Bürgerlicher und sozialdemokratischer Mainstream haben massiven Rechtsruck begünstigt
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Wahlen in Schweden

Bürgerlicher und sozialdemokratischer Mainstream haben massiven Rechtsruck begünstigt

Von Hermann Dierkes | 16.09.2022

Das Ergebnis der Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen von Sonntag, 11. September, hat den seit Jahren anhaltenden Rechtstrend in Schweden bestätigt. Wir werden uns hier auf die Wahl des „Rikdags“, des nationalen Parlaments, konzentrieren, weil sie eine wichtige Weichenstellung einläutet.

Der „Bürgerblock“ aus den Parteien Moderate, Christdemokraten und Liberalen kommt nach Ende der verzögerten Auszählung zusammen mit den faschistoiden und sensationell starken Schwedendemokraten (SD) auf eine knappe Mehrheit von 176 gegenüber 173 Mandaten für den sog. „Linksblock“. Auf einer Pressekonferenz am Abend des 14. September räumte die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson ihre Niederlage ein und kündigte ihren Rücktritt an. Sie bleibt bis auf weiteres geschäftsführend im Amt. Der Tenor ihrer Erklärung hob die Folgen des Ukraine-Kriegs, die starke wirtschaftliche und finanzielle Lage Schwedens und die starke Erholung der Sozialdemokraten hervor. Warum sie trotzdem die Regierung verloren hat, war danach kaum nachvollziehbar. Nun stehe man vor einem „Kriegswinter“ mit großen Herausforderungen für jede neue Regierung. Ihre Tür sei offen für alle demokratischen Parteien mit Ausnahme der SD, sollte Ulf Kristersson (von den „Moderaten“, der konservativen Partei) keine Regierung bilden können. Leider habe sich Kristersson entschieden, den SD den Vorrang zu geben.

Wer die nächste Regierung führen und wie sie sich zusammensetzen wird, ist derzeit noch unklar. Jetzt hat der Parlamentssprecher das Wort. Er dürfte nach Lage der Dinge Kristersson den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Noch sind mehrere Varianten denkbar, insbesondere, weil es im Bürgerblock doch erhebliche Differenzen darüber zu geben scheint, ob und wie mit den SD eine gemeinsame Regierung zu bilden ist. Aber ob die SD sich damit bescheiden, nur als parlamentarische Stütze für eine Minderheitsregierung zu fungieren? Auch in der Zentrumspartei, die sich zunächst für ein Bündnis mit den Sozialdemokraten ausgesprochen hatte, werden erhebliche Meinungsverschiedenheiten deutlich, mit wem man regieren will und mit wem nicht. Inzwischen hat die Vorsitzende von Center, Annie Lööf, bekanntgegeben, dass sie sich aus der Politik zurückziehen wird.

Die noch unvollständige Auszählung der Ergebnisse ergab am Sonntagabend zunächst einen hauchdünnen Vorsprung für den rechten bis rechtsextremen Parteienblock gegenüber dem (nicht formellen) Lager aus Sozialdemokraten, liberaler Zentrumspartei, Linkspartei und Grünen. In absoluten Zahlen waren es lediglich 46.000 Stimmen, die die beiden Lager trennten. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson – sie führte schon seit einiger Zeit eine Minderheitsregierung und stand bereits mehrmals vor dem Scheitern, seitdem sie im November 2021 Parteivorsitzende und Ministerpräsidentin wurde – konnte sich noch Hoffnung auf einen Mandatserhalt machen, ohne dass allerdings die nötigen Koalitionspartner feststanden. Nach Auszählung von noch rd. 200.000 Briefwahlstimmen und den Stimmen der Auslandsschwed:inn en stand am Abend des 14. September dann fest: Die Regierung Andersson ist abgewählt. Die Sozialdemokraten müssen nach zwei Wahlperioden wieder in die Opposition. Jetzt läuft sich die potentielle rechte Koalition warm.

Ergebnisse der schwedischen Reichstagswahlen vom 11.9.2022
(in Klammern: Unterschied zum Ergebnis von 2018)
 Stimmen in ProzentMandate im Riksdag
    
V (Linkspartei) 6,7 (‒1,3)24 (‒4)
S (Sozialdemokraten) 30,4 (+2,1)107 (+7)
MP (Grüne) 5,1 (+0,7)18 (+2)
C (Zentrum) 6,7 (‒1,9)24 (‒7)
L (Liberale) 4,6 (‒0,9)16 (‒4)
KD (Christdemokraten) 5,3 (‒1,0)19 (‒3)
M (Moderate) 19,1 (‒0,7)68 (‒2)
SD (Schwedendemokraten) 20,6 (+3,1)73 (+11)

Weitere Einzelheiten: https://de.wikipedia.org/wiki/Wahl_zum_Schwedischen_Reichstag_2022

