Die EU-Politik vermehrt die Fluchtursachen

Lesbos (Griechenland) Foto: Ggia, cc-by-sa 4.0

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Festung Europa

Die EU-Politik vermehrt die Fluchtursachen

Von Jakob Schäfer | 13.11.2023

Von kapitalistischen Staaten zu erwarten, dass sie den Klimawandel stoppen (oder zumindest bremsen), hieße, den Bock zum Gärtner zu machen. Genauso verhält es sich mit ihren angeblichen Bemühungen, die Ursachen der Migration zu beseitigen oder zu mindern.

Die wesentliche Achse der EU-Politik zur Abwehr von Flüchtlingen (siehe auch den Artikel von Inge Höger in diesem Heft der internationale) besteht in der Verschärfung der Abschottungsmaßnahmen (etwa dem Ausbau von Frontex) sowie in der Kasernierung von Flüchtlingen. So sollen jetzt in Italien Auffangzentren zu Militärstützpunkten ausgebaut werden, Flüchtlinge sollen bis zu 18 Monate lang festgehalten werden, neue Strukturen sollen an Orten mit geringer Bevölkerungsdichte aufgebaut werden … Ergänzt wird dieses politisch-polizeiliche Maßnahmenbündel durch eine Abschreckungsstrategie in den Aufnahmezentren selbst (schlechte Versorgung, kein Kontakt zur Außenwelt und zu Anwälten oder Hilfsorganisationen usw.) sowie durch Rückführungsabkommen, egal wie autoritär das jeweilige Regime ist.

„Ein Blick auf die Erfahrungen afrikanischer Staaten mit Flucht und Vertreibung zeigt, dass die wahre ‚Flüchtlingskrise‘ sich schon seit Jahrzehnten in Afrika und nicht in Europa abspielt.“[1] Doch das kümmert die Herrschenden in der „Wertegemeinschaft des Westens“ nicht im Geringsten. Vor allem (aber nicht nur) in Wahlkampfzeiten übertreffen sie sich jeweils gegenseitig mit Maßnahmen und Vorschlägen zur „Eindämmung“ der Flüchtlingsströme und scheuen sich nicht, die allerniedrigsten Menschrechtsstandards zu missachten. Statt also den Menschen humanitäre Hilfe zu gewähren, werden diese Menschen (nicht zuletzt mit der brutalen Politik der „Push-Backs“ durch Frontex) wissentlich in den Tod getrieben. Diese Politik ist so menschenverachtend, dass sogar der UN-Vorsitzende entsetzt ist und der Papst bei seinem Besuch in Marseille das Mittelmeer als „mare mortuum“, ein „Grab menschlicher Würde“, bezeichnete.

Fluchtursachen sind vielfältig

Kein Mensch verlässt ohne Grund seine Heimat und nimmt die ständig größer werdenden Risiken einer Migration nach Europa auf sich. Für die Flucht ausschlaggebend sind vor allem: a) der sich zuspitzende Klimawandel, der vor allem der bäuerlichen Bevölkerung jegliche Existenzgrundlage entzieht; b) autoritär und diktatorisch Regierende in einer wachsenden Zahl von Ländern; c) ethnische Konflikte (die vor dem Hintergrund einer insgesamt sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage ihre Zuspitzung erfahren); d) die wirtschaftliche Lage der Gesamtbevölkerung.

All diese Faktoren treffen auf sämtliche Regionen zu, aus denen sich heute Menschen auf die Flucht begeben, in Lateinamerika in Richtung Nordamerika und von Afghanistan bis Afrika in Richtung Europa. Es zeugt von der Verlogenheit der Herrschenden (allen voran ihrer politischen Vertretung), dass sie bei ihrem Schwadronieren gegen die Migration kein Wort über die Verantwortung des Imperialismus verlieren, weder über die historische Schuld noch über die ihrer aktuellen Politik. Stattdessen werden Fluchthelfer (die sogenannten „Schleuser“) durchweg als Kriminelle behandelt. Von all den oben genannten Faktoren ist der wirtschaftliche der mit Abstand bedeutendste, er ist struktureller Natur und nicht von der Existenz dieses oder jenes augenblicklichen Regimes in den betroffenen Herkunftsländern abhängig. „‚Räumlich gesehen ist absolute Armut ein Phänomen des Globalen Südens‘, sagt Antje Bruns. Sie ist Professorin für Nachhaltige räumliche Entwicklung in Trier. […] Und für Bruns steht fest: Armut ist „eng mit der Kolonialgeschichte verwoben“. Die Länder des globalen Südens wurden vom 16. bis 20. Jahrhundert von Europa versklavt und ausgebeutet, ihre Rohstoffe geplündert.“[2]

