Gilbert Achcars „Memorandum zu einer radikal antiimperialistischen Position zum Krieg in der Ukraine“, das am 7. März auch auf der ISO-Webseite veröffentlicht wurde https://intersoz.org/ein-memorandum-zu-einer-radikal-antiimperialistischen-position-zum-krieg-in-der-ukraine/, polarisiert innerhalb der radikalen Linken, weil Achcar sich vehement für Waffenlieferungen an die Ukraine aus den NATO-Staaten einsetzt und Gegner dieser Position als „pseudolinker Anhänger des russischen Imperialismus“ bezeichnet.
Freundlich ausgedrückt mag man/frau es als „ambitiös“, bezeichnen, wenn Achcar meint, in einem Text von knapp anderthalb Seiten eine wahrlich komplexe Gemengelage aufarbeiten und auch noch angemessene Handlungsanleitungen liefern zu können. Der Text besteht aus zwei Teilen: dem „Prolog“, der eine Aufschlüsselung der Problemlage liefern soll, und sechs Handlungsvorschlägen, die sich Menschen zu Eigen machen sollen, die von Achcar das Zertifikat „guter Antiimperialist“ erhalten wollen.
Binsenweisheiten
Um es vorweg zu sagen. Ich wundere mich über das vom Autor an den Tag gelegte Selbstbewusstsein. Sein Problemaufriss enthält nicht einen einzigen Satz dazu, was sich konkret in den letzten Jahren im Verhältnis zwischen Ukraine und Russland zugetragen hat. Was seine sechs Handlungsanweisungen für „radikale Antiimperialisten“ angelangt, so sind drei davon absolute Binsenweisheiten für „radikale Antiimperialist*innen“.
Ich wüsste z. B. nicht, welche Antiimperialistin dem widersprechen würde, was Achcar in Forderung zwei formuliert:
„Wenn es, wo auch immer auf der Welt, einen Streit über die Zugehörigkeit eines Gebiets gibt – wie im aktuellen Fall der Krim oder der Provinzen in der Ostukraine –, halten wir es für inakzeptabel, den Konflikt mit roher Gewalt und dem Gesetz des Stärkeren zu lösen, sondern ausschließlich durch die freie Ausübung des Rechts auf demokratische Selbstbestimmung durch die betroffenen Menschen.“
Gleiches gilt für Achcars Forderung drei:
„Wir sind gegen die Forderung nach einer direkten militärischen Intervention einer imperialistischen Macht gegen eine andere, sei es durch den Einsatz von Bodentruppen oder die Verhängung einer Flugverbotszone aus der Ferne. (…) Eine dieser Mächte zu ermutigen, die Auseinandersetzung mit einer anderen Macht zu suchen, hieße, sich einen Weltkrieg zwischen Atommächten zu wünschen.“
In Bezug auf die Achcars Forderung fünf mag es vielleicht gewisse Meinungsunterschiede geben. Aber da Achcar sich nicht auf eine Position festlegt, ist er hier auch kein strenger Richter:
„Wir haben keine allgemeingültige Position zu Sanktionen. (…) Die westlichen Mächte haben aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine eine Reihe neuer Sanktionen gegen Russland beschlossen. Einige davon werden vermutlich in der Tat den Handlungsspielraum von Putins autokratischem Regime bei der Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie einengen, während andere zulasten der russischen Bevölkerung gehen, ohne dem Regime oder seinen oligarchischen Spießgesellen wesentlich zu schaden. Aufgrund unserer Ablehnung der russischen Aggression sowie unserem Misstrauen gegenüber den westlichen imperialistischen Regierungen sollten wir westliche Sanktionen weder unterstützen noch deren Aufhebung fordern.“
Achcars Forderung sechs ist zweifellos richtig und wichtig. Sie sollte für alle Anti-Imperialist*innen ‒ und nicht nur für sie ‒ angesichts der Erfahrungen mit der Hetze gegen Flüchtlinge in den Jahren seit 2015 eine Selbstverständlichkeit sein
„Nicht zuletzt ist es von einem fortschrittlichen Standpunkt aus selbstverständlich, die Öffnung aller Grenzen für ukrainische Flüchtlinge zu fordern – sowie generell für alle Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, egal aus welchem Teil der Welt sie kommen. Die Pflicht zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen und die damit verbundenen Kosten müssen auf alle reichen Ländern fair verteilt werden. Darüber hinaus sollte dringend benötigte humanitäre Hilfe auch Binnenvertriebenen innerhalb der ukrainischen Grenzen zugutekommen.“
Bei Forderung eins erweckt Achcar den Eindruck, als ob hier ein tiefer Graben ihn von der Mehrzahl der Linken trennen würde:
„Es reicht nicht aus, an Russland zu appellieren, seine Angriffe einzustellen und „einen sofortigen Waffenstillstand und eine Rückkehr an den Verhandlungstisch“ zu fordern. (…) Ebenso sollten wir nicht nur ein Ende der Aggression, sondern auch den sofortigen und bedingungslosen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine fordern.“
Mir kommt es so vor, als würde Achcar zwanghaft Widersprüche konstruieren, wo es keine gibt. Ein sofortiger Waffenstillstand wäre unter den aktuellen Bedingungen zweifellos ein großer Fortschritt für die Menschen in der Ukraine. Auch wenn Achcars Forderung nach einem sofortigen Rückzugs der russischen Truppen richtig ist, so ist das für die praktische Arbeit kein Meinungsunterschied, der tiefe Gräben begründen sollte.
