Analyse des globalen Kapitalismus
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Imperialismustheorie 2020

Analyse des globalen Kapitalismus

Von Phil Hearse und William I. Robinson | 16.10.2020

Seit einiger Zeit wird die Debatte um das was Imperialismus heute ausmacht wieder vermehrt geführt. Socialist Resistance (SR) und Mutiny sind britische Organisationen, die an einem Prozess zur Bildung einer breiteren Organisation beteiligt sind, die vorläufig den Namen Anti-Capitalist Resistance (A*CR) trägt. In den letzten sechs Monaten hat Mutiny einen Dialog mit dem US-amerikanischen marxistischen Theoretiker William I. Robinson geführt. Phil Hearse, ein Mitglied von Mutiny und Unterstützer von Socialist Resistance, hat für Mitglieder von SR eine „Präsentation“ von Robinson erarbeitet; darin spricht er sich nachdrücklich für einige seiner Ideen aus und äußerte er gleichzeitig Bedenken in Bezug auf Robinsons Analyse des Imperialismus und seine Vorstellungen von einer „transnationalen kapitalistischen Klasse“. Wir veröffentlichen hier den Text von Phil Hearse zusammen mit einer Erwiderung von William I. Robinson.

Phil Hearse

“Annahmen” von William I. Robinson

„Die Eskalation der weltweiten Ungleichheiten spiegelt eine Krise des globalen Kapitalismus wider, eine sowohl strukturelle (Überakkumulationskrise) als auch politische Krise (Hegemoniekrise). Die kapitalistische Globalisierung hat frühere Umverteilungsvereinbarungen auf der Ebene des Nationalstaates untergraben, so dass eine beispiellose globale soziale Polarisierung ausgelöst und der Überakkumulationsdruck verschärft worden ist. Die transnationale Kapitalistenklasse hat zu verschiedenen Mechanismen gegriffen, um die Akkumulation angesichts der Stagnation aufrechtzuerhalten: Finanzspekulation, Ausplünderung von öffentlichen Finanzen und militarisierte Akkumulation. Die Digitalisierung treibt eine neue kapitalistische Weltumstrukturierung voran, die zu einer verstärkten Prekarisierung und zur Ausweitung des Arbeitskräfteüberschusses bzw. der überschüssigen Menschen führt. Diese Prekarisierung betrifft auch kognitive Arbeiter*innen, die in dem Maße atomisiert und isoliert sind, wie der Arbeitsprozess individualisiert worden ist; das stellt das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und die Solidarität zwischen den vielschichtigen Angehörigen der globalen Arbeiter*innenklasse vor neue Herausforderungen. Die Krise birgt die Gefahr eines Faschismus des 21. Jahrhunderts und eines globalen Polizeistaats, aber auch neue Möglichkeiten für emanzipatorische Projekte mit sich. Ein emanzipatorisches Projekt muss die überschüssigen Menschen und ihre Kämpfe an den Rändern und an den Punkten der sozialen Reproduktion mit Arbeiter*innen zusammenbringen, die unter prekären Arbeitsverhältnissen in die Kreisläufe des globalen Kapitals eingegliedert sind.“[i]

Mit diesem Artikel möchte ich den US-amerikanischen marxistischen Theoretiker William I. Robinson (im Folgenden: WIR), der an der University of California in Santa Barbara lehrt, und insbesondere sein wichtiges zeitgenössisches Werk vorstellen. Ich bin der Meinung, dass er eine Reihe von äußerst aussagekräftigen und anregenden Einsichten in die Funktionsweise der gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaft und Politik vorgelegt hat, mit denen sich Marxist*innen auseinandersetzen und die sie in ihr Denken integrieren müssen. Aber ich habe auch Vorbehalte, die ich weiter unten anreiße, insbesondere gegenüber der Vorstellung, wir würden uns in einer „post-imperialistischen“ Phase befinden.

In den letzten Monaten hat Mutiny[ii] einen wichtigen und fruchtbaren Dialog mit WIR entwickelt. Er hat ein ausgezeichnetes Webinar über das Virus und die Krise durchgeführt, das weiter zur Verfügung steht, ebenso wie einige seiner Artikel.[iii] Wenn, wie es jetzt durchaus möglich erscheint, Socialist Resistance (SR) und Mutiny Teil der breiteren Formation Anti-Capitalist Resistance[iv] werden, wird die neue Organisation als ganze diesen Dialog hoffentlich fortsetzen, natürlich ohne dass jemand dazu verpflichtet wird, seinem theoretischen Rahmen zuzustimmen.[v]

Die Tradition von Ernest Mandel

Wahrscheinlich sind recht viele Genoss*innen von SR (aber bei weitem nicht alle) in der theoretischen Tradition von Ernest Mandel ausgebildet worden, und viele dürften sich als Teil davon betrachten. Das soll nicht heißen, dass politische Ökonomen aus anderen Traditionen, wie Geoff Pilling und Bob Sutcliffe, keinen Beitrag geleistet hätten. Das haben sie durchaus, aber nicht in dem gleichen Umfang wie Mandel. Einige von uns haben sich, nur halb im Scherz, als „Mandelistas“ bezeichnet. Ich betrachte mich selbst als Teil dieser politischen Tradition, aber es scheint mir offensichtlich, dass das theoretische Erbe von Mandel nicht ausreicht, um die Dynamik des heutigen Weltkapitalismus zu erfassen.[vi]

Mandel befand sich ungefähr in der Zeit von 1965 bis 1985 auf dem Höhepunkt seiner Kräfte. 1967 veröffentlichte er The Formation of the Economic Thought of Karl Marx (eines seiner besten Bücher), gefolgt von Europe versus America? im Jahr 1969. In den 1970er Jahren veröffentlichte er eine Reihe von Büchern ‒ Late Capitalism, The Second Slump, Long Waves of Capitalist Accumulation, From Stalinism to Eurocommunism, die Serie der NLR-Interviews, die in new left review veröffentlicht und dann in dem Band Revolutionary Marxism Today gesammelt wurden, ‒ und einen wahren Berg von längeren Artikeln, Broschüren und Rezensionen sowie einigen kleineren Büchern. Damals war ich absolut davon überzeugt, dass wir Mandelistas bei der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und auch des stalinistischen Ostens an vorderster Front stehen. Mandel war auch führend an der Diskussion über sozialistische Demokratie beteiligt.[vii] Alles in allem ein außerordentlicher Output eines Einzelnen, der sich in der gleichen Zeit mit Haut und Haar völlig für revolutionäre Politik engagierte.[viii]

Nun gibt es eine ganze Reihe Entwicklungen von enormer Tragweite, die Mandel unmöglich im Voraus theoretisieren konnte. Seine etwas umfangreichere Broschüre Introduction to Marxist Economic Theory (1967), von der Hunderttausende von Exemplaren in Dutzenden von Sprachen verkauft wurden, wurde 20 Jahre vor dem Aufkommen des Neoliberalismus veröffentlicht und zielt in erster Linie darauf ab, keynesianische Ideen zu widerlegen. Dasselbe gilt für Late Capitalism, wobei dieses Werk natürlich mit einer umfassenden Darlegung seiner Theorie der langen Wellen untermauert ist, die er von Kondratieff übernommen und abgewandelt hat ‒ eine Theorie, die perfekt zu dem Einsetzen der Krise des keynesianisch-fordistischen Akkumulationsregimes aus der Nachkriegszeit 1974/75 zu passen schien.

