Eine internationale Bewegung gegen den imperialistischen Krieg aufbauen!
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Nein zur Intervention von NATO, USA und EU! Russische Truppen raus aus der Ukraine!

Eine internationale Bewegung gegen den imperialistischen Krieg aufbauen!

Von der Tendenz für eine revolutionäre Internationale (TRI), Öffentliche Tendenz der Vierten Internationale (ehemals vereinigtes Sekretariat) | 05.04.2022

1°/ Am 24. Februar 2022 überschritt die russische Armee auf Befehl von Wladimir Putin die ukrainische Grenze und startete eine extrem brutale Invasion des Landes unter Einsatz von über 100.000 Soldat*innen. Besonders intensive Bombardements gingen auf die größten Städte des Landes, Kiew und Charkiw, nieder. Dabei wurden bewusst zivile Ziele ins Visier genommen, was die Raketenabschüsse auf den Freiheitsplatz und die Universität in Charkiw zeigten. Während diese Zeilen geschrieben werden, bewegt sich ein etwa 60 km langer Panzerkonvoi auf Kiew zu, der thermobarische Waffen mit sich führt, Waffen, deren Zweck es ist, möglichst große Verluste unter der Zivilbevölkerung zu verursachen. Nach uns vorliegenden Informationen haben sich die tschetschenischen Truppen von Präsident Kadyrow, die für ihre Brutalität und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung bekannt sind, den Reihen des russischen Militärs angeschlossen.

2°/ All dies bestätigt den vollkommen imperialistischen Charakter dieses Krieges. Putin hat daraus keinen Hehl gemacht: Er greift die großrussische nationalistische Rhetorik auf, wonach die Ukraine historisch zum Russischen Reich gehöre. In seiner Rede vom 21. Februar war eines der Hauptziele Putins die Politik der Bolschewiki zur Zeit der Russischen Revolution. “Die moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen und kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann fast unmittelbar nach der Revolution von 1917, und Lenin und seine Verbündeten gingen dabei sehr grob vor gegenüber Russland selbst – indem sie einen Teil seiner eigenen historischen Territorien abtrennten, abrissen.” Er warf Lenin vor, den Donbass der Ukraine “überreicht” zu haben. Mit diesen Angriffen auf die internationalistische Politik der Bolschewiki macht Putin deutlich, wer er ist und wen er vertritt: ein Vertreter der neuen russischen Bourgeoisie, die auf den Trümmern der Sowjetunion entstand und ihre Wurzeln im feudalen Zarenreich hat.

3°/ Die großangelegte Invasion Russlands in der Ukraine verleiht dem auf dem Rücken der Völker in der Region ausgetragenen Konflikt zwischen dem russischen Imperialismus und dem westlichen Imperialismus eine neue Dimension. Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass der aktuelle Krieg am 24. Februar begann. Seit 2014 wurden im Donbass mehr als 10.000 Menschen bei Zusammenstößen zwischen der ukrainischen Armee und den Kämpfer*innen aus Donezk, Lugansk und von der Krim getötet.

4°/ Der aktuelle Zorn des Kremls hat seine Wurzeln in den Aufständen von 2013-2014 gegen den pro-russischen Kapitalisten Viktor Janukowitsch. Er wurde mit einem sehr schwachen Ergebnis gewählt und nahm eine Annäherung an den russischen Staat vor, was einen Bruch mit der Politik seiner Vorgänger bedeutete, während er gleichzeitig eine liberale, antisoziale Politik verfolgte, die auf einem Kahlschlag öffentlicher Dienstleistungen beruhte. Die Revolte von 2013-2014 hatte ihren Ursprung zum Teil in der Wut über diese liberale und autoritäre Politik. Doch es waren die kleinbürgerlichen Klassen, die diesen Aufstand mit einer antirussischen und EU-freundlichen Ausrichtung anführten. Diese politische Linie begünstigte die Präsenz rechtsextremer Gruppen wie Svoboda oder Pravy Sektor, einer offen neonazistischen Partei, die sich auf den Kollaborateur Stepan Bandera beruft. Seit 2014 und mit dem Auftreten neonazistischer paramilitärischer Kräfte in der Maidan-Bewegung (finanziert sowohl von der ukrainischen Oligarchie als auch vom Westen) kam es in der Ukraine zu Massakern an russischen Zivilisten, linken Aktivist*innen, Homosexuellen usw. (z.B. der Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus im Mai 2014, bei dem mehr als 50 Menschen zu Tode verbrannten und ermordet wurden).

