Sozialdemokratie im Gegenwind

Ein vereinter Stadtteil ist unbesiegbar Foto: esquerda.net, esquerda.net

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Portugal

Sozialdemokratie im Gegenwind

Von Jorge Costa | 06.04.2023

Ein Jahr, nachdem die Sozialistische Partei (PS) bei den vorgezogenen Wahlen die absolute Mehrheit im Parlament errungen hatte (42,5 % der Stimmen und 120 von 230 Sitzen), hat sich die politische Lage geändert und der Wind pfeift ihr auf den Straßen ins Gesicht.[i]

Jorge Costa

Ende 2021 setzte Antonio Costa (mehrfacher Premierminister seit 26. November 2015) vorgezogene Wahlen durch, nachdem er die Forderungen der Linken nach einer Reform des Arbeitsrechts und Investitionen im Gesundheitssektor zurückgewiesen hatte, um auf „politische Stabilität“ zu setzen. Diese Taktik ging auf und er erreichte eine absolute Parlamentsmehrheit bei den Wahlen im Januar 2022, auf die sich die Regierung trotz ständiger innerer Zerwürfnisse noch immer stützen kann, um nicht auf die zunehmend schlechtere Situation reagieren zu müssen.

Drei Dinge prägten das erste Jahr der Legislaturperiode: der Verfall der politischen Kultur innerhalb der Regierung, die Unterordnung unter die Kapitalerfordernisse durch einen „Sozialpakt“ zu den Löhnen (der von den Unternehmer*innen und der zweitgrößten Gewerkschaft UGT unterzeichnet wurde) und die Bereitschaft, die Extraprofite der Reichen gegen die Inflation zu schützen. Unter dieser Preissteigerung leidet eine Bevölkerung, von der – ohne Berücksichtigung der Sozialleistungen – fast 40 % in Armut leben [2021 lebten 1,9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, d. h. mit weniger als 554 Euro netto pro Monat, und die Situation hat sich 2022 weiter verschlechtert, A.d.R.].

Verfall der politischen Kultur …

Die Regierung wurde von einer Serie von Affären und Skandalen erschüttert, auch wenn viele von ihnen keine juristischen Konsequenzen hatten. In nur neun Monaten traten 13 Regierungsmitglieder zurück (11 Staatssekretäre und zwei Minister). Als der Premierminister den ehemaligen Bürgermeister von Caminha, Miguel Alves, zum stellvertretenden Staatssekretär ernannte, obwohl der in zwei Gerichtsverfahren angeklagt war, zunächst jegliche Aufklärung verweigerte und schließlich gezwungen war, seinen Rücktritt im November 2022 anzunehmen, wurde dies zu einer politischen Frage.

Es war auch kein Verbrechen, die ehemalige Direktorin der Fluggesellschaft TAP, Alexandra Reis, zur Staatssekretärin im Finanzministerium zu ernennen, die das (mehrheitlich staatliche) Unternehmen im Februar 2022 mit einer Abfindung von einer halben Million Euro verlassen hatte [und dann zur Leiterin des staatlichen Flugsicherungsunternehmens NAV ernannt worden war]. Der Finanzminister, der sie nominiert hat, wollte jedoch die Abfindung, die die Regierung selbst genehmigt hatte, nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist vielleicht kein Verbrechen, aber es ist ein eklatanter Verstoß gegen die ethischen Normen, an denen sich die Regierung orientieren sollte. Die Einstellung eines anderen Regierungsmitglieds durch ein Unternehmen, dem die Regierung Steuervergünstigungen gewährt hatte, ist ein Beispiel für die Vetternwirtschaft zwischen dem politischen Machtzentrum und großen Unternehmen. Diese Fälle sind keine Kavaliersdelikte oder einfache Schnitzer, sie zeugen vielmehr von der Verkommenheit einer absoluten Mehrheit, die nach nur einem Jahr ihres Bestehens die gleiche Arroganz und Undurchsichtigkeit pflegt, die für frühere parlamentarische Mehrheiten dieser Art, auch unter Beteiligung der PS, typisch war.

… und der Kaufkraft …

Im Jahr 2022 übertraf die Inflation alle Rekorde der letzten dreißig Jahre (7,8 %), und die jüngsten Prognosen einer leichten Abschwächung auf 5,4 % im Jahr 2023 bestätigen, dass der Kaufkraftverlust bei Löhnen und Renten weiter anhält. Die Preise steigen mit Schwankungen weiter an, am stärksten bei Lebensmitteln, wo die Inflation über 20 % beträgt. Mit anderen Worten: Die Ärmsten sind besonders stark betroffen.