Eindeutiger Sieger sind mit 20,6 Prozent und fast 1,323 Millionen (von 6,445 Millionen gültigen) Stimmen die sog. Schwedendemokraten (SD; besser: Schwedendemagogen). Sie nehmen mehr oder weniger die Rolle der AfD in Deutschland ein. Die SD ist in den vergangenen neun Wahlen seit den neunziger Jahren kontinuierlich aufgestiegen. Sie stammt eindeutig aus faschistoidem/rechtsradikalem Milieu. Unter ihrem Führer Jimmie Åkesson wurde der Schafspelz über ihrer Wolfshaut geschickterweise immer dicker. Ihr Erfolgsrezept: Gehässige Hetze, Sündenbockmentalität, stupiden, weißen Nationalismus verbreiten und das Versagen der Regierung demagogisch ausschlachten. Klimapolitisch entschieden reaktionär, Atomkraft ja, Windkraft nein. Kritik der steuerparadiesischen Verhältnisse für Reiche und Ultrareiche? Fehlanzeige.

Derzeit kommen rund 60 % ihrer Stimmen aus dem ländlichen/kleinstädtischen Bereich. Sie werden (noch) überwiegend von Männern gewählt. Männliche Arbeiter wählen in fast gleicher Größenordnung Schwedendemokraten wie Sozialdemokraten. Erschreckend auch der hohe Anteil von SD-Wähler:innen aus den jüngeren Jahrgängen. Die SD sind nun die zweitstärkste Partei hinter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens (SAP) und stärkste Kraft im Rechtsblock, noch vor den Moderaten. Wenn die Sozialdemokraten ihre Stellung als stärkste Fraktion halten und wieder zulegen konnten, so dürfte ein gehöriger Teil ihrer Stimmen „anti-rechts“ motiviert gewesen sein und nicht aus programmatischer Überzeugung.

Die Linkspartei (Vänsterpartiet) kann sich ihre Verluste (in der Fläche – glimpfliche Ausnahmen sind die zweistelligen Ergebnisse in den drei Großstädten Stockholm, Göteborg und Malmö) eindeutig ihrer angepassten und auf Regierungsbeteiligung ausgerichteten Strategie zuschreiben. Ihrer Kampagne fehlte jede Schärfe und programmatische Zuspitzung. Man hat den Eindruck, dass bürgerliche Consulting-Firmen die Hand geführt haben und nicht demokratisch gewählte Gremien und Parteiprogramm. Offensichtlich wollte man auf keinen Fall bei den Sozialdemokraten anecken.

Im Verlaufe der vergangenen Wahlperiode hatten die beiden traditionellen bürgerlichen Parteien – Moderate und Christdemokraten – ihre Absage an jede Koalition mit der faschistoiden SD aufgegeben und ihre Demagogie übernommen. Auch die Sozialdemokraten hatten ihre zunehmend antisoziale, undemokratische, das Arbeitsrecht demontierende, die Reichen und Superreichen begünstigende Politik* und ihren seit Jahren und lange vor der russischen Ukraine-Invasion betriebenen pro-NATO-Kurs immer offener mit nationalistischer und rechter Demagogie angereichert bzw. sogar in praktisches Handeln umgesetzt. Der Kotau vor Erdogan und die drohende Ausweisung von kurdischen Menschenrechtlern und Widerstandskämpfern, die auf dem Altar für dessen Zustimmung zum schwedischen NATO-Beitritt geopfert werden sollen, ist ein besonders schändlicher Aspekt.

Bereits am Montagmorgen trafen sich Moderaten-Chef Ulf Kristersson und SD-Chef Jimmie Åkesson, um ihre weitere Vorgehensweise abzuchecken, sollte sich die Mehrheit für ihr Lager bestätigen. Dies, obwohl Kristersson gegenüber seiner Basis über die sozialen Medien noch verlauten ließ, sie möge sich gedulden und das Endergebnis abwarten. Offensichtlich heiße Luft oder Taktierei, denn Kristersson hat schon länger keinen Zweifel mehr daran gelassen, dass er gewillt ist, auch mit den SD eine Mehrheit zu zimmern. Allerdings hatte er sich die SD wohl schwächer gewünscht… Auf den öffentlichen Vorbehalt der kleinen liberalen Partei im Rechtsblock, die extreme Rechte solle keine Ministerposten erhalten, erklärte Richard Jomshof, seit 2015 Parteisekretär der SD: „Ich glaube, wir stehen den Liberalen doch recht nahe. Von daher macht es keinen Sinn, diese Art von roter Linie zu ziehen.“ Wir können allerdings davon ausgehen, dass die gegenseitige Ablehnung in beiden Parteien im gleichen Verhältnis steht.

Verbreitete Kleinkriminalität unter perspektivlosen Jugendlichen sowie blutige Bandenkriege, vor allem in den großstädtischen Zentren bzw. ihrer Peripherie sowie wachsende Verunsicherung in der Bevölkerung wurden von den SD und ihrer migrations- und sozialfeindlichen Haltung brutal ausgenutzt, um Stimmung zu machen („Ausweisen“, „härtere Strafen“ und dergleichen). Kampagnenmaterial und Reden der Mehrheit der Parteien glichen sich am Ende oftmals – entweder durch nichtssagende Phrasen oder mit rassistischem Einschlag.