Am 22. Februar 2014 setzte das ukrainische Parlament (die Rada) Viktor Janukowitsch ab, der nach Russland floh, und ernannte Oleksandr Turtschynow, einen homophoben Ultrakonservativen, zum Übergangspräsidenten. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war die Aufhebung des Gesetzes über Regionalsprachen, wodurch Russisch aus der Liste der Amtssprachen gestrichen wurde (aber auch Ungarisch, Moldawisch und Rumänisch). Konkret bedeutet dies, dass alle offiziellen Dokumente künftig nur noch in ukrainischer Sprache verfasst werden, aber auch, dass Stadt- und Eigennamen der ukrainischen Schreibung und Aussprache folgen müssen.

5°/ Angesichts dieser diskriminierenden Maßnahmen gegen die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes brachen am 23. Februar in den Städten Donezk, Kramatorsk, Luhansk, Mariupol und Sloviansk im Donbass sowie auf der Halbinsel Krim Massendemonstrationen aus. Die Demonstrant*innen forderten die Einhaltung ihrer Rechte, d.h. die Aufhebung des Gesetzes über Regionalsprachen, aber auch eine Dezentralisierung der Macht Kiews zugunsten der Regionen und mehr Autonomie.

Diese Demonstrationen setzen die Regierung unter echten Druck und das Gesetz über Regionalsprachen wurde nie umgesetzt.

Doch Putin nutzte die durch die reaktionären Entscheidungen der Regierung in Kiew hervorgerufene Spaltung aus, indem er die Söldner*innen der Wagner-Miliz einsetzte und separatistische Kämpfer*innen auf der Krim, in Donezk und Lugansk finanzierte. Am 11. März 2014 erklärte das Parlament der Krim die Unabhängigkeit der Republik Krim. Am 16. März wurde in einem Referendum, das unter russischer Militärbesetzung durchgeführt wurde, der Anschluss der Krim an die Russische Föderation offiziell bestätigt. Im darauf folgenden Monat erklärten die separatistischen Kämpfer*innen im Donbass, die von Russland finanziell und militärisch unterstützt wurden, die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese Militärintervention Russlands ist eindeutig eine Vereinnahmung der Proteste der russischsprachigen Bevölkerung und hat nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen im Donbass und in Lugansk zu tun: Sie ist eine Manifestation der aggressiven Absichten des russischen Imperialismus gegenüber der Ukraine.

Am 25. Mai 2014 wurde Petro Poroschenko, ein Milliardär, der sein Vermögen in der Schokoladenindustrie gemacht hatte, mit 54,7 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt, wobei nur 18 Millionen Ukrainer*innen an der Wahl teilnahmen, die auf der Krim und in den Regionen Donezk und Lugansk nicht stattfinden konnte. Sofort entwickelte Poroschenko eine ultra-nationalistische und revisionistische Politik: Anerkennung der Kämpfer*innen der Bandera-Milizen, die im Zweiten Weltkrieg an der Vernichtung der Juden beteiligt waren, Anerkennung der ukrainisch-orthodoxen Kirche, ein Gesetz, das vorsieht, dass der gesamte Schulbetrieb im Land in ukrainischer Sprache erfolgen muss… Unter seiner Regierung wurden rechtsextreme Milizen, die auf dem Maidan demonstriert und dann im Donbass gekämpft hatten, in die ukrainische Armee integriert, unter der Führung des Vorsitzenden der Partei Pravy Sektor, Dmytro Jarosch, der im April 2015 zum Berater des Verteidigungsministeriums ernannt wurde (ein Posten, den er inzwischen verlassen hat). Mit voller Unterstützung der USA und der NATO-Mitgliedsländer erhöhte er das Budget für den Verteidigungs- und Sicherheitssektor von 1% des BIP auf 5%. Im November 2018 verhängte er nach einem bewaffneten Zwischenfall zwischen ukrainischen und russischen Schiffen das Kriegsrecht.