Die absolute Parlamentsmehrheit der PS beharrt auf der These, dass die Angleichung der Löhne und Renten an die Inflationsrate den Inflationszyklus (die so genannte Lohn-Preis-Spirale) anheizen würde. Der durchschnittliche Anstieg der Beamtengehälter beträgt nur 3,6 % und nimmt entlang der Lohnskala immer weiter ab. Die Vereinbarung zwischen Regierung, Kapital und UGT legte für freiwillige Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft lediglich einen Richtwert von 5% fest, der in der Tat weit unter der Inflationsrate liegt, während sie den Unternehmen gleichzeitig eine Belohnung in Form von Steuersenkungen anbot. In der Praxis frieren die meisten Unternehmen die Löhne ein oder führen Lohnerhöhungen durch, die unter diesem Richtwert liegen.

Die These von der Lohn-Preis-Spirale wird von der Realität widerlegt: Der Inflationszyklus hat seinen Ursprung nicht in den Löhnen, sondern ist in erster Linie das Ergebnis von Spekulationsprozessen, die den Transfer des Einkommens der Lohnabhängigen an das Kapital beschleunigt, vermittels ihrer Stellung als Konsument*innen und Schuldner*innen [aufgrund der hohen privaten Verschuldungsquote – dazu kommt der Transfer des von den Arbeiter*innen geschaffenen Mehrwerts an das Kapital, A.d.R.].

… bei explodierenden Profiten

In Portugal ist diese Verarmung der Arbeiterklasse und die Verschärfung der sozialen Ungleichheit vergleichbar mit den Folgen der Austeritätspolitik, die erst Anfang des letzten Jahrzehnts von der Troika verhängt wurde. Die Gewinne der größten Wirtschaftskonzerne schießen in die Höhe, und rund fünfzehn große, an der Lissabonner Börse notierte Unternehmen haben ihren Aktionär*innen Dividenden in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ausgezahlt – ein absoluter Rekord.

Die Regierung stellt sich als Opfer der aufeinanderfolgenden internationalen Krisen dar. Indem sie sich weigert, die Preise zu kontrollieren oder die Gewinnspannen bei der Vermarktung der Produkte zu begrenzen, schützt sie lieber die Spekulant*innen im Energiesektor, bei den großen Einzelhandelsunternehmen und im Telekommunikationssektor. Währenddessen zeigen die triumphalen Verweise auf das Wirtschaftswachstum (6,7 % im Jahr 2022, eine Rekordrate seit 1987) und das Haushaltsdefizit (weniger als 1,5 % des BIP) nur die Unfähigkeit der Regierung, sich den Realitäten in Portugal zu stellen. Stattdessen rechnet sie lieber die [mittelmäßigen] Investitionen, die [niedrigen] Löhne und die [prekären] Beschäftigungen schön. Statt grundlegender sozialer Reformen für die Beschäftigten und die öffentliche Daseinsvorsorge oder auch nur des geringsten Plans, die Auswirkungen der zunehmenden Spekulation aufzufangen, umgarnt die Regierung  lieber die rechte Opposition. Deren politische Grundausrichtung ist die nämliche und in den Debatten über die Regierungspolitik lassen sich keine Unterschiede ausmachen.

Proteste auf den Straßen

Die Lehrer*innen und die übrigen Beschäftigten im Bildungssektor gehen aus guten Gründen auf die Straße. Sie leiden unter Reallohnkürzungen, zunehmend geringeren Aufstiegsmöglichkeiten durch Quotenregelungen und fehlender Anrechnung des Dienstalters, prekären Arbeitsverhältnissen und fehlender Fahrtkostenerstattung bei oft weit entfernt liegenden Schulen. Die Situation ist nicht neu, aber der Reallohnverlust durch die Inflation hat das Fass in den Schulen zum Überlaufen gebracht [Lehrer in der untersten Gehaltsstufe verdienen in Portugal etwa 1100 Euro und selbst in höheren Gehaltsstufen sind es oft weniger als 2000 Euro, A.d.Ü.]. Der Lehrerberuf ist zunehmend unattraktiv geworden und hat die jüngere Generation abgeschreckt, während zugleich Tausende von Lehrer*innen in den Ruhestand gehen.