Die Globalisierung hat sich nach Ernests Tod massiv entwickelt, mit den darauf folgenden gewaltigen Umgestaltungen der Produktion, des Konsums und der internationalen Arbeiterklasse; der Aufstieg Chinas zur Weltwirtschaftssupermacht trat nach seiner Zeit ein; er starb sechs Jahre vor der Katastrophe von 9/11 und der Entfesselung des weltweiten „Kriegs gegen den Terror“ und der Kriege im Irak, in Afghanistan und anderswo; obwohl er sich der Umweltkrise sehr bewusst war, erlebte er den gegenwärtigen ökologischen Kollaps nicht mehr; er starb, bevor das Internet zum zentralen Element des Kapitalismus wurde, und erlebte die gegenwärtige digitalisierte Phase des internationalen Kapitalismus nicht mehr. Und wie die meisten seiner (männlichen) Generation wusste er sich nicht voll und ganz positiv auf die strategische Bedeutung der Frauenbefreiung für den antikapitalistischen Kampf und die sozialistische Zukunft zu beziehen.[ix]

Mandel war sich der Finanzialisierung des Weltkapitalismus sehr bewusst und sah tatsächlich die Wahrscheinlichkeit von Krisen des Typs 2007/2008 voraus. Er verstand die Gefahren, die von der radikalen Rechten ausgingen und die sich aus weit verbreiteten Niederlagen der Arbeiterklasse ergeben würden, und das Ausmaß dieser Niederlagen enttäuschte ihn bitter, ebenso wie das Ergebnis in Russland und Osteuropa. Gegen Ende seines Lebens hatte er sich in Bezug auf die Perestroika schwer getäuscht (wie viele von uns) und lehnte es rundheraus ab, die Möglichkeit einer kapitalistischen Restauration in Betracht zu ziehen.

Neue Probleme, neue Realitäten werfen unweigerlich neue theoretische Konzepte auf, die uns veranlassen, den bestehenden theoretischen Korpus zu ergänzen oder zu modifizieren. Ernest hätte dem von ganzem Herzen zugestimmt.

So wurde Mandels Denken über die Umwelt durch die Ausarbeitungen von Michel Löwy, Alan Thornett und John Bellamy Foster stark verbessert. Foster hat zu einer Reihe von Themen Beiträge geleistat. Menschen aus verschiedenen Traditionen haben seit Mandels Tod zum revolutionären Marxismus beigetragen. Das ist unausweichlich.

Gerade ist William I. Robinsons neues Buch Global Police State erschienen.[x] Angesichts der Angriffe von zentral angeleiteten „Federal Agents“ (in Wirklichkeit Beamt*innen der „U. S. Border Patrol“) auf Demonstrant*innen in Portland, des Versuchs, kulturellen Völkermords an der uighurischen Bevölkerung in der Provinz Xinjiang zu begehen, des Versuchs, die Demokratiebewegung in Hongkong zu zerschlagen, und der globalen Wende von rechtsradikalen Regierungen weltweit zur Repression sind die Ideen in Global Police State hochaktuell. Sie sind aber Teil einer Argumentationskette über den globalen Kapitalismus, die WIR entwickelt hat.

Eine wesentliche Grundlage seiner Argumentation ist, die Wirtschaftskrise, die durch die Covid-19-Pandemie massiv verstärkt wurde, sei in Wirklichkeit eine Krise der kapitalistischen Überakkumulation und „Quantitative Easing“ [expansive Geldpolitik von Zentralbanken durch Ankauf von meist langfristigen privaten oder öffentlichen Wertpapieren bei Geschäftsbanken] habe einen Schuldenberg geschaffen hat, der unweigerlich zusammenbrechen werde. Überakkumulation und Unterkonsum sind in die DNA der neoliberalen Phase des Kapitalismus eingebaut. In der gegenwärtigen Phase verschmelzen die Krise der Umwelt, des Virus und der Wirtschaft zu einer einzigen Krise, die der radikalen Rechten viele Öffnungen bietet ‒ aber auch Chancen für „Befreiungsprojekte“, sprich: für die Linke und die Volksbewegungen.

2017, eine ganze Weile vor der Pandemie, hat WIR geäußert:

„Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass die Erholung nur von kurzer Dauer sein wird und dass sich eine weitere Krise am Horizont abzeichnet. Die strukturellen Rahmenbedingungen, die die Weltwirtschaftskrise 2008 ausgelöst haben, sind nach wie vor gegeben, und eine neue Runde der Umstrukturierung der Weltwirtschaft, die jetzt im Gange ist, wird sie wahrscheinlich noch verschärfen. Zu diesen Bedingungen gehören Ungleichheit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß, öffentliche und private Verschuldung und Finanzspekulationen. Eine neue Krise könnte durch das Platzen der gegenwärtigen Aktienmarktblase, insbesondere im High-Tech-Sektor, durch Zahlungsausfälle bei Haushalts- oder Staatsschulden oder durch den Ausbruch eines neuen internationalen militärischen Konflikts ausgelöst werden.“

WIR argumentiert, dass wir jetzt in eine neue Ära eintreten, die Ära des „digitalen Kapitalismus“, die er als „vierte industrielle Revolution“ bezeichnet. Kommunikation, Produktion und Konsum basieren mehr und mehr auf digitaler Technologie. Er sagt:

Einwanderungskontrolle und polizeiliche Überwachung ist eine Form von Disziplinierung der Arbeitenden…