Gleichzeitig verfolgte er eine Politik der wirtschaftlichen Austerität: Unter dem Druck des IWF, der die langsamen Reformen kritisierte, führte er zahlreiche Privatisierungen durch und griff das Rentensystem an, während die Preise für Gas und Lebensmittel explodierten. Poroschenkos Unbeliebtheit im Land stieg. In den letzten beiden Jahren seiner Amtszeit gab das Gallup-Institut an, dass die Ukraine weltweit das Land mit dem geringsten Vertrauen in seine Regierung war[1]. Nach einer Reihe von Finanzskandalen (sein Vermögen soll zwischen 2012 und 2020 um 400 Millionen US-Dollar gestiegen sein) unterlag Poroschenko bei den Wahlen 2019 deutlich und wurde von Volodymyr Zelensky, einem Schauspieler, der bis dahin vor allem für seine Rollen in Fernsehserien bekannt war, besiegt.

6°/ Der derzeitige Präsident Zelensky ist ein Populist, der auf der Grundlage eines widersprüchlichen Programms gewählt wurde, das eine Mischung aus der Verteidigung der direkten Demokratie und der Bekämpfung der Korruption – zumindest in Worten – und ultraliberalen Maßnahmen wie der Liberalisierung des Grundstücksmarktes beinhaltet. Seit 2001 hatte ein Moratorium die Privatisierung von Staatsland blockiert und fast alle Transaktionen mit Privatland verhindert. Diese Liberalisierung des Agrarmarktes hat zu Protesten von Kleinbauern geführt. Tatsächlich wird die Schaffung eines Marktes für Agrarland in der Ukraine es den Oligarchen und großen Agrarunternehmen ermöglichen, weiterhin Land an sich zu reißen, während gleichzeitig die Interessen ausländischer Investoren und Banken befriedigt werden[2].

Paradoxerweise ist eine der Grundlagen, auf der Zelensky gewählt wurde, die Lockerung des Würgegriffs um Russland[3]. Seine besten Ergebnisse erzielte er in den russischsprachigen Regionen, die als pro-russisch gelten. Da er selbst russischsprachig ist, kritisierte er Gesetze, die den Gebrauch des Ukrainischen im Rundfunk ausweiteten und Prüfungen für Beamte zur Beherrschung der ukrainischen Sprache einführten. Gleichzeitig erklärte Zelensky, dass er die Integration der Ukraine in die Europäische Union anstrebe und ein Referendum über den Beitritt der Ukraine zur NATO abhalten wolle.

7°/ Seit 2014 führen der US-Imperialismus und der russische Imperialismus auf dem Rücken der Ukraine einen Stellvertreterkrieg. Noch bevor die russische Armee die ukrainische Grenze überschritt, hatte dieser Krieg in der Region Donbass bereits 14.000 Todesopfer gefordert.

Obwohl die von Russland, der Ukraine und Vertretern der selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk unter Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterzeichneten “Minsker Protokolle” einen Waffenstillstand gewährleisten sollten, hielt sich keine der Parteien an diese Vereinbarungen. Zwischen Februar und März 2021 beobachtete die OSZE einen Anstieg der Verletzungen des Waffenstillstands um 30 Prozent. Während Russland seine Truppen an den ukrainischen Grenzen stationierte und separatistische Kämpfer*innen im Donbass finanzierte, beschleunigten die USA zur gleichen Zeit die Waffenlieferungen an die ukrainische Armee. Zwischen 2018 und 2021 lieferten die USA 77 Javelin-Raketenwerfer; diese Zahl stieg 2022 erheblich an, da allein im Januar 300 Raketenwerfer geliefert wurden. Im Jahr 2021 stellten die USA der ukrainischen Armee Hilfen im Wert von über 450 Millionen US-Dollar zur Verfügung[4].

Diese massiven Waffenlieferungen an die ukrainische Armee sind die Fortsetzung der Logik der NATO-Expansion, die seit den 2000er Jahren vom US-Imperialismus verfolgt wird. Entgegen den Verpflichtungen, die Deutschland und die USA 1994 eingegangen waren, traten am 29. März 2004 sieben Länder (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien) der NATO bei. Ihnen folgten 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Mazedonien. Diese Beitritte gingen natürlich mit Truppenverlegungen und groß angelegten Militärübungen einher, die der imperialistischen Logik der Blockerweiterung folgen, und haben dazu geführt, dass entlang praktisch der gesamten russischen Grenze mit Ausnahme der Ukraine und Weißrusslands Militärbasen errichtet wurden. Die NATO und die europäischen Imperialismen tragen daher die schwerste Verantwortung für die militärische Eskalation.