Auch im Neoimperialismus leiden diese Länder unter der „Artillerie der billigen Waren“ (Trotzki). In einer Welt des Freihandels haben sie keine Chance, eine eigene Industrie aufzubauen. Dort, wo solche Betriebe im Globalen Süden (mit der Ausnahme der sogenannten Schwellenländer) angesiedelt wurden, mussten sie in aller Regel nach kurzer Zeit dichtmachen. Vor diesem Hintergrund treffen die Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) vor allem die Länder mit der schwächsten Wirtschaft. Sie sind laut Weltbank extrem arm, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen muss. Das trifft auf zehn Prozent der Weltbevölkerung zu.

Die EU verschärft die Lage dieser Länder

Die ehemaligen europäischen Kolonialmächte hatten (im Gefolge der antikolonialen Befreiungskämpfe) ihren ehemaligen Kolonien in Afrika, der Karibik und in den Pazifikstaaten (AKP-Staaten) seit 1963 Zollfreiheit gewährt. Verbunden mit der Möglichkeit, dass diese Länder ihre Wirtschaft mit Zöllen schützen konnten, wurden die darauf basierenden „Lomé-Abkommen“ (I bis IV) und das darauffolgende Cotonou-Abkommen als ein Zugeständnis an die ehemaligen Kolonien bezeichnet (die AKP-Staaten mussten ihre eigenen Märkte nur wenig öffnen). Die WTO erklärte allerdings im Jahr 2000 diese „einseitige“ Marktöffnung für rechtswidrig.

Was konnte den europäischen Imperialismen Besseres passieren? Sie hätten zwar weiterhin mindestens den afrikanischen Staaten (im Grunde allen 77 AKP-Staaten) den zollfreien Zugang von Waren aus diesen Ländern gewähren können (ergänzt durch eigene Exportbeschränkungen), aber der internationale Konkurrenzkampf ließ sie dies als nicht erstrebenswert erscheinen, nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Expansion Chinas. So erklärte die EU, an die Vorgaben der WTO „gebunden“ zu sein, und verhandelt seit 2002 vor allem mit den Ländern der drei regionalen Wirtschaftsgemeinschaften Afrikas (das sind in Westafrika „ECOWAS“, in Ostafrika „EAC“ und im südlichen Afrika „SADC“) über neue Handelsbeziehungen. Um diese regionalen Handelsunionen nicht aufzubrechen, haben auch die ärmsten Länder dieser Regionen (die sogenannten LDC[3]) sich bereit erklärt, mitzumachen.

Die EU-Kommission will mit den sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA, engl. Economic Partnership Agreement, EPA) langfristig einen weitgehenden Freihandel zwischen der EU und Afrika durchsetzen. Die Abkommen sehen vor, dass die afrikanischen Staaten schrittweise ihre Märkte bis zu 83 Prozent für europäische Produkte öffnen. Im Gegenzug behalten sie für 15 Jahre ihren zollfreien Zugang zum EU-Markt (was ihnen allerdings wenig nutzt). Danach fallen die Zollschranken auf knapp 20 Prozent. Mit anderen Worten: Die heute eh schon geringen wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen dieser Länder werden noch weiter abgebaut.