„Der Technologiesektor steht heute an der Spitze der kapitalistischen Globalisierung und treibt die Digitalisierung der gesamten Weltwirtschaft voran. Karl Marx hat im Kommunistischen Manifest bekanntlich erklärt, dass unter dem vom Kapitalismus getriebenen schwindelerregenden Tempo ,alles Ständische und Stehende verdampftʻ. Nun steht die Weltwirtschaft am Rande einer weiteren Periode massiver Umstrukturierungen. Im Mittelpunkt dieser Umstrukturierung steht die digitale Wirtschaft, die auf fortschrittlicheren Informationstechnologien, auf der Sammlung, Verarbeitung und Analyse von Daten und auf der Anwendung der Digitalisierung auf jeden Aspekt der globalen Gesellschaft, einschließlich Krieg und Unterdrückung, basiert. (…) Während der Technologiesektor, der diese neue Revolution vorantreibt, nur einen kleinen Teil des weltweiten Bruttosozialprodukts ausmacht, umfasst die Digitalisierung die gesamte globale Wirtschaft, von der industriellen Produktion über das Finanzwesen bis hin zu den Dienstleistungen, und zwar sowohl im formellen als auch im informellen Sektor. Sie ist von zentraler Bedeutung für alle Prozesse im Zusammenhang mit der globalen Wirtschaft, von der Kontrolle und Auslagerung von Arbeiter*innen, der Flexibilität der Produktionsprozesse, den globalen Finanzströmen, der Koordination globaler Lieferketten, Untervergabe und Outsourcing bis zu Aktenführung, Marketing und Verkauf.“[xi]

Die Tatsache, dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage ist, für die Bedürfnisse von Milliarden von Menschen zu sorgen, erfordert immer repressivere Formen der sozialen Kontrolle in Form eines globalen Polizeistaates.

Eine Folge des digitalen Kapitalismus wird die Vernichtung von Millionen von mehr oder weniger stabilen Arbeitsplätzen auf internationaler Ebene sein, die durch viel weniger, hauptsächlich gering qualifizierte, unbeständige Arbeitsplätze ersetzt werden. Man denke an Amazon. Der digitale Kapitalismus wird den Prozess der Schaffung eines Lumpen-Prekariats beschleunigen, eines riesigen Reservoirs an „surplus humanity“. Einwanderungskontrolle und polizeiliche Überwachung ist eine Form von Disziplinierung der Arbeitenden, ein Weg, Arbeitskräfte nach Bedarf zu integrieren und dann auszuweisen, sowie Spaltung und Rassismus in der Arbeiterklasse und darüber hinaus zu fördern. Die Tatsache, dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage ist, für die Bedürfnisse von Milliarden von Menschen zu sorgen, erfordert immer repressivere Formen der sozialen Kontrolle in Form eines globalen Polizeistaates.

Während die kapitalistische Hegemonie zusammenbricht, intensivieren die herrschenden Gruppen in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt ihren Klassenkampf von oben.

Repressive soziale Kontrolle

Robinson sagt:

„In meinem neuen Buch The Global Police State warne ich vor den Gefahren eines globalen Polizeistaates und des Faschismus des 21. Jahrhunderts als Antwort auf die Krise des Kapitalismus und die Rebellion von unten. Der globale Kapitalismus befindet sich jetzt wohl in der schlimmsten Krise seiner Geschichte. Faschistische Kräfte, die das räuberische transnationale Kapital mit der reaktionären und repressiven Macht im Staat (einschließlich der bewaffneten Organe des Staates) und einer faschistischen Mobilisierung in der Zivilgesellschaft vereinen, sind weltweit auf dem Vormarsch. Trump, selbst transnationaler Kapitalist, Rassist und Faschist, nutzt die Proteste gegen die Ermordung von George Floyd, um dieses Projekt auf eine neue Ebene zu heben, indem er vom Weißen Haus selbst aus die faschistische Mobilisierung in der US-Zivilgesellschaft anstachelt und mit einer qualitativen Eskalation des Polizeistaates droht.
Die neuen US-Braunhemden ‒ eine Anspielung auf den ursprünglichen paramilitärischen Flügel der Nazi-Partei in den Jahren vor der faschistischen Machtübernahme ‒ sind in den weißen nationalistischen Milizen, den Nazi- und Klan-Gruppen, einwandererfeindlichen Organisationen, den Boogaloos (die offen erklären, dass es ihr Ziel ist, einen Bürgerkrieg zu entfachen[xii]), dem „patriot movement“ und Bewegungen gegen den Lockdown sowie in einem länger werdenden Rattenschwanz von rechtsextremen und Alt-Right-Gruppie­rungen organisiert. Sie sind schwer bewaffnet und mobilisieren in nahezu perfekter Übereinstimmung mit dem rechtsextremen Flügel der Republikanischen Partei, der diese Partei seit längerem mit Beschlag belegt und in eine Partei der äußersten Reaktion umgewandelt hat, für Konfrontationen.
Während die kapitalistische Hegemonie zusammenbricht, intensivieren die herrschenden Gruppen in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt ihren Klassenkampf von oben, indem sie den globalen Polizeistaat ausweiten, um die Massenunzufriedenheit von unten einzudämmen. Je mehr wir verstehen, wie dieser globale Polizeistaat in der Krise des globalen Kapitalismus mit ihren vielen Facetten wurzelt, desto effektiver können wir sein.
Der Begriff eines globalen Polizeistaates bezieht sich auf drei miteinander verbundene Entwicklungen. Erstens bezieht er sich auf die militarisierte Akkumulation oder Akkumulation durch Repression als Mittel der Kapitalakkumulation angesichts der Stagnation. Zweitens bezieht er sich auf die Systeme der sozialen Massenkontrolle und Repression zur Beherrschung der Unterdrückten. Und drittens bezieht er sich auf die zunehmende Hinwendung zu politischen Systemen, die als Faschismus des 21. Jahrhunderts und sogar als totalitär bezeichnet werden können. Mein neues Buch fasst ein Jahrzehnt der Forschung zu diesen drei Dimensionen des globalen Polizeistaates zusammen.“[xiii]

Der digitale Kapitalismus ist eng mit der militarisierten Akkumulation verbunden. Die riesigen Apparate von Armeen, Waffenproduktion, Gefängnissen, Grenzschutz, Militärbasen, Geheimdiensten und Überwachung sind ein wichtiger Versuch, Gewinne für Großkonzerne zu erwirtschaften, aber einer, der darauf hinausläuft, die Steuern der Nationalstaaten ‒ d. h. die Einkommen von Millionen von Menschen ‒ zu plündern. Das Militär ist vollständig in die Digitalisierung integriert. High-Tech-Firmen (wie überraschenderweise Facebook) sind massive Lieferanten für das Militär oder für die wichtigsten militärischen Großkonzerne wie Lockheed Martin, Raytheon und BAE Systems. Die wichtigsten Waffen sind heute High-Tech-Plattformen, und die wichtigsten militärischen Strategien, wie die Multi-Domain-Dominanz, sind vollständig integrierte computergestützte Systeme von immenser Komplexität und Reichweite.[xiv]

WIRs Darstellung der neuen globalen Krise, des digitalen Kapitalismus, der militarisierten Akkumulation, des Überschusses an Menschen, des modernen Faschismus und des globalen Polizeistaats scheint mir ein eng verflochtener Versuch zu sein, zentrale Aspekte der internationalen Realität zu erklären ‒ und die Gefahren und Chancen für die Volkskräfte. Aber diejenigen, die mit seinem Werk vertraut sind, werden bemerken, dass ich zwei zentrale Konzepte, die seinem theoretischen Rahmen zugrunde liegen, nicht erörtert habe ‒ die Idee einer transnationalen Kapitalistenklasse (transnational capitalist class, TCC) und die Vorstellung, dass wir uns in einer „post-imperialistischen“ Phase des Weltkapitalismus befinden. Diese Ideen scheinen mir eine übertriebene Hochrechnung realer Tendenzen zu sein, die der Globalisierung innewohnt.

