Erklärung von Anti*Capitalist Resistance zu den Parlamentswahlen: Die Tories wurden vernichtend geschlagen, Labour hat einen Erdrutschsieg „ohne große Begeisterung“ erlitten und der Rechtsextremist Farage legt zu. Es gibt eine Opposition von links und zum Gazakrieg müssen wir jetzt den Widerstand organisieren.
1 – Die überwältigende Mehrheit der Menschen wird froh sein über die Demütigung und vernichtende Niederlage der Tories. Sie haben den größten Mandatsverlust ihrer Geschichte erlitten. Konservative Regierungen haben uns 14 Jahre der Misswirtschaft, Korruption und Unehrlichkeit beschert. Die Sparpolitik von Cameron und den Liberaldemokraten hat das Leben von Millionen beendet oder verwüstet. Im Jahr 2010 gab es 35 Tafeln; heute sind es 3572. Unser Gesundheitswesen, unsere Bildung, unsere lokalen Dienstleistungen, unsere Versorgungsunternehmen und vieles andere wurden um lebenswichtige Mittel gebracht oder für private Bereicherung geplündert. Unsere Flüsse und Meere stinken und sind nicht zum Schwimmen geeignet, während die Aktionäre der Wassergesellschaften großzügig belohnt wurden. Johnsons kaltschnäuzige Missachtung der öffentlichen Gesundheit führte zu Tausenden von unnötigen Covid-Todesfällen. Regeln wurden uns auferlegt und von der Regierung selbst nicht befolgt. Seine Tory-Kumpane erhielten Millionen, um ungeeignete persönliche Schutzausrüstungen (PSA) zu beschaffen. Der extrem neoliberale Haushalt von Liz Truss führte dazu, dass Millionen von Menschen unter massiven Zinserhöhungen ihrer Hypotheken litten. Der Brexit hat das Wachstum hart getroffen und die europäische Freizügigkeit gestoppt. Unter Sunaks Ägide sind die Energiepreise in die Höhe geschnellt, und wir haben die schlimmste Explosion der Lebenshaltungskosten seit Jahrzehnten erlebt. Die Dämonisierung von Migrant:innen, Asylsuchenden und Trans-Personen hat zugenommen. Wir können zumindest einen Moment lang die politische Niederlage der Politiker:innen auskosten, die für das Ganze verantwortlich sind. Truss, Shapps, Mordaunt, Gullis, Rees-Mogg, Jenkyns und andere Minister:innen sind alle weg. Dieses Mal ging es Sunak anders als bei der Wahl von 2019, diesmal hat die Farage-Partei den Tories geschadet, nicht der Labour-Partei.
2 – Starmers neue Regierung wurde vom Großkapital begrüßt. Der Economist, die Financial Times und die Murdoch-Presse haben Labour bei dieser Wahl unterstützt. Als Starmer sagte, er habe die Partei verändert, um das Land verändern zu können, war dies die halbe Wahrheit. Ein sicherer Weg, an die Macht zu kommen, besteht darin, jede mögliche linke Bedrohung der Macht der Kapitalistenklasse zu zerstören, die wirklich das Sagen hat. Ja, er hat seine Partei verändert, aber seine neue Partnerschaft mit dem Kapital zur „Schaffung von Wohlstand“ wird das Land für die große Mehrheit nicht verändern. Sie wird dazu beitragen, die Profitmacherei für einige wenige noch weiter zu beschleunigen. Öffentliche Gelder werden an die Wirtschaft verschleudert werden, um „Wachstum“ zu fördern, das angeblich auf magische Weise nach unten durchsickern soll, um die Löhne und Sozialausgaben zu steigern. Vertreter:innen des Kapitals wurden bereits in sein Kabinettsteam integriert, um sicherzustellen, dass diese Vision umgesetzt wird.