Der Krieg im Donbass, der in den westlichen Medien lange Zeit völlig totgeschwiegen wurde, bot rechtsextremen Aktivist*innen aus allen Ländern ein gewaltiges Übungsfeld: Auf beiden Seiten der Grenze, auf der pro-russischen wie auf der pro-ukrainischen Seite, beteiligen sich rassistische, antisemitische Milizen, die sich ausdrücklich zum Nationalsozialismus bekennen, an den Kämpfen[5].

8°/ Die imperialen Mächte streiten sich um die Reichtümer der Ukraine. Das Land steht immerhin gemessen am Gesamtwert der natürlichen Ressourcen an weltweit vierter Stelle: Europas größte Reserve an Uranerzen, eine der weltweit größten Reserven an Mangan, Eisen, Quecksilber und Kohle. Die Ukraine ist auch die Kornkammer Russlands und Europas: größter Exporteur von Sonnenblumen, zweitgrößter Gerstenproduzent der Welt, drittgrößter Maisproduzent der Welt… Und vor führt durch dieses Land das zweitgrößte Gasleitungsnetz Europas (142,5 Milliarden Kubikmeter Gasdurchsatzkapazität in der Europäischen Union). So könnte die Blockade der Inbetriebnahme der Nord Stream II-Pipeline von Russland nach Deutschland die Karten unter den Gasexportländern neu mischen. Zu den wichtigsten LNG-Exporteuren – neben Katar, Russland, Algerien und Nigeria – gehören auch die USA, die einen Teil ihres Schiefergases absetzen[6]. Was den Krieg in der Ukraine motiviert, ist also nicht die Verteidigung der Demokratie in einem Land, wie uns die Medienpropaganda erzählt. Es ist schlicht ein Krieg zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen Russlands oder der USA. Letztere sind die Hauptprofiteure der Unterbrechung des Handels zwischen Europa und Russland, da sie es sind, die Russland bei den Gasexporten nach Europa ersetzen werden. Derzeit stammen 40% des in Europa verbrauchten Erdgases aus Russland.

9°/ Der Krieg in der Ukraine ist die neueste und brutalste Zuckung der globalen Krise des Kapitalismus, in der die historischen Imperialismen geschwächt sind, während andere imperialistische Mächte versuchen, sich durchzusetzen. Während die Trump-Administration die Hauptanstrengungen des US-Imperialismus auf den asiatischen Kontinent und die pazifische Sphäre ausgerichtet hatte, hat die historische Niederlage, die er im Irak und in Afghanistan erlitten hat, ihn dazu veranlasst, seine Anstrengungen wieder auf den europäischen Kontinent zu verlagern. Dies ist ein wichtiger Grund für Bidens besonders aggressive und kriegstreiberische Rhetorik gegenüber Russland.

In Europa sieht sich Frankreich mit einer historischen Herausforderung seiner Dominanz auf dem afrikanischen Kontinent konfrontiert. Der Abzug der französischen Truppen aus Mali, auch wenn er nicht sofort erfolgt und mit einer Umverteilung in die anderen Länder der Sahelzone einhergeht, stellt für Macron eine ebenso große Niederlage dar wie für Biden die Niederlage in Afghanistan.

Angesichts dieser angeschlagenen historischen Imperialismen hat der chinesische Imperialismus begonnen, mit Taiwan die Zähne zu zeigen. Die Pläne für die Entwicklung der “neuen Seidenstraßen” zeigen die Expansionsbestrebungen dieses Imperialismus auf den gesamten asiatischen Kontinent.