Transnationaler Kapitalismus?

Gibt es wirklich eine transnationale Kapitalistenklasse? Sind die Großkonzerne wirklich transnational in dem Sinne, dass ihre Eigentümer*innen nicht hauptsächlich aus dem Staat kommen, in dem sie ihren Hauptsitz haben? Das glaube ich nicht. Natürlich ist die Realität komplex, und die meisten Großkonzerne haben bedeutende Investitionen von einer Reihe internationaler kapitalistischer Gruppen und Institutionen, auch wenn die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse manchmal schwer zu erkennen sind. WIR weist darauf hin, dass Trump protektionistische Maßnahmen ergriffen haben mag, um die amerikanische Stahlindustrie zu verteidigen, aber einige der Haupteigentümer sind Inder, keine Amerikaner. Aber ist das wirklich der Fall bei Apple, Facebook, Microsoft, Alphabet und Amazon? Oder bei den riesigen Rüstungskonzernen? Oder Walmart? Oder Pepsico? Oder McDonalds?

Bestenfalls müsste man sagen, dass einige Teile der transnationalen Kapitalistenklasse die dominanten und andere weniger mächtige Teilnehmer sind.

Ich denke, man kann von einer transnationalen Kapitalistenklasse im Sinne einer Verflechtung von Unternehmen und Gruppen von Kapitalisten sprechen, die im Weltmaßstab operieren, oft mit anderen zusammenarbeiten und internationale Geschäftsallianzen bilden. Aber man sehe sich die Beziehung zwischen Apple und Foxconn an, dem Unternehmen, das einen Großteil der Apple-Hardware in China herstellt. Beide sind an den gigantischen Gewinnen aus den Apple-Produkten beteiligt. Allerdings beträgt der jährliche Gewinn von Foxconn 3 % und der von Apple 27 %. Es steht außer Frage, wer die Zügel in der Hand hält.

Schauen wir uns die Bekleidungsindustrie in Bangladesch an, die von Dutzenden der profitabelsten Modehäuser der Welt genutzt wird. Sowohl die großen Unternehmen wie der in spanischem Besitz befindliche Megariese Zara als auch die bangladeschischen Kapitalisten, denen die Ausbeuterbetriebe gehören und die die Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigen, profitieren von dem erzeugten Mehrwert. Aber die Riesenkonzerne profitieren am meisten, sie erwirtschaften riesige Beträge mehr als ihre Partner in Bangladesch. Die lokalen Fabrikbesitzer exportieren in Wirklichkeit riesige Mengen an Arbeit und fungieren nicht als gleichberechtigte Mitgesellschafter, sondern als Kompradorenkapitalisten, die lokal von der imperialen Reichweite profitieren. Dasselbe lässt sich auch für die Nike-Schuhe sagen, die in Indonesien und Vietnam hergestellt werden. Und was ist mit den Eigentümern der Maquiladora-Fabriken an der US-mexikanischen Grenze ‒ gehören sie zur gleichen transnationalen kapitalistischen Klasse wie die Eigentümer der riesigen Konzerne, die die Herstellung und Montage in mexikanische Fabriken auslagern? Nicht wirklich. Der moderne Imperialismus ist eine Struktur in Dominanz, sowohl ökonomisch als auch politisch. Bestenfalls müsste man sagen, dass einige Teile der transnationalen Kapitalistenklasse die dominanten und andere weniger mächtige Teilnehmer sind.

Auf jeden Fall scheint es mir, dass der Aufstieg des Kapitalismus in Indien, China, Brasilien usw. und der Kapitalexport über eine Reihe von Ländern in einem sehr komplexen Geflecht Williams starker Punkt beim Thema Imperialismus ist. Ich denke aber, dass sein Argument in Bezug auf die politische Front, die Sphäre des zwischenstaatlichen Wettbewerbs, die diplomatische und militärische Front, viel schwächer ist. Wenn es in einer post-imperialistischen Welt eine transnationale Kapitalistenklasse gibt, muss man gleich eines feststellen: Die Schlüsselsektoren der Weltbourgeoise haben die Kontrolle über alle großen Staaten verloren. Insbesondere haben sie die Kontrolle über die Vereinigten Staaten verloren, denn der aggressive Nationalismus der Trump-Präsidentschaft weist offensichtlich weg von der Zusammenarbeit und den Interessen einer vermeintlich transnationalen kapitalistischen Klasse. Internationale Rahmenwerke, die als internationale „Regierungs“-Institutionen fungieren könnten, stehen entweder unter der Kontrolle der USA (IWF und Weltbank) oder werden schwächer (UNO und WHO) oder beides (WTO).

Oder betrachten wir es auf andere Weise. Geht es bei der chinesischen Initiative „One Belt, One Road“ darum, der transnationalen Kapitalistenklasse als Ganzer Chancen zu bieten, oder hauptsächlich darum, die wirtschaftliche und politische Macht des chinesischen Kapitalismus auszuweiten?[xv] [13] Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand.

Andererseits, was ist mit dem riesigen Imperium von Militärbasen der Vereinigten Staaten und bewaffneten Einsätzen weltweit? Ist dies ein Dienst, den die USA der transnationalen Kapitalistenklasse erweisen, oder ist es dazu da, um ‒ zusätzlich zu den Interessen des Kapitalismus im Allgemeinen ‒ die spezifischen Interessen der Vereinigten Staaten im Besonderen zu verteidigen? Ich glaube nicht, dass die letzten 25 Jahre, vom Projekt für ein New American Century über Irak, Afghanistan und den militärischen „Dreh- und Angelpunkt“ in Richtung Ostasien, ohne das Konzept des Imperialismus erklärt werden können.[xvi]

Ich möchte hier nicht auf die Einzelheiten von TCC und des Imperialismus eingehen. WIR argumentiert in dem Kapitel von Into the Tempest, in dem er sich nach 9/11 mit den Theorien des „neuen Imperialismus“ auseinandersetzt, ausführlich zu diesem Thema, andere haben ihm dazu erwidert, insbesondere John Bellamy Foster.[xvii] Siehe auch die Rezension von Bryan William Sculos, der im Wesentlichen die WIR-These verteidigt.[xviii] (Und es sei angemerkt, dass David Harvey, dessen Theorie vom „neuen Imperialismus“ WIR kritisiert, seine Position völlig geändert hat und nun im Wesentlichen Auffassungen vertritt, die denen von WIR ähnlich sind. Wofür er von einer Reihe von Autoren, insbesondere John Smith[xix], in unnötig schmähender Weise angegriffen worden ist).