3 – Der große Wahlsieg von Labour folgt auf den bösartigen Gegenangriff der Rechten und des Zentrums der Labour Party gegen jeden Anschein einer moderat linken Infragestellung der Macht des Kapitals. Starmers Kontrolle über die Arbeiterbewegung wurde verstärkt. Jede Wiederauferstehung einer Corbyn-ähnlichen linken Mehrheit innerhalb der Labour-Partei ist zum Scheitern verurteilt – und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Für eine Weile wird die neue Regierung wahrscheinlich eine Zeit der Flitterwochen genießen, in denen Spannungen oder Konflikte mit den Gewerkschaften oder der Linken kaum auftreten werden.
4 – Doch dieses Ergebnis ist ein Zusammenbruch der Konservativen, ebenso wie ein Sieg der Labour-Partei. Ein Journalist hat es zu Recht als Erdrutschsieg „ohne große Begeisterung“ bezeichnet. Das unfaire Mehrheitswahlsystem verzerrt massiv das Ausmaß des Triumphs von Labour. Gestern erhielt sie 9,6 Millionen Stimmen und rund 34 % der Stimmen. Die Labour-Partei unter Corbyn, von dem er behauptete, er verhindere einen Wahlsieg, erhielt 2017 13 Millionen Stimmen und 40 Prozent und 2019 10 Millionen Stimmen und 32 Prozent – und das Ergebnis wurde damals durch den Brexit und die de-facto-Wahlkoalition Johnson/Farage verzerrt. In Cymru [Wales] gab es wenig Begeisterung für Starmer. Obwohl Labour 27 von 32 Sitzen gewann, erhielt sie fast 150 000 Stimmen weniger als 2019, als Jeremy Corbyn an der Spitze stand. In den ärmsten Gemeinden wie Ely und Caerau lag die Wahlbeteiligung bei nur 23 Prozent. Alle haben die fehlende Begeisterung für das Starmer-Projekt festgestellt. Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu 2019 um sieben Prozentpunkte niedriger und liegt bei rund 60 Prozent. In diesem Klima, in dem es keine starke Identifizierung mit der Regierung gibt, ist es wahrscheinlicher, dass sich Arbeitskämpfe entwickeln. Die Begeisterung ist geringer als bei Blair 1997. Die neue Regierung hat jedoch bereits angedeutet, dass sie weder den Beschäftigten im öffentlichen Dienst einen anständigen Lohn zahlen noch die Steuern für die Reichen erhöhen wird, um die Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Sozialfürsorge oder die Ausgaben der Kommunen zu finanzieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Arbeiter gegen diese Regierung streiken werden, und viele andere werden gegen die engen Vorgaben ihres Programms kämpfen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit dem US-Imperialismus in Bezug auf den israelischen Apartheidstaat brechen wird. Anders als Spanien und Irland wird sie den palästinensischen Staat jetzt nicht anerkennen. Das deutliche Votum für die Labour-Linke zeigt, dass es Potenzial für Widerstand gegen die moderate Regierungspolitik gibt.
5 – Wir müssen jeden Kampf oder Widerstand gegen die Politik dieser sozialdemokratisch-liberalen Regierung unterstützen. Wir respektieren keine Flitterwochen. Zunächst fordern wir die sofortige Umsetzung ihres sehr begrenzten Programms ohne weitere Einschnitte – mehr Rechte für Arbeiter:innen ab Tag 1 sowie die angekündigten progressiven Steuern für Privatschulen und Non-Doms [Steuersparmodell für reiche Ausländer mit Zweitwohnsitz]; Abbruch des Ruanda-Projekts und Nutzung seiner Mittel für Bildung, Gesundheit und Umwelt.