In diesem Rahmen versucht Russland als imperialistische Macht, seinen Part zu spielen. In einer Zeit, in der die westlichen Imperialismen mit Widersprüchen konfrontiert sind, spielt es eine gewisse Rolle als konterrevolutionärer Gendarm: Intervention in Syrien, Einsatz der Wagner-Milizen auf dem afrikanischen Kontinent, Finanzierung der extremen Rechten in Europa und den USA … Doch angesichts des chinesischen Riesen und der westlichen Imperialismen bleibt Russland eine imperialistische Macht zweiter Klasse. Abgesehen vom Ölexport und der Rüstungswirtschaft ist die russische Wirtschaft, die hauptsächlich von der Mafia betrieben und von Kapitalisten beherrscht wird, die aus der stalinistischen Bürokratie hervorgegangen sind, nach wie vor sehr schwach[7]. Darüber hinaus sieht sich Wladimir Putin seit zwei Jahren mit starken sozialen und politischen Protesten konfrontiert. Im Februar 2021, nach der Vergiftung des liberal-nationalistischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, demonstrierten Zehntausende von Russ*innen[8]. Doch vor allem in seinen Grenzländern war das Regime am umstrittensten. Ende 2020 war es das Lukaschenko-Regime, das sich mit Arbeiter*innenstreiks und Demonstrationen konfrontiert sah. Um diese Proteste niederzuschlagen, musste Lukaschenko Moskau einschalten. Im Januar 2022 brachen in Kasachstan sehr mächtige Streiks mit Aufstandscharakter aus. Um diese niederzuschlagen, setzte Russland zum ersten Mal die Streitkräfte der “Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit” ein, einem Militärbündnis zwischen Russland und den zentralasiatischen Ländern. Damals hatten alle westlichen bürgerlichen Führer*innen, die sich heute als die größten Verfechter der Demokratie und der Rechte der Völker gerieren, absolut nichts dazu gesagt.

10°/ Die Dynamik der Regionalmächte ist in diesem Rahmen ebenfalls nicht zu vernachlässigen. So hat die Türkei unter Erdogan, die sich in den letzten Jahren Russland angenähert hatte, insbesondere durch ihre Zusammenarbeit im Syrien-Konflikt, die ihrer Meinung nach passive Haltung der NATO gegenüber der russischen Invasion angeprangert und die Bosporus-Meerenge für russische Schiffe sperren lassen. Im Gegensatz dazu stellte sich der Iran, der ebenfalls an der Seite Russlands und der Türkei im Syrien-Konflikt kämpft, hinter Moskau. Im Rahmen seiner Rivalität mit der Türkei versucht auch Griechenland, sich einen Vorteil zu verschaffen und als der engagierteste Partner des US-Imperialismus in der Region zu erscheinen, indem es Schlüsselflughäfen für mögliche NATO-Luftangriffe zur Verfügung stellt und Waffen an die ukrainische Armee liefert.

In diesem Spielchen des globalen Imperialismus und der Regionalmächte können sich so vermeintlich verfeindete Lager kurzzeitig auf der selben Seite wiederfinden, wenn es darum geht, ihre finanziellen und wirtschaftlichen Interessen zu wahren. So verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 28. Februar mit Unterstützung Russlands eine Resolution, mit der das Waffenembargo gegen den Jemen auf alle Houthi-Rebellen ausgeweitet wurde. Diese Resolution ist ein Blankoscheck für die von Jemen und Saudi-Arabien angeführte Koalition, die von Ländern wie dem spanischen Staat oder Frankreich bereits Waffen erhalten.

Diese Abstimmung ist ein weiterer Beweis dafür, dass die imperialistischen Mächte des Westens oder Russlands zusammen mit den Regionalmächten einen grundsätzlich konterrevolutionären Bogen spannen.

10°/ All diese Ereignisse zeigen die Aktualität der Theorie der permanenten Revolution. In der imperialistischen Epoche sind die bürgerlich-demokratischen Aufgaben untrennbar mit der sozialistischen Revolution verbunden. „Für die Länder mit rückständiger bürgerlicher Entwicklung und insbesondere für die kolonialen und halbkolonialen Länder bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die wahre und vollständige Lösung ihrer demokratischen und nationalen Befreiungsaufgaben nur die Diktatur des Proletariats sein kann, die die Führung der unterdrückten Nation, vor allem ihrer Bauernmassen, übernimmt.[9] Mehr denn je gilt, was Trotzki im April 1939 schrieb: „Wir brauchen eine klare und präzise Losung, die der neuen Situation entspricht. Meiner Meinung nach gibt es derzeit nur eine solche Losung: Für eine geeinte, freie und unabhängige sowjetische, Arbeiter- und Bauernukraine! Dieses Programm steht zunächst einmal in unvereinbarem Gegensatz zu den Interessen der drei imperialistischen Mächte Polen, Rumänien und Ungarn. Nur die unverbesserlichen pazifistischen Dummköpfe glauben, dass die Emanzipation und Vereinigung der Ukraine durch friedliche diplomatische Mittel, Volksabstimmungen, Völkerbundsbeschlüsse usw. erreicht werden kann. Natürlich sind sie alle nicht besser als andere, all diese “Nationalisten”, die vorschlagen, die ukrainische Frage zu lösen, indem sie einen Imperialismus gegen den anderen ausspielen. Hitler erteilte diesen Abenteurern eine unbezahlbare Lektion, indem er die Subkarpatenukraine (für wie lange?) den Ungarn übergab, die sich beeilten, viele dieser selbstbewussten Ukrainer zu massakrieren.