Wie schon oft zu beobachten war, entwickeln verschiedene Theoretiker*innen parallele Rahmenwerke, die auf den ersten Blick scharf entgegengesetzt sind, sich aber vielfach als unterschiedliche Kodifizierungen derselben Phänomene herausstellen, ohne dass sich daraus signifikante politische Unterschiede ergeben. Die Arbeiten von WIR enthalten bemerkenswerte Ansätze für Erklärungen, die den Kampf gegen Rechtsextremismus und Faschismus, die Verteidigung der Demokratie und die Interessen der Millionen von „überschüssigen“ Menschen untermauern. In ihnen liegt der Akzent auf der Verteidigung der schikanierten und grausam ausgebeuteten „illegalen“ Einwanderer*innen in vielen Teilen der Welt. William I. Robinson ist auf eine Weise politisch engagiert, die den Perspektiven von Socialist Resistance und Mutiny ganz ähnlich ist. Wir können nur gewinnen, wenn wir mit ihm zusammenarbeiten und seine Ideen diskutieren. Ich möchte die Genoss*innen nachdrücklich dazu auffordern, seine hier verlinkten Artikel zu lesen und natürlich auch das Buch The Global Police State zu erwerben, wenn es herauskommt.

William I. Robinsons Antwort auf die „Annahmen“ von Phil Hearse

Ich kann nicht sagen, dass mir das Gesamtwerk von Ernest Mandel vertraut ist. Aber ich habe Late Capitalism in den 1980er Jahren gelesen, als ich in Nicaragua gelebt und gearbeitet habe. Es hatte einen enormen Einfluss auf mein Denken und mein Verständnis des Weltkapitalismus. Ich erinnere mich, wie Henry Ruiz, der besser unter seinem Guerillanamen „Modesto“ bekannt war, in jenen Jahren daran erinnerte, dass er während seiner Zeit als Guerilla-Kommandeur im bewaffneten Kampf zum Sturz der Somoza-Diktatur Late Capitalism immer in seinem Rucksack in den Bergen, wo seine Kolonne operierte, mit sich herumtrug. In den Pausen studierte er den Text, während er in seiner Hängematte ausgestreckt war. Modesto erhielt den Titel „Comandante de la Revolución“ und war Mitglied der Nationalen Direktion, der neunköpfigen kollektiven Führung der Partei [der FSLN]. Meines Erachtens war er immer der theoretisch Beschlagenste, Ehrlichste und Bescheidenste (deshalb war ja Modesto oder „der Bescheidene“ sein „Kampfname“). Durch ihn habe ich von Ernest Mandel und Late Capitalism erfahren.

Ich möchte hier ganz kurz auf die Fragen des Imperialismus und des globalen Kapitals in der Präsentation von Phil Hearse eingehen. Er benutzt den Begriff „Post-Imperialismus“, aber ich habe ihn nie benutzt und würde ihn auch nie benutzen; er stammt von Hardt und Negri (Empire), mit denen ich beträchtliche Differenzen habe. Meine Kritik ist spezifisch. Ich habe versucht, aus dem Blickwinkel der Theorie des globalen Kapitalismus für die Erklärung der Praktiken, die wir typischerweise mit dem Imperialismus in Verbindung bringen, eine kohärente theoretische Erklärung und empirische Belege zu liefern ‒ für US-Militärintervention, Dominanz internationaler Finanzagenturen, politische Diktate gegenüber schwächeren Staaten und Politik zur Erschließung von Märkten und Investitionsmöglichkeiten.

In der klassischen Imperialismustheorie wurde argumentiert, die kapitalistischen Klassen seien national organisiert und stünden in Konflikt und Rivalität miteinander. Wenn Lenins Analyse richtig war, dann würde jeder imperialistische Staat auf der ganzen Welt eine politische und militärische Strategie verfolgen, um Raum für „seine“ nationalen Kapitalisten zu öffnen und Raum für rivalisierende nationale kapitalistische Gruppen zu schließen. Dies ist historisch belegt. Die klassische Imperialismustheorie war meiner Ansicht nach eine genaue Analyse der Realität des Weltkapitalismus im späten 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert. Aber wenn dies auch im 21. Jahrhundert noch gelten sollte, würden wir erwarten, dass die US-Politik weltweit versucht, Raum für das „US-Kapital“ (was immer das bedeutet, und darauf werde ich weiter unten eingehen) zu öffnen und zu versuchen, ihn für rivalisierendes nationales Kapital zu schließen. Aber dies ist eindeutig nicht der Fall ‒ es gibt dafür buchstäblich keine Belege.

Wie ich im Kapitel „Beyond the Theory of Imperialism“ in Into the Tempest, das Phil in seinen Kommentaren erwähnt hat, angemerkt habe, luden die Vereinigten Staaten, um nur ein Beispiel zu nennen, sobald sie nach der Invasion von 2003 ihre Herrschaft im Irak erlangt hatten, Kapital aus der ganzen Welt ein, unter dem Schutz des US-Militärs in dem Land zu investieren. Die allererste Ölgesellschaft, die investierte, war die chinesische Staatsgesellschaft CNPC ‒ der angebliche Rivale. Es gibt viele andere Beispiele dieser Art, die für die Schlussfolgerung ausreichen, dass die politische und militärische Strategie der USA weniger darauf abzielt, die Interessen des „US“-Kapitals zu fördern, sondern darauf, die Welt für das transnationale Kapital zu öffnen. Man könnte dies sicherlich als „Imperialismus“ bezeichnen (und ich habe keine Einwände gegen den Begriff), aber es ist etwas anderes als die klassische Theorie. Und Trump und seine neoliberalen Vorgänger haben ausnahmslos die Vereinigten Staaten für Kapital aus der ganzen Welt geöffnet, um dort zu investieren.