Dass dies die Lage der Menschen in diesen Regionen nur noch verschlimmert, ist den Forscher*innen und den (eher wenigen) ernsthaften Journalist*innen seit Jahren bekannt. So schrieb etwa Isabel Pfaff: „Fluchtursachen: Freihandel mit Afrika klingt fair, ist aber ungerecht. Mit Geld für Entwicklungshilfe will Angela Merkel Fluchtursachen in Afrika bekämpfen. Doch ein Teil des Problems sind die Europäer selbst – und ihr Drang zum Freihandel. […] Wenn Europa Afrika weiter zum Freihandel drängt, entwertet es die Hilfe, die es selbst gewährt – und schafft immer mehr Flüchtlinge. […] In vielen Ländern des Kontinents sind die wirtschaftlichen Aussichten bis heute zum Davonlaufen, selbst Menschen mit Hochschulabschluss finden nur schwer einen Job. Die frustrierenden Zustände treiben viele in die Flucht – und führen manchmal zu Gewalt, was noch mehr in die Flucht schlägt. Das ist zwar nicht flächendeckend so, aber schon einige afrikanische Länder reichen aus, um die Flüchtlingsboote in Libyen zu füllen. Achtzig Prozent der Flüchtlinge, die 2016 in Italien landeten, kommen aus nur zehn afrikanischen Staaten, die meisten aus Nigeria, Eritrea, dem Sudan und Gambia. […] Freihandel zwischen ungleichen Partnern ist ungerecht. […] Die neuen Abkommen zwischen Europa und Afrika würden diese Situation noch verschärfen.“[4]

Aber auch die Regierungsverantwortlichen wissen von der Logik und den Folgen ihrer Politik. Kenia (das Land gehört zur ostafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft) hatte sich zunächst geweigert, das WPA zu unterzeichnen. Die EU verhängte deshalb 2014 für drei Monate Einfuhrzölle auf kenianische Produkte. Unter diesem Druck unterzeichnete das Land schließlich doch. Merkels Afrika-Beauftragter Nooke antwortete auf die Frage, ob das Land eine Wahl hatte: „Nein, so wie wir das von der EU-Kommission gehandhabt haben, da gab es keine Wahl. Wir haben ihnen ja keine Option geöffnet, wie sie den Zugang zu Europa behalten, ohne die WPA zu unterzeichnen.“[5]

„Boniface Mabanza: Die Länder Afrikas brauchen die EPAs nicht. Man sollte sie einfrieren – keine neuen Verhandlungen, keine Vertiefung. In 10, 15 Jahren könnten die EU und die afrikanischen Länder dann evaluieren, auf welcher Grundlage sie ihre Beziehungen weiterführen. Bis dahin wäre es noch möglich, eine Ausnahmeregelung bei der Welthandelsorganisation zu bekommen …“ (taz v. 5.4.2023)

Doch damit nicht genug. In der öffentlichen Debatte (zumindest unter Politikern und in den Mainstream-Medien) wird eine andere Dimension vollkommen ausgeblendet. Nicht nur können sich die betroffenen Länder – u. a. aufgrund des Freihandels – keine eigene Industrie aufbauen. Sie leiden auch noch unter Agrarexporten aus der EU. Die EU subventioniert die hiesige Agrarwirtschaft jährlich mit 70 Mrd. Euro. „Außerdem müsse Dumping durch europäische Unternehmen zuerst vor einem WPA-Ausschuss bewiesen werden. Das sei nur sehr schwer möglich: ‚Deswegen haben es Entwicklungsländer noch nie geschafft, ein Industrieland vor der WTO zu verklagen‘“, so Marí. „Man müsste quasi die Businesspläne deutscher Schlachthäuser nach Afrika geben und nachrechnen, ob das wirklich Dumping ist.“[6]

In der Vergangenheit wurde in der Presse wenigstens ab und zu mal über die Fischereiabkommen der EU mit den Ländern Westafrikas berichtet.[7] Greenpeace schreibt dazu:

„Das Fischen außerhalb Europas ist für die EU-Flotten legal, soweit Fischereiabkommen bestehen. Derzeit bestehen 16 Abkommen zwischen der EU und außereuropäischen Staaten, sieben davon mit westafrikanischen Staaten. Diese sind weder ökologisch nachhaltig noch fair. Die großen Trawler plündern die Fischgründe oft mit zerstörerischen Methoden. Und beim Verkauf einer Fischereilizenz erhalten die afrikanischen Staaten keinen angemessenen Gegenwert für ihren Fisch. Meist wird der Fang nicht mal in Afrika weiterverarbeitet, was immerhin ein paar Arbeitsplätze schaffen und dem Land durch den Export der Ware einen höheren Gewinn bescheren würde. Auch in den Abkommen vereinbarte ‚Entwicklungsmaßnahmen‘ wie die Instandsetzung von Häfen in den kleinen Fischerdörfern werden offenbar nicht umgesetzt. Die afrikanische Küstenbevölkerung hat also fast nichts vom Ausverkauf ihrer Speisekammer.