Sofern der Ausgang von der militärischen Stärke der imperialistischen Staaten abhängt, kann der Sieg des einen oder anderen Blocks nur eine weitere Zerstückelung und eine noch brutalere Versklavung des ukrainischen Volkes bedeuten. Das Programm der ukrainischen Unabhängigkeit in der Epoche des Imperialismus ist direkt und unauflöslich mit dem Programm der proletarischen Revolution verbunden. Es wäre ein Verbrechen, in dieser Hinsicht irgendwelche Illusionen zu hegen. (…) Nach all diesen Erfahrungen gibt es nur noch politische Leichen, die weiterhin ihre Hoffnungen auf eine der Fraktionen der ukrainischen Bourgeoisie als Führer des nationalen Kampfes für die Emanzipation setzen. Nur das ukrainische Proletariat ist in der Lage, diese Aufgabe – die ihrem Wesen nach revolutionär ist – nicht nur zu lösen, sondern auch eine Initiative zu ergreifen, um sie zu lösen. Das Proletariat und das Proletariat allein kann die Bauernmassen und die authentisch revolutionäre nationale Intelligenz um sich scharen. (…) Der kommende Krieg wird eine günstige Atmosphäre für alle Arten von Abenteurern, Wundertätern und Suchern des Goldenen Vlieses schaffen. Diese Herren, die es besonders lieben, sich an nationalen Fragen die Hände zu wärmen, dürfen nicht bis in Schussweite an die Arbeiterbewegung herangelassen werden. Nicht der kleinste Kompromiss mit dem Imperialismus, sei er faschistisch oder demokratisch! Nicht das kleinste Zugeständnis an die ukrainischen Nationalisten, seien sie reaktionär-klerikal oder pazifistisch-liberal! Keine Volksfronten! Volle Unabhängigkeit der proletarischen Partei als Avantgarde der Arbeiter![10]

11°/ Nach diesen Klassenkriterien müssen revolutionäre Marxist*innen die Situation und die sich daraus ergebenden Aufgaben beurteilen.

Es ist unbestreitbar, dass sich heute in der Ukraine ein Volkswiderstand gegen die russische Invasion entwickelt. Selbst in der mehrheitlich russischsprachigen Stadt Berdiansk rufen Demonstrant*innen den russischen Soldat*innen zu, sie sollten “nach Hause gehen”. Als revolutionäre Marxist*innen müssen wir unsere uneingeschränkte Solidarität mit diesem Volkswiderstand zum Ausdruck bringen.

Dies darf uns jedoch nicht dazu verleiten, den Klassencharakter der Regierung Zelensky zu verschleiern oder die Tatsache zu verbergen, dass durch diesen Krieg zwei imperialistische Blöcke gegeneinander stehen. Putins ultra-aggressive Politik hat die ukrainische Regierung noch weiter in die Arme des westlichen Imperialismus getrieben. Heute ist die ukrainische Armee, die von allen europäischen Ländern und den USA überbewaffnet wird, noch mehr dazu verurteilt, nur ein Handlanger der NATO zu werden.

Deshalb ist es für revolutionäre Marxist*innen unmöglich, Waffenlieferungen der westlichen Staaten an den ukrainischen Staat zu fordern, denn Waffenlieferungen an die Ukraine werden weder zur Befriedung der Region noch zur Stärkung der Klassenpositionen in der Ukraine beitragen. Im Gegenteil, es bedeutet, die Kriegsspirale in der Region zu verschärfen, wofür die ukrainischen Zivilisten mit ihrem Leben bezahlen werden und die Volksklassen in Europa mit Inflations- und Sparpolitik, nur um dabei zu helfen, die imperialistischen Interessen der USA und der NATO zu stärken. Uns wird entgegengehalten, dass die ukrainische Armee ohne die Waffen des Westens dem Untergang geweiht ist, während eine Niederlage Putins einen Stützpunkt für revolutionäre Kämpfe darstellen würde. Dieses Argument ist mehr als fragwürdig. Seit 2011 haben die westlichen Staaten Ströme von Waffen nach Libyen und später Syrien gelenkt: Hat das der Entwicklung der revolutionären Kämpfe dort in irgendeiner Weise geholfen? Ganz im Gegenteil: Die Einmischung der Imperialismen hat nur den reaktionärsten Kräften genutzt. In Libyen herrscht nun ein entsetzliches Chaos – eines der Felder, auf denen sich der russische und der westliche Imperialismus bekriegen, und in Syrien ist das Regime von Baschar al-Assad noch immer an der Macht.