Eine echte Scheidelinie
Von den sechs von Achcar genannten Essentials einer „radikal antikapitalistischen Position zum Krieg in der Ukraine“ stellt einzig und allein Achcars vierte Forderung, die nach Waffenlieferungen an die Ukraine (auch und gerade durch die NATO) eine ernsthafte Trennungslinie dar. Achcar begründet die Berechtigung, ja Notwendigkeit von Waffenlieferungen, wie folgt:
„Wir sind für die bedingungslose Lieferung von Verteidigungswaffen an die Opfer jeglicher Aggression: im aktuellen Fall an die Ukraine, die die russische Invasion in ihr Territorium bekämpft. (…) Es ist die Pflicht von Internationalist*innen, denjenigen, die einen berechtigten Krieg führen, die Mittel für den Kampf gegen einen übermächtigen Aggressor in die Hand zu geben. Solche Lieferungen rundheraus abzulehnen, steht im Widerspruch zur grundsätzlichen Solidarität mit den Opfern.“
Diese Position von Achcar bekommt dadurch eine besondere Schärfe, dass Achcar all jene Linke, die mit seiner Position nicht konform gehen und der NATO und den USA eine Mitverantwortung für die Zuspitzung der Konflikte im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine geben, als „pseudolinke Anhänger*innen des russischen Imperialismus“ tituliert. Dabei schützt es nicht vor Achcars Verdikt, wenn man/frau klar und deutlich ausdrückt, dass Putin der Aggressor und alleinverantwortlich für den Krieg ist. Wer auch nur anmerkt, dass die NATO-Politik der offensiven Osterweiterung eine konfliktverschärfende Wirkung hat, gilt bei Achcar und seiner „Follower“-Gemeinde als Putin-Apologet.
Vom Saulus zum Paulus
Legen wir diese strengen Maßstäbe des Vordenkers an ihn selbst an, so war er bis zum 2. Februar 2022 selbst noch ein „Putin-Apologet“. Denn in einem „Jacobin“-Artikel vom 2. Februar 2022 mit der Überschrift „Biden und Putin spielen mit dem Feuer“ https://jacobin.de/artikel/biden-putin-spielen-mit-dem-feuer-ukraine-krise-nato-neuer-kalter-krieg-eskalation/ hatte er geschrieben, denen der Verfasser dieses Textes nur beipflichten kann:
„Die Machthaber der beiden Großmächte spielen mit dem Feuer. In Wladimir Putins Augen mag es gerade nur darum gehen, seine Truppen wie Dame und Turm auf einem Schachbrett in Stellung zu bringen, um den Gegner zum Rückzug seiner Figuren zu zwingen. Joe Biden mag seinerseits glauben, dass diese Krise eine Gelegenheit bietet, sein seit dem peinlich missglückten Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan stark angekratztes Image im In- und Ausland aufzupolieren. Boris Johnson denkt vielleicht, dass die anmaßende Prahlerei seiner Regierung von seinen innenpolitischen Problemen ablenkt. Tatsache bleibt jedoch, dass die Ereignisse in einer so angespannten Lage und zumal zum Takt der Kriegstrommeln schnell eine Eigendynamik entwickeln können, die sich der Kontrolle der einzelnen Akteure entzieht und eine Explosion auszulösen droht, die keiner der Beteiligten ursprünglich beabsichtigt hatte.“
Weiter heißt es im gleichen Text:
„Was wir heute erleben, geht auf Entwicklungen zurück, für die in erster Linie der mächtigste Staat der Welt verantwortlich ist: die USA. Seit die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow zerfiel, und mehr noch unter dem ersten Präsidenten des postsowjetischen Russlands, Boris Jelzin, verhielt sich Washington wie ein gnadenloser Sieger, der verhindern will, dass sein besiegter Gegner jemals wieder auf die Beine kommt. Das sah zum Beispiel so aus, dass die von den USA dominierte NATO um Länder erweitert wurde, die zuvor dem von der Sowjetunion dominierten Warschauer Pakt angehört hatten, anstatt das westliche Bündnis parallel zu seinem östlichen Pendant aufzulösen. Darüber hinaus diktierte der Westen der bürokratischen Wirtschaft Russlands eine ,Schocktherapieʻ, die eine massive sozioökonomische Krise und letztlich einen Kollaps auslöste.“
Unklar bleibt wann, wie und warum sich in der Folgezeit Achcar vom Saulus zum Paulus gewandelt hat.