Ein Problem sind auch direkte Abkommen zwischen privaten afrikanischen und europäischen Fischereiunternehmen. Dadurch fahren zum Beispiel spanische Trawler unter afrikanischer Flagge. So sind offiziell weniger EU-Trawler unterwegs und verfälschen die Statistiken.“[8]

Nach zahlreichen Protesten wurden zwar die Fischereiabkommen der EU mit diesen Ländern aufgebessert. Wesentlicher Inhalt ist die Ausdehnung der Schutzzonen. Doch erstens sind diese gesamten Gewässer durch die industriellen Fischfangflotten schon stark dezimiert, sodass in den Schutzzonen der Bestand gegenüber 1960 um über die Hälfte zurückgegangen ist. Und zweitens verletzen Fischfangschiffe der EU und anderer imperialistischer Staaten immer wieder die Schutzzonen. Es wird eben kaum kontrolliert und nie sanktioniert.

„‚Uns nannte man Piraten‘, sagt Sall [ein Fischer, der 2015 zwei Kapitäne aus der EU kidnappte, die in der senegalesischen Schutzzone verbotenerweise fischten] … ‚Doch ihr Ausländer seid die Piraten, denn ihr fischt unser Meer leer.‘ […] Sie [die Fischer des Senegals] konkurrieren mit großen Industriebooten, die in einer Woche so viel fangen wie ein senegalesischer Kleinfischer in einem Jahr, wie ein Fachjournal kürzlich berechnete. In Joal verdienen 90 Prozent der Bewohner ihr Auskommen mit dem Fischfang, im gesamten Land ist es immerhin jeder Fünfte.“[9]

Schlussfolgernd

Das gesamte Geschrei aller Systemparteien (in Deutschland sind dies vor allem die Bundestagsparteien außer der LINKEN) ist verlogen. Sie verfolgen mit ihrer inhumanen, imperialistischen Flüchtlingspolitik einzig und allein das Ziel, von der Verantwortung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und im Besonderen der EU abzulenken. Von diesen Parteien ist schon deswegen keine Änderung der Politik zu erwarten, weil sie alle von diesem System profitieren. Sie sitzen an den Trögen der Macht im globalen Norden und verteidigen das imperiale Leben in einer imperialen Weltordnung. Traurig ist allerdings, dass die Partei DIE LINKE dem keine systemische Kritik gegenüberstellt.[10]

Umso größer also die Bedeutung der antirassistischen und der Flüchtlingshilfsorganisationen. Sie leben vor, was Che Guevara uns gelehrt hat: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“

Übernommen aus die internationale, 6/2023

Weitere Beiträge


Inge Höger: Das EU-Grenzregime – Abschottung statt Asylsystem, die internationale
Galia Trépère: Festung Europa, die internationale

[1] https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/265328/die-wahre-fluechtlingskrise-flucht-und-vertreibung-in-afrika/

[2] https://www.quarks.de/gesellschaft/sind-andere-laender-arm-weil-wir-reich-sind/

[3] Zu den Least Developed Countries (LDCs, den am „wenigsten entwickelten Ländern“) gehören heue nach Angaben der UN weltweit 46 Länder.

[4] Süddeutsche Zeitung, 15. Oktober 2016: https://www.sueddeutsche.de/politik/fluchtursachen-fairness-statt-hilfe-1.3205686

[5] https://www.dw.com/de/eu-freihandel-mit-afrika-unfairer-deal/a-37073640

[6] Ibid. Francisco Marí ist Referent für Handelspolitik beim evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt.

[7] So etwa in der Süddeutschen Zeitung vom 6.3.2019: „Senegal: Wie die EU Fischern die Lebensgrundlage nimmt.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/fischerei-senegal-eu-1.4349248

[8] https://www.greenpeace.de/biodiversitaet/meere/fischerei/fremdfischen-afrika

[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/fischerei-senegal-eu-1.4349248

[10] Zur Erläuterung siehe den Artikel von Thies Gleiss: „Zum Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN zur Europawahl 2024“ https://antikapitalistische-linke.de/?p=4724#more-4724

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