6 – Aber das ist nur der erste Schritt für die Arbeiterbewegung, um die Regierung zu viel radikaleren Maßnahmen zu zwingen – die Ausweitung der Arbeitsrechte durch die Abschaffung aller repressiven Gesetze Thatchers; eine Vermögenssteuer und eine erhöhte Kapitalertragssteuer, um unseren NHS [das staatliche Gesundheitswesen], unsere Bildung und unsere lokalen Dienstleistungen zu finanzieren; die Energie- und Versorgungsunternehmen in Gemeineigentum überführen und etwaige erwirtschaftete Überschüsse für die Entwicklung eines viel ehrgeizigeren Energiewendeplans zu verwenden, um die Klima- und Umweltkrise so zu bewältigen, dass die Verursacher zur Kasse gebeten werden; die sofortige Abschaffung der Zwei-Kinder-Grenze und anderer Leistungsobergrenzen und die Stärkung des Gleichstellungsgesetzes von 2010, um die Unterdrückten (einschließlich Trans-Menschen) besser zu schützen, sowie die Abschaffung der repressiven Gesetze zur öffentlichen Ordnung. Dies sind nur einige wenige Beispiele, aber solche Initiativen gehen Hand in Hand mit der Mobilisierung der Arbeitenden in diesen Sektoren zur Ausarbeitung von Aktionsplänen. Wir üben nicht nur Druck auf Labour aus, sondern versuchen, in all diesen Fragen eine eigenständige Selbstorganisation zu entwickeln.
7 – Die Ergebnisse der gestrigen Parlamentswahlen zeigen, dass bis zu 3 Millionen Menschen links von Labour gestimmt haben, entweder für ein grünes Programm, das radikaler ist als das von Labour, oder für linke Unabhängige oder Kandidaten, die Labour in der Palästina-Frage angreifen. Allein die Grünen erhielten 6,8 % (plus 4 Prozentpunkte), fast 2 Millionen Stimmen, und haben jetzt 4 Abgeordnete. Unabhängige Pro-Gaza-Kandidaten gewannen vier Sitze und lagen knapp vor Labour in Wahlkreisen wie dem von Wes Streeting in Ilford North. Andrew Feinstein erhielt in Starmers Wahlkreis über 8000 Stimmen, Faiza Shaheen in Chingford kam auf 25 Prozent und hätte gewonnen, wenn Labour die Stimmen nicht gegen Duncan Smith aufgesplittert hätte. Corbyn gewann am Ende mit großem Vorsprung. Wir haben noch nie so viele Unabhängige im Parlament gesehen. Innerhalb von Labour gibt es immer noch eine geschwächte Linke wie die Grassroots Alliance, Momentum und die Socialist Campaign Group. Diese Tausenden von Aktivist:innen innerhalb und außerhalb von Labour bilden die Grundlage für ein strukturierteres Netzwerk oder eine Bewegung von Ökosozialist:innen und Klimaaktivist:innen, die bereit sind, sich gegen Starmer zu stellen, wenn er es nicht schafft, den Wandel voranzubringen, den wir brauchen. Die aktivistische Strömung der grünen Bewegung wie Just Stop Oil und Extinction Rebellion besetzt ebenfalls diesen politischen Raum. Der unerwartet hohe Erfolg all dieser Kräfte gibt uns Hoffnung, dass eine triumphierende Starmer-Regierung nicht ohne Widerstand voranstürmen wird. Zu Beginn des Wahlkampfs wollte er die erste schwarze Abgeordnete Großbritanniens loswerden. Er wurde von einer Basiskampagne gestoppt, die sich mit linken Abgeordneten, Gewerkschaften und der Welt der Kultur verband. Es gibt keinen Grund, warum solche Bündnisse nicht auch zu anderen Themen aufgebaut werden können. Die große Mehrheit könnte es den Abgeordneten erleichtern, sich der Labour-Führung zu widersetzen – ihre Rebellion würde die Regierung nicht stürzen. Jeder Kommentator und jede Umfrage haben sowohl auf den sehr starken Wunsch hingewiesen, die Tories loszuwerden, als auch auf geringe Begeisterung für Starmer und sein Projekt. Die Menschen könnten also bereit sein, die Regierung viel früher anzugreifen, als wir uns das vorstellen können. Selbst der große Erfolg der Liberaldemokraten mit bis zu 71 Sitzen spiegelt teilweise den Wunsch wider, die Gesundheits- und Sozialfürsorge angemessen zu finanzieren, was über die begrenzten Budgetpläne von Labour hinausgeht.
