf europäischer Ebene war sie bis 2019 Mitglied im „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“, zu dem aus Deutschland die AfD und aus Italien die „Bewegung 5 Sterne“ gehörten (nach Wikipedia).

[5]    Das „Januarabkommen“ bedeutete (sehr kurzgefasst), dass die Sozialdemokraten nach der letzten Wahl eine Koalitions-Minderheitsregierung mit bürgerlichen Parteien bilden konnten, setzte aber voraus, dass die meisten Parlamentarier*innen der „Vänsterpartiet“ sich ihrer Stimme enthielten.

[6]    In der „Kakabaveh-Frage“ geht es um einen parteiinternen Konflikt um eine Parlamentarierin kurdisch-irakischer Herkunft, die aus der „Vänsterpartiet“ ausgeschlossen wurde. Ein wenig hierzu findet man in Englisch bei Wikipedia.

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