Ich bin sicher, Phil stimmt zu, dass der offizielle staatliche Diskurs nicht für bare Münze genommen werden darf. Die Politik gegenüber China hat, abgesehen von dem Trump eigenem Eigensinn, über die Jahre versucht, China für das transnationale Kapital zu öffnen ‒ den staatlichen Zugriff auf das Finanzsystem zu brechen, ausländischen Investoren eine Beteiligung von mehr als 49 % zu ermöglichen, Handelsbeschränkungen zu beseitigen und so weiter.

Dies stimmt völlig mit meinem Argument überein, dass der US-Staat zum größten Teil handelt, um die Interessen des transnationalen Kapitals zu fördern. Phil weist auf die Kontrolle der USA über den IWF und die Weltbank hin. An sich bedeutet das nichts. Uns beschäftigt die Frage, was der US-Staat mit dieser Kontrolle macht. Beide Institutionen haben seit den 1980er Jahren unzweideutig dazu beigetragen, Länder für transnationales Kapital zu öffnen, ohne dass sie Kapital vom US-amerikanischen Territorium eine besondere Vergünstigung gewähren würden. Das Kapitel in Into the Tempest ist eine gekürzte Version des gleichnamigen Kapitels aus meinem 2014 erschienenen Buch Global Capitalism and the Crisis of Humanity, das ich erwähne, weil die längere Version theoretisch ausgearbeitet ist und eine ausführlichere empirische Diskussion bietet.

Wie auch immer wir Trumps Handlungen interpretieren, und wir haben in dieser Frage eindeutig einige Unterschiede, kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass diese Handlungen im Namen des Kapitals erfolgen. Die US-Handelskammer und sogar die Koch-Brüder sprachen sich gegen seine Zölle auf Stahl und andere Artikel aus ‒ sogar die großen Stahlproduzenten in den USA waren dagegen! Teil des Problems ist die Verschmelzung von Kapital und Staat. Der kapitalistische Staat geht in der Tat eine Einheit mit dem Kapital ein, aber wir können die beiden nicht zu einer Einheit zusammenschieben, so wie das Politische und das Ökonomische zwar in Einheit sind, aber nicht zu einer Einheit zusammengefasst werden können. Das Kapital hat die Maximierung der Akkumulation zum einzigen Ziel, während kapitalistische Staaten ein widersprüchliches Mandat haben: Sie müssen die Kapitalakkumulation fördern und auch die Legitimität und Reproduktion der Gesellschaftsordnung sichern. Die Krise verschärft diesen Widerspruch und treibt den kapitalistischen Staat dazu, seine politischen Auswirkungen nach außen zu verlagern, sei es, um Einwanderer*innen zum Sündenbock zu machen, sei es durch geopolitische Aggressionen. Wir können die Eskalation des geopolitischen Konflikts erklären, ohne die Existenz einer transnationalen Kapitalistenklasse zu negieren. Das Politische überdeterminiert in diesem Fall das Ökonomische.

Letzten Endes läuft die Debatte über den Imperialismus auf die Analyse des globalen Kapitals hinaus. Phils Beobachtung, dass Apple im globalen Tausch von Werten den Löwenanteil des Profits gegenüber Foxconn einnimmt, ist zutreffend. Aber sie ist insofern nebensächlich, als sie uns nichts über die Eigentumsstruktur von Apple sagt und darüber, was mit den Werten geschieht, die Apple sich ange­eignet hat.

Das transnationale Kapital ist nicht das einzige Kapital (das habe ich nie vertreten); es ist der hegemoniale Anteil des Kapitals im globalen Maßstab. Es gibt immer noch lokales, nationales und regionales Kapital, das mit dem transnationalen Kapital im Wettbewerb steht. Wenn die innerkapitalistischen Klassenverhältnisse Eigentumsverhältnisse sind, dann ist es meiner Ansicht nach einfach unmöglich, die Masse des transnationalen Kapitals auf den Kommandohöhen des globalen Kapitals in nationale Schubladen zu entwirren.

Phil wies darauf hin, dass die Inhaber von beauftragten Firmen in Bangladesch und anderswo in ihrer Beziehung zu den gigantischen transnationalen Konzernen eher Kompradorkapitalisten sind. Ich bin nicht anderer Meinung. Aber es gibt verschiedene Kapitalgruppen auf der ganzen Welt, und sie gehen nicht alle eine Kompradorenbeziehung mit dem globalen Kapital ein. Im Gegenteil, die Beweise sind einfach überwältigend, dass es bedeutende und wachsende Fraktionen des Kapitals in der ehemaligen Dritten Welt gibt, die sich in die Reihen der transnationalen Kapitalistenklasse integriert haben und alles andere als Kompradoren sind.

Ich glaube, ich habe in Into the Tempest den Fall des Tata-Konglomerats diskutiert, das Anfang der 2000er Jahre Range Rover, die Tesco-Kette, British Steel, Tetley Tea und andere historisch „britische“ transnationale Unternehmen kaufte. In Indien ansässige globale Kapitalisten beuten Tausende von Arbeiter*innen in Großbritannien aus. Aber diese Art transnationaler kapitalistischer Klassen- und Kapital-Arbeits-Beziehungen von Eigentum und Ausbeutung gibt es überall auf der Welt. Nach der Logik der klassischen Imperialismustheorie oder der Vorstellung von rivalisierenden nationalen Kapitalistenklassen würde der indische Staat Tata im Wettbewerb mit britischen Kapitalisten stützen.

Das erklärt natürlich nichts anderes, als dass es bestätigt, dass die klassische Imperialismustheorie überholt ist. Die Ironie hier sollte nicht verloren gehen, denn die riesigen Teeplantagen, die britische Kapitalisten in Indien errichteten, waren emblematische Symbole des britischen Kolonialprojekts. Ähnlich dominiert in Nordamerika die in Mexiko ansässige Carso-Gruppe[xx] den Dreistaatenmarkt für Maistortillas und verwandte Produkte. Diese Dominanz wurde durch die NAFTA ermöglicht. Die Theorie der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung ist meines Erachtens nicht veraltet, muss aber modifiziert werden, damit die ungleichmäßige Akkumulation nicht als gleichbedeutend mit nationalen Grenzen angesehen wird.

Ich weiß Phils Bemerkungen zu schätzen und freue mich auf weitere Diskussionen mit Genoss*innen von Socialist Resistance und Mutiny.

Genossenschaftliche Grüße
Wilhelm I. Robinson

Aus dem Englischen übersetzt von Tina Ress; bearbeitet und mit Literaturverzeichnis versehen von Wilfried Dubois

Diese Texte sind am 24. August 2020 unter der Überschrift „Political Theory: Analysing Global Capitalism“ auf der Website „International Viewpoint ‒ News and Analysis from the Fourth International“ veröffentlicht worden (http://internationalviewpoint.org/spip.php?article6779).