Dieser Lehrermangel macht sich bereits in vielen Fächern, Klassen und Regionen des Landes bemerkbar. Tausende Kinder und Jugendliche wurden bereits vor den Streiks aufgrund des Mangels an Lehrkräften von der Schule abgemeldet. Und die Situation verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Anstatt Lösungen zu finden, indem die Dienstzeit voll angerechnet wird, Reisekosten bezahlt oder Anreize für strukturschwache Regionen geschaffen werden (wie es bei Polizist*innen oder Ärzt*innen der Fall ist), hat die Regierung beschlossen, das Streikrecht der Lehrkräfte einzuschränken und von ihnen eine Mindestpräsenz für die Betreuung, Versorgung und Unterrichtung der Schüler*innen zu fordern. Die Verhandlungsangebote der Regierung bleiben weit hinter den Forderungen zurück und deuten auf anhaltende Proteste hin, unter denen die Mobilisierung des Bildungssektors an der Spitze steht.

Wohnungsnot

Die EZB hat eine weitere Erhöhung des Leitzinses auf nunmehr 3 % vorgenommen. Diese Erhöhung treibt die Wirtschaft in die Stagnation, schadet der Beschäftigung und den Löhnen, ohne die Hauptursachen der Inflation – Angebotsengpässe und Spekulation – zu tangieren. Steigende Zinssätze wirken sich direkt auf das verfügbare Einkommen von Menschen aus, die Immobiliendarlehen aufgenommen haben. Die Hypothekenzinsen im Bankensektor sind um bis zu 50 % gestiegen, ohne dass es einen wirksamen Schutzmechanismus gibt.

In Portugal steht das Grundrecht auf eine Wohnung bloß auf dem Papier. In weniger als zehn Jahren haben sich die Wohnungspreise verdoppelt und die Mieten sind um 50 % gestiegen. Wohnkosten verschlingen einen enormen Anteil des Einkommens, was das Ergebnis einer Politik ist, die Spekulation und Luxusbauten für den Tourismus gefördert hat. Als die PS 2015 an die Macht kam, war die Wohnungsfrage bereits eine tickende Zeitbombe. Aber die neue Regierung unternahm nichts gegen die Gesetze, die den Verkauf von Immobilien an ausländisches Kapital begünstigen. Mit Unterstützung der rechten Opposition schuf sie sogar neue Spekulationsanreize im Immobiliensektor. Unter Ausnutzung der niedrigen (oder sogar negativen) Zinssätze strömte internationales Kapital in den Immobiliensektor, um die garantierten Profite abzuschöpfen.

[Die Regierungen haben in der Vergangenheit „goldene Visa“ erteilt, d. h. Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer*innen, die mehr als 500 000 Euro in eine Immobilie investieren. Hinzu kommen Genehmigungen für Touristenunterkünfte in Großstädten und insbesondere in Lissabon, die eine Vielzahl von Spekulationsgeschäften begünstigen, die von kaskadenartigen Käufen und Verkäufen (mit einer großen Anzahl leerstehender Wohnungen) bis hin zur Entwicklung von Airbnb reichen. Die „goldenen Visa“ dürften zwar ein Ende finden, aber den unzureichenden Maßnahmen der Regierung Costa steht die Macht der Bodenspekulant*innen gegenüber, A.d.R.]

In Lissabon gewinnt die Kampagne für ein Referendum zum Wohnungsbau an Fahrt, mit dem Ziel, die Umwandlung von Wohnungen in Touristenunterkünfte stark einzuschränken. Gleichzeitig wird es in den wichtigsten Städten etliche Demonstrationen für das Recht auf Wohnen geben, mit Großkundgebungen am 1. April sowie anderen Protesten für höhere Löhne oder gegen die Klimakrise. Der Frühling wird heiß werden.

Jorge Costa ist Leitungsmitglied des Bloco de Esquerda
Aus: Viento Sur vom 19.02.2023
Übersetzung unter Rückgriff auf die frz. Version: MiWe

Erscheint in die internationale, 3/2023

[i] Lehrer*innen, Ärzte, Krankenschwestern, Richter*innen und das Flughafenpersonal gehen unter dem Druck der Inflation und der steigenden Zinssätze für höhere Löhne auf die Straße. Daneben sind übergreifende Mobilisierungen geplant, etwa für den 25. Februar (Demonstration unter dem Motto „Gerechtes Leben“ gegen die steigenden Lebenshaltungskosten) oder den 1. April (Demonstrationen für das Recht auf Wohnung).

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