Aber zurück zu Achcars „Memorandum“.
Im „Memorandum“ befürwortet Achcar lediglich die Lieferung von „Verteidigungswaffen“. Allerdings hat sich Achcar nirgends die Mühe gemacht, dazulegen, was für ihn „Verteidigungswaffen“ sind – und was nicht. Aber egal. Inzwischen verlangt Selenskyj ohnehin nicht mehr nur „Verteidigungswaffen“. Er will jetzt vor allem „schwere Waffen“, also Offensivwaffen, mit denen er glaubt, den Krieg gewinnen zu können. Und die Diskussion in den NATO Staaten dreht sich fast ausschließlich darum, wie man möglichst schnell mögliche viele von diesen „schweren Waffen“ in die Ukraine schaffen kann. Von Achcar und seinen „Followern“ gibt es meines Wissens keine Aussagen zu dieser veränderten Gemengelage. Der Verdacht liegt nahe, dass das Schweigen von Achcar zur Frage der Lieferung „schwerer Waffen“ durch Biden, Johnson und die Bundesrepublik (auf dem Weg des Ringtausches) als Zustimmung zu interpretieren ist.
Selenskyj = Vietcong?
Zumindest zu dem Zeitpunkt als Achcar sein „Memorandum“ veröffentlichte, hatte er wohl noch Zweifel, ob das mit den Waffenlieferungen so gut ankommt. Offenbar um seiner Position mehr Überzeugungskraft zu verschaffen, bemühte ein vermeintliches historisches Vorbild.
„Kein verantwortungsbewusster Antiimperialist, keine verantwortungsbewusste Antiimperialistin ist je für einen Eintritt der UdSSR oder China in den Vietnamkrieg gegen die Invasion der USA eingetreten, aber alle radikalen Antiimperialist:innen waren für die Aufstockung von Waffenlieferungen Moskaus und Pekings an den vietnamesischen Widerstand.“
Diese Analogie ist absurd, da die Vietcong-Partisan:innen das Gegenteil von ukrainischen Armeeeinheiten, Milizen oder gar Bataillonen à la Asow waren. Es handelte sich beim Vietcong um eine Befreiungsbewegung, die für soziale Gerechtigkeit kämpfte und ihr Land vom Zugriff des Imperialismus befreien wollte. Deswegen war die Forderung nach massiver Unterstützung des Vietcong durch die Sowjetunion und die Volksrepublik China seitens der Vietnam-Solidarität richtig. Beim aktuellen ukrainischen Regime handelt es weder um eines, das sich für soziale Gerechtigkeit engagiert noch eines, das sich sonderlich der Pflege der Demokratie verschrieben hat. Die Wirtschaftsstruktur der Ukraine ist eine bizarre Mischung aus Neoliberalismus und Oligarchenwirtschaft. Die politische Opposition ist in der Ukraine weitgehend illegal. Das politische Klima ist seit 2014 von einem deutlich antirussischen Nationalismus geprägt. Neonazis spielen zwar nicht im Parlament, aber in den diversen Abteilungen der „Sicherheitsorgane“ eine große Rolle.
Sicher hat selbst so ein reaktionäres Regime wie das der Ukraine das gute Recht, sich gegen den Angriff eines reaktionären übermächtigen Nachbars zu verteidigen. Aber es ist doch reichlich weit hergeholt, wenn Achcar unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker Waffenlieferungen an ein neoliberales reaktionäres Regime eine emanzipatorische Wirkung andichten will. Eher ist vom Gegenteil auszugehen. Über die Verwendung und den Einsatz der Waffen verfügen eben nicht irgendwelche anarchistische Freiwilligengruppen (falls es die überhaupt gibt), sondern die Kommandostrukturen des ukrainischen Militärs, die seit 2014 intensiv von Militärberatern aus USA, Großbritannien und Kanada gedrillt wurden. Schlimmer noch. Ein Teil der Waffen gerät mit großer Sicherheit in die Hände der Neonazis von den Asow- Bataillonen sowie der in die Hände der auf bis auf 100 000 Kämpfern geschätzten ausländischen Legionärseinheiten, unter denen Rechtsradikale keine Seltenheit sind.
Das ist eine ganze Reihe von Fragen, zu denen die „Follower“ von Achcar, die sich gerne als Gralshüter der Moral präsentieren, verhalten sollten.