Phil Hearse ist ein englischer politischer Publizist und seit den 1970er Jahren Mitglied der britischen Sektion der Vierten Internationale. Er ist Doppelmitglied von Mutiny und Socialist Resistance. Er hat unter anderem einen Sammelband zu den Thesen von John Holloway über die Veränderung der Welt ohne Übernahme der Macht herausgegeben (Take the Power to Change the World: Globalisation and the Debate on Power, London: Socialist Resistance; Amsterdam: International Institute for Research and Education, 2007, Notebooks for Study and Research, Nr. 37) und einen Beitrag in dem Buch Creeping Fascism: What It Is & How to Fight It veröffentlicht (verfasst von Neil Faulkner unter Mitarbeit von Samir Dathi und Seema Syeda, 2. Ausg., London: Public Reading Rooms, 2019).

William I. Robinson (Jg. 1959) lebte von 1982 bis 1990 als Journalist in Managua und schrieb in diesen Jahren im New Yorker Guardian sowie in spanischen, italienischen und mexikanischen Zeitungen. 1994 promovierte er an der University of New Mexico in Albuquerque und ist seit 2001 Professor für Soziologie an der University of California in Santa Barbara.

Literatur

(Internationale, Vierte, 12. Weltkongress): „The dictatorship of the proletariat and socialist democracy“, International Viewpoint, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article921.

(Internationale, Vierte, 12. Weltkongress): Für Rätedemokratie und Arbeiterselbstverwaltung. Thesen des XII. Weltkongresses der IV. Internationale (1985) über sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats, Frankfurt a. M.: isp-Verlag, 1985, (isp-pocket, [Nr.] 11). – 78 S.

Mandel, Ernest: Europe versus America? Contradictions of Imperialism, aus dem Deutschen übersetzt von Martin Rossdale, London: NLB, 1970. – 139 S.
Originalausgabe: Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1968, (res novae, Bd. 64).
Französische Ausg.: La réponse socialiste au défi américain, aus dem Deutschen übersetzt von L. Roux, Paris: François Maspero, 1969, (Cahiers libres, Bd. 153).

Mandel, Ernest: The Formation of the Economic Thought of Karl Marx 1843 to Capital, aus dem Französischen übersetzt von Brian Pearce, New York u. London: Monthly Review Press, 1971. – 223 S.
Britische Ausg.: London: NLB, 1972.
Originalausgabe: La formation de la pensée économique de Karl Marx de 1843 à la rédaction du ,Capital‘. Étude génétique, Paris: François Maspero, 1967, (textes à l’appui).
Dt. Ausg.: Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1843‒1863), aus dem Französischen übersetzt von Gisela Mandel, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt; Wien: Europa Verlag, 1968, (Politische Ökonomie. Geschichte und Kritik).

Mandel, Ernest: From Stalinism to Eurocommunism. The Bitter Fruits of ,Socialism in One Countryʻ, aus dem Französischen übersetzt von Jon Rothschild, London: NLB, 1978. – 223 S.
Originalausgabe: Critique de l’eurocommunisme, Paris: François Maspero, 1978, (petite collection maspero, Bd. 188).
Dt. Ausg.: Kritik des Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus? aus dem Französischen übersetzt, Berlin: Verlag Olle & Wolter, 1978.

Mandel, Ernest: An Introduction to Marxist Economic Theory, aus dem Französischen übersetzt, New York: Young Socialist Alliance, 1967, (a young socialist pamphlet). ‒ 78 S.
Originalausgabe: Initiation à la théorie économique marxiste, Paris: CCES, 1964, (Les Cahiers du Centre dʼEtudes Socialistes, Nr. 39–41).
Dt. Ausg.: Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie, aus dem Französischen übersetzt, Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik, 1967, (probleme sozialistischer politik, Bd. 3).

Mandel, Ernest: Late Capitalism, [aus dem Deutschen] übersetzt von Joris De Bres, London: New Left Books, 1975. – 599 S.
2. englischsprachige Ausg.: London: NLB, 1976.
Originalausgabe: Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1972, (edition suhrkamp, Bd. 521).
Dissertation, Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin, 1972.

Mandel, Ernest: Long Waves of Capitalist Development. The Marxist Interpretation, Cambridge, London, New York, La Rochelle, Melbourne, Sydney: University Press; Paris: Editions de la Maison des Sciences de lʼHomme, 1980, (Studies in Modern Capitalism, Etudes sur le capitalisme moderne). – VIII, 151 S.
2. Ausg.: Long Waves of Capitalist Development. A Marxist Interpretation, London u. New York: Verso, 1995.
Dt. Ausg.: Die Langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung, aus dem Englischen von Angelika Meixner, Frankfurt a. M.: isp-Verlag, 1983.

Mandel, Ernest: Revolutionary Marxism Today, hrsg. von Jon Rothschild, London: NLB, 1979. –XII, 236 S.
Dt. Ausg.: Revolutionärer Marxismus heute, Frankfurt a. M.: isp, 1982.

Mandel, Ernest: The Second Slump. A Marxist Analysis of Recession in the Seventies, [aus dem Deutschen] übersetzt von Jon Rothschild, London: NLB, 1978. – 212 S.
2. Ausg.: 1980.
Beruht auf Teilen von Ernest Mandels und Winfried Wolfs Buch Ende der Krise oder Krise ohne Ende? Bilanz der Weltwirtschaftsrezession und der Krise in der Bundesrepublik, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1977, (Politik, Bd. 78).

[Mandel, Ernest]: „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats. Resolution des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“ [aus dem Französischen übersetzt?], in: Inprekorr. Internationale Pressekorrespondenz, Frankfurt a. M., Nr. 84/85, 28. Juli 1977, S. 3‒16.

[Mandel, Ernest]: Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats. Resolution des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Frankfurt a. M.: ISP-Verlag, Internationale Sozialistische Publikationen, 1978, (Rote Hefte, [Nr.] 15). – 34 S.
„1. Auflage Juni 1978“ (Impressum, S. [4]).
DM 3,20 (vierte Umschlagseite).

Robinson, William I.: Global Capitalism and the Crisis of Humanity, New York usw.: Cambridge University Press, 2014. – X, 246 S.

Robinson, William I.: The Global Police State, London: Pluto Press, 2020. – 208 S.

Robinson, William I.: Into the Tempest. Essays on the New Global Capitalism, Chicago: Haymarket Books, 2018. – XII, 270 S.


[i] William I Robinson u. Yousef K. Baker, „Savage Inequalities: Capitalist Crisis and Surplus Humanity“, in: International Critical Thought, Bd. 9, 2019, Nr. 3, S. 376‒393; https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/21598282.2019.1649171?journalCode=rict20 (30. 08.2019).