Was die Wirtschaftssanktionen betrifft, so müssen wir uns klar dagegen aussprechen, da sie in erster Linie auf die russische Arbeiter*innenklasse zurückfallen werden. Weit davon entfernt, die Bevölkerung vom Putin-Regime zu lösen, während tausende Russ*innen gegen den Krieg auf die Straße gehen, werden diese Sanktionen ein weiteres Argument für das Regime sein, um zu versuchen, die Bevölkerung wieder hinter sich zu vereinen.

12°/ Die erste Aufgabe der revolutionären Marxist*innen in einer Zeit, in der die militärischen Auseinandersetzungen zunehmen und die Gefahr eines allgemeinen Konflikts wächst, ist der Aufbau einer internationalen Bewegung gegen den Krieg und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dafür ist die Zunahme von Demonstrationen gegen den Krieg in Russland, die das Putin-Regime herausfordern, ein beträchtlicher Stützpunkt. Denn aus dem Herzen Russlands werden die Kräfte kommen, die Putins mörderische Offensive stoppen können.

Überall müssen wir Initiativen ergreifen, die es ermöglichen, die Ablehnung des imperialistischen Krieges zum Ausdruck zu bringen, wobei wir uns auf die internationale Erfahrung der Bewegung gegen den Krieg im Irak stützen müssen.

Die Losungen, die revolutionäre Kommunist*innen in einer solchen Antikriegsbewegung vertreten müssen, lauten wie folgt:

  • Nein zum imperialistischen Krieg in der Ukraine: Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!
  • Solidarität mit den Demonstrationen gegen den Krieg in Russland! Gegen ihre Unterdrückung: Fordern wir die Freilassung aller inhaftierten Demonstrant*innen!
  • Gegen imperialistische Einmischungen in der Ukraine! Abzug der NATO-Truppen aus Osteuropa und der Welt! Nein zu militärischer und wirtschaftlicher Eskalation!
  • Nein zur nationalen Einheit hinter unserem eigenen Imperialismus oder unserer eigenen Bourgeoisie!
  • Keinen Cent, keinen Soldaten, keine Waffe für den Krieg in der Ukraine. Gegen jede Intervention unserer eigenen Imperialismen!
  • Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller Flüchtlinge, unabhängig von ihrem Herkunftsland! Nein zur rassistischen Sortierung in “gute” und “schlechte” Migranten!

Diese Losungen müssen mit einer kompromisslosen Denunziation des pro-Putin-Campismus wie auch des pro-westlichen Campismus kombiniert werden. In Russland besteht die erste Aufgabe der Revolutionäre darin, gegen die russische Invasion der Ukraine zu kämpfen. In den westlichen imperialistischen Ländern muss das Bemühen, jede Intervention der NATO oder der EU zu blockieren, mit der Anklage der russischen Invasion der Ukraine einhergehen und auch mit der Anklage der Verbrechen, die diese Imperialismen in einer ganzen Reihe von Ländern begangen haben – sei es durch die europäischen Imperialismen oder den US-Imperialismus. In allen imperialistischen Ländern haben Revolutionäre die Pflicht, unermüdlich daran zu erinnern, dass „der Hauptfeind im eigenen Land steht“: Sie müssen daher die Machenschaften ihres eigenen Imperialismus anprangern, angefangen bei der ständig wachsenden Truppenansammlung an den russischen Grenzen und der Lieferung von Tonnen von Waffen in die Ukraine.