8 – Farages rassistische Reformpartei war, nach Starmer, der Überraschungssieger des Abends. Sie gewann 4 Sitze und über 4 Millionen Stimmen. Ihr Stimmenanteil ist über 3 Prozentpunkte besser als ihr bisheriges Rekordergebnis im Jahr 2015. Die Reformpartei kam in Hunderten von Wahlkreisen auf Platz 2, auch bei einigen von Labour gehaltenen. Farages Hauptbotschaft nach der Wahl war, dass er die Tory-Partei überholen und zur wichtigsten Opposition gegen Labour werden wollte. Er ist in der Lage, eine Rolle bei der Neuordnung der rechten Politik zu spielen, entweder durch eine umgekehrte Übernahme der Tory-Partei oder durch eine neue Bewegung, die den traditionellen Toryismus bekämpfen und einige ihrer Basis und Abgeordneten gewinnen wird. Dieser Prozess ist bereits im Gange. Er ist auch eine Bedrohung für die Starmer-Regierung. Farage hat gesagt, er wolle die wirkliche Opposition sein, die die Massenproteste anführt. Angesichts der geringen Anzahl seiner Abgeordneten im Verhältnis zu den Millionen von Stimmen ist er in der Lage, die Frustrationen seiner Basis auszunutzen, die sich vom politischen Prozess entfremdet fühlt. Labour griff Farage aus engstirnigen wahltaktischen Überlegungen heraus nicht an und dachte, er würde den Tories mehr schaden als Labour. Starmer zog sogar seinen Kandidaten aus dem Kampf in Clacton zurück [den Farage gegen die Tories gewann]. Labour trägt ebenso wie die Tories die Verantwortung für den Aufstieg der Reformpartei. Labour hat den rassistischen Rahmen der Debatte über Migrant:innen gesellschaftsfähig gemacht. Es wird an der Linken und der Arbeiterbewegung liegen, gegen eine stärker werdende Farage-Strömung zu kämpfen. Sein Erfolg wird auch die Selbstgewissheit neofaschistischer Straßenbanden unter der Führung von Tommy Robinson und anderen stärken.
9 – Ökologische Aspekte fehlten größtenteils im Wahlkampf. Labour hatte sein Großbritannien-Energie-Projekt bereits verwässert und nicht in den Vordergrund gestellt, weil sie Angst hatte, dass die Wähler:innen durch die Kosten abgeschreckt werden könnten. Sowohl die Liberaldemokraten, die sogar auf 71 Sitze kamen (mehr als die Nachwahlbefragung vermuten ließ), als auch die Grünen profitierten davon, dass sie die Umwelt auf die Tagesordnung setzten. Die Linke muss aufstehen und eine ökosozialistische Strategie verfolgen. Die andere große Fehlstelle im Wahlkampf war Gaza. Die großen Parteien haben es kaum erwähnt, aber das Auftreten unabhängiger Kandidaten hat dies völlig gestört. Wir begrüßen die Arbeit all jener Aktivist:innen, denen es gelungen ist, bei dieser Wahl der Stimme der Palästinenser:innen Gehör zu verschaffen.
10 – Die ACR wird sich in den Dienst des Widerstands gegen den sozialdemokratischen Liberalismus der Labour Party stellen. Wir werden jede Kampagne unterstützen, um Trans-, Frauen- und demokratische Rechte, Palästina, den Lebensstandard der Arbeitenden und öffentliche Dienstleistungen zu verteidigen und auf starke Maßnahmen zur Bewältigung der Klima- und ökologischen Krise sowie auf einen gerechten Übergang zu grünen Arbeitsplätzen zu drängen. Innerhalb der breiten Bewegung werden wir für die Notwendigkeit einer antikapitalistischen ökosozialistischen Strömung eintreten, die die Grundlage für eine strategische Alternative zur Labour-Politik bilden kann.
5. Juli 2024
Erscheint in die internationale, 5/2024