Der NATO-Beitritt ist im Mainstream nicht mehr kontrovers. Explodierende Energiepreise und Mieten (die eigentliche „Inflation“) waren kaum noch ein Thema. Wie auch, wo die Regierungspartei praktisch nichts unternommen hat, um den Wahnsinn auszubremsen? Angesichts massiver Kritik aus Bevölkerung und Wirtschaft sowie des drohenden Regierungsverlusts verkündete Ministerpräsidentin Andersson buchstäblich in letzter Minute vor dem Wahltag, man habe einen „Durchbruch“ in Sachen Energiekostensenkung erreicht. Handfeste Einzelheiten nannte sie nicht. Der Vorstoß sollte wohl vor allem dazu beigetragen, ihr „den Arsch zu retten“. Den Vogel schoss die SD ab, die ihre Werbung auf Metrowagen mit faschistoiden Sprüchen so zuspitzte: „Heimatexpress – ohne Rückfahrkarte nach Kabul“.

Die Sozialdemokratische Partei wollte dem mit ihrer Sündenbockpolitik nicht nachstehen. Als Ministerpräsidentin Andersson verkündete, man wolle keine „Somalitowns“ dulden (gegen stark segregierte „capital towns“ hatte sie sich natürlich nie ausgesprochen), so hatte das allerdings einen Preis: Saida Hussein Moge, die profilierte sozialdemokratische Stadtverordnete aus Göteborg mit somalischen Wurzeln ‒ Platz 10 auf der Liste der SAP für den Reichstag, erklärte umgehend ihren Parteiaustritt.

Sie war nicht die einzige, die sich mit Grausen abwandte. In den letzten Wochen haben etliche namhafte Persönlichkeiten, darunter der Historiker Sven-Eric Liedman sowie der Journalist und Buchautor Ola Larsmo erklärt, dass die Sozialdemokratie für sie nicht mehr wählbar ist. Wie auch anderswo muss sich der „nordische Mainstream“ den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht nur die Rechtsverschiebung gefördert, sondern auch als Steigbügelhalter für eine immer stärkere extreme Rechte fungiert hat. Das alles hat natürlich auch fatale EU-weite und internationale Konsequenzen.

 

* So ist die Zahl der Ultra-Kronen-Milliardär:innen zwischen 1996 und 2021 um 1.800 Prozent und deren Gesamtvermögen um 3.000 Prozent gestiegen. 2021 handelte es sich – allein nach öffentlich zugänglichen Quellen – um 542, die ein Vermögen von 3.500 Mrd. Kronen besitzen, Tendenz weiter steigend. (Die schwedische Krone steht derzeit grob gerechnet im Verhältnis von 10:1 zum Euro.) Das sind 0,07 Promille der erwachsenen Bevölkerung. Mit im Verein: eine ganze Reihe frühere Regierungschefs und hohe Funktionär:innen aus den Reihen der Sozialdemokratie.
Schweden ist das Land in der westlichen Welt, das die Besteuerung von Vermögen am drastischsten gesenkt hat. Daran waren mehrere Regierungen beteiligt, die Sozialdemokrat:innen haben den Kurs fortgesetzt. Diese Steuerpolitik hat dazu geführt, dass diejenigen mit hohen und extrem hohen Einkommen prozentual weniger Steuern bezahlen als diejenigen mit durchschnittlichen Erwerbseinkommen. Die ungerechte Vermögensverteilung schlägt seit Jahren Rekorde. 45 Prozent der Haushalte haben inzwischen ein Jahreseinkommen von unter 10.000 Euro. Schweden liegt bei der ungerechten Vermögensverteilung inzwischen auf Platz 12 nach Ländern wie den Bahamas, Brunei, Brasilien, Russland, Südafrika und Sambia. Politik von Reichen für die Reichen! Die maßlos aufgeblähten Aktienpakete und Immobilienwerte haben allerdings – mehr noch als vor 2008/9 – die Bedingungen für eine neuen und noch größeren Riesencrash geschaffen.
Vgl. das aktuelle (bislang nur auf Schwedisch erhältliche) Buch des Aftonbladet-Journalisten Andreas Cervenka, Girig Sverige: Så blev folkhemmet ett paradis för de superrika (Gieriges Schweden ‒ so wurde das Volksheim ein Paradies für die Superreichen, Stockholm: Natur & Kultur, 2022). Desgleichen: Världens jämlikaste Land? (etwa: Der Welt gleichstes Land?) von Erik Bengtsson (Lund: Arkiv Förlag, 2020) sowie die umfassende Querschnittsstudie der Gesamtgesellschaft von 2015, die der Think-tank Katalys  veröffentlicht hat.

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