13°/ In der Frage der Unterstützung des ukrainischen Widerstands ist es entscheidend, vom Klassencharakter jeder der beteiligten Parteien auszugehen. Der ukrainische Staat ist ein kapitalistischer Staat, die Regierung Zelinsky und die ukrainische Armee sind de facto der NATO untergeordnet. In einer Situation, in der die Arbeiter*innenbewegung furchtbar geschwächt und in prowestliche und prorussische Kräfte gespalten ist, ist die Forderung nach Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat absolut keine Position, die die fortschrittlichen Kräfte stärken würde.

Die Rolle der revolutionären Marxist*innen besteht darin, jede mögliche imperialistische Intervention ihres „eigenen“ Landes zu blockieren, sei es direkt oder indirekt (einschließlich der Waffenlieferungen, die von zahlreichen Regierungen wie dem spanischen Staat, Deutschland, Dänemark usw. beschlossen wurden), und zu versuchen, Solidaritätsverbindungen mit den fortschrittlichen und proletarischen Kräften in der Ukraine und in Russland zu knüpfen. So ist die Positionierung der Organisation Sotsialnyi rukh, die fordert, “strategische Unternehmen zu verstaatlichen und das Eigentum der Milliardäre zu beschlagnahmen, um den Zugang der Öffentlichkeit zu Medikamenten, Transportmitteln, Wohnraum und Lebensmitteln zu gewährleisten”, ein erster Schritt, um antikapitalistische Forderungen zu skizzieren, die die Führung des Widerstands gegen die Regierung Zelensky herausfordern.

Wir sind nicht einverstanden mit dem Kommuniqué des Büros der Vierten Internationale, das die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland verteidigt. Für uns handelt es sich dabei um ein Nachgeben gegen den Druck zur nationalen Einheit in den westlichen Ländern.

14°/ Die zunehmenden Kriege werden als Vorwand für neue antisoziale, arbeiterfeindliche und sicherheitspolitische Pläne dienen. So hat Emmanuel Macron in Frankreich bereits angekündigt, den Militärhaushalt zu erhöhen, und gleichzeitig erklärt, dass “viele Wirtschaftssektoren leiden und leiden werden, entweder weil sie von Rohstoffimporten abhängig sind oder weil sie in diese Länder exportieren”. Die Kosten für lebensnotwendige Güter werden weiter explodieren. Diese Sparpläne und der Sozialabbau werden unweigerlich Widerstand hervorrufen. In all diesen Bewegungen, die ausbrechen werden, muss es die Aufgabe der revolutionären Marxist*innen sein, die völlige Unabhängigkeit von ihrer Bourgeoisie zu bewahren, indem sie die nationale Einheit ablehnen, und die soziale Frage mit der Kriegsfrage zu verbinden, um eine internationalistische Position des Kampfes gegen den Krieg zu entwickeln und so die Notwendigkeit der Revolution für eine Welt, die von den Imperialisten und ihren Kriegen befreit ist, wieder in den Mittelpunkt stellen zu können.


[1]https://news.gallup.com/poll/247976/world-low-ukrainians-confident-government.aspx

[2]https://www.ritimo.org/A-qui-profite-vraiment-la-creation-d-un-marche-des-terres-en-Ukraine

[3]https://www.ledevoir.com/monde/europe/552659/l-ukraine-se-prepare-a-une-victoire-desormais-probable-de-volodymyr-zelensky

[4]https://defence-ua.com/army_and_war/skilki_ptkr_javelin_ssha_peredali_ukrajini_novi_dani-5592.html und https://nv.ua/ukr/ukraine/events/dzhavelini-ukrajina-otrimala-vid-ssha-shche-300-ptrk-zhurnalist-50211334.html

[5]http://www.slate.fr/societe/au-nom-de-la-race-blanche/episode-4-terrorisme-extreme-droite-conflit-ukrainien-laboratoire-creuset-militarisme und https://www.streetpress.com/sujet/1472465929-donetskleaks-implication-extreme-droite-francaise-ukraine

[6]https://www.lemonde.fr/economie/article/2022/02/25/la-guerre-en-ukraine-ravive-la-crise-gaziere-dans-l-union-europeenne_6115238_3234.html

[7]https://www.lemonde.fr/idees/article/2022/03/01/l-economie-russe-n-est-jamais-parvenue-a-se-degager-de-la-rente-petroliere_6115716_3232.html

[8]https://theconversation.com/que-veulent-les-manifestants-en-russie-155173

[9]Trotsky, Die Permanente Revolution

[10]Trotsky, “Die Ukrainische Frage”, April 1939 (Hervorhebung hinzugefügt).

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