[ii] Mutiny ist eine Organisation der radikalen Linken in Großbritannien: https://www.timetomutiny.org/?fbclid=IwAR3RXc9I4B2Evw530sG3RFZ7rzuK3OYmB0uiJAW79IUasXobwATLyP3zFFA.

[iii] William I. Robinson, „Beautiful Struggle. Fascist Threat“ (1. Juni 20,20), https://www.timetomutiny.org/post/beautiful-struggle-fascist-threat

[iv] Zu Anti*Capitalist Resistance (# Organise, # Learn, # Resist) siehe: https://www.anticapitalistresistance.org (Anm. d. Bearb.).

[v] https://www.facebook.com/Anticapitalist-Resistance-100300531777352/?epa=SEARCH_BOX.

[vi] Siehe aber Manuel Kellners Artikel „The work of Ernest Mandel, a significant legacy for revolutionary combat in the 21st century“ auf International Viewpoint, http://internationalviewpoint.org/spip.php?article6733. [Auf Deutsch in die internationale, Nr. 5/2020, September/Oktober 2020, S. 3–10, sowie https://intersoz.org/das-werk-von-ernest-mandel.]

[vii] Ernest Mandel, „Dictatorship of the Proletariat and Socialist Democracy (1985)“, Marxist’s Internet Archive, https://www.marxists.org/archive/mandel/1985/dictprole/1985.htm.
[Von Ernest Mandel stammt ein Entwurf, der vom Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale in die Debatten vor einem Weltkongress eingebracht und in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurde, auf Deutsch: „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“, in: Inprekorr, Nr. 84/85, 28. Juli 1977, S. 3‒16.
Nachdem die Debatte auf dem 11. Weltkongress (November 1979) nicht abgeschlossen werden konnte, ist auf dem 12. Weltkongress (Januar 1985) eine kollektiv überarbeitete und erweiterte Fassung angenommen worden; auf Deutsch veröffentlicht als kleines Buch: Für Rätedemokratie und Arbeiterselbstverwaltung. Thesen des XII. Weltkongresses der IV. Internationale (1985) über sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats, Frankfurt a. M.: isp-Verlag, 1985.
Auf Englisch: „The dictatorship of the proletariat and socialist democracy“, International Viewpoint, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article921.]

[viii] Wesentliche Quellen zu Mandel und seiner Zeit sind die Biographie von Jan Willem Stutje (Ernest Mandel: A Rebel’s Dream Deferred, London u. New York: Verso 2009) und die Autobiographien von Daniel Bensaid (An Impatient Life. A Political Memoir, London u. New York: Verso, 2013) und Livio Maitan (Memoirs of a Critical Communist. Towards a History of the Fourth International, [London]: Resistance Books; Amsterdam: IIRE; Dagenham: The Merlin Press, 2019).
[Davon liegen bis jetzt auf Deutsch vor: Jan Willem Stutje, Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923‒1995), Hamburg: VSA-Verlag, 2009; Daniel Bensaïd, Ein ungeduldiges Leben. Politische Autobiografie, Hamburg: Laika-Verlag, 2016.]
Siehe auch https://www.marxists.org/archive/mandel/index.htm.

[ix] Penelope Duggan, „The Feminist Challenge to Traditional Political Organisations“ (Vortrag auf Konferenz von „Historical Materialism“), 2013, https://solidarity-us.org/p4047/; [zuerst auf International Viewpoint, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article3186.
Frühere Fassung, die auf einen mehrfach, zuerst 1991 gehaltenen Vortrag zurückgeht: „The Feminist Challenge to Traditional Political Organizing (1997)“, in: Penelope Duggan (Hrsg.), Women’s Liberation and Socialist Revolution. Documents of the Fourth International, 2. Aufl., Amsterdam: International Institute of Research and Education; London: Resistance Books, 2010, (Notebooks for Study and Research, Nr. 48), S. 192–221.]

[x] https://www.plutobooks.com/9781786806666/the-global-police-state/

[xi] William I. Robinson, „The Next Economic Crisis? Digital Capitalism and Global Police State“, 19.10.2017, https://risingpowersproject.com/the-next-economic-crisis/

[xii] Der Begriff Boogaloo-Bewegung bezeichnet militante, rechtsextreme, lose organisierte Gruppierungen in den USA, die erstmals im Frühjahr 2020 in der Öffentlichkeit auftraten. Mitglieder der Gruppe sehen sich selbst als Miliz von „Libertären“, Anhängern des „Libertarismus“ und der „Libertarian Party“, und geben an, sie wollten sich auf einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg vorbereiten, den Boogaloo. Ihre meist männlichen Anhänger, sogenannte Boogaloo Boys (oder Boog Bois), verbreiten ihre Thesen hauptsächlich auf „sozialen Medien“ und treten bei verschiedenen Protestaktionen in voller Bewaffnung auf. (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Boogaloo-Bewegung) (Anm. d. Bearb.)

[xiii] William I. Robinson, „The Global Police State“, 11.6.2020, https://www.timetomutiny.org/post/the-global-police-state.

[xiv] https://en.wikipedia.org/wiki/Lockheed_Martin_F-35_Lightning_II; https://www.16af.af.mil/News/Article/2112873/multi-domain-operations-bridging-the-gaps-for-dominance/; https://www.cubic.com/news-events/blogs/engineering-us-armys-tactical-network-multi-domain-dominance.

[xv] Erebus Wong, Lau Kin Chi, Sit Tsui, Wen Tiejun, „One Belt, One Road. China’s Strategy for a New Global Financial Order“, in: Monthly Review, Jg. 68, Nr. 8, Januar 2017, https://monthlyreview.org/2017/01/01/one-belt-one-road/.

[xvi] https://en.wikipedia.org/wiki/Project_for_the_New_American_Century .

[xvii] William I. Robinson, Into the Tempest. Essays on the New Global Capitalism, Chicago: Haymarket Books, 2018; John Bellamy Foster, „Late Imperialism. Fifty Years after Harry Magdoff’s The Age of Imperialism“, in: Monthly Review, Jg. 71, Nr. 3, Juli/August 2019, https://monthlyreview.org/2019/07/01/late-imperialism/.

[xviii] Bryant William Sculos, „,Campismʻ and the ,Newʻ (Anti-) Imperialisms“, in: New Politics, Jg. XVIII, Nr. 1 (69), Sommer 2020 https://newpol.org/issue_post/campism-and-the-new-anti-imperialisms/ .

[xix] John Smith, „A Critique of David Harvey’s Analysis Imperialism“, Monthly Review online, 26. August 2017, https://mronline.org/2017/08/26/a-critique-of-david-harveys-analysis-of-imperialism/; überarbeitete Version: John Smith, „David Harvey Denies Imperialism“, Review of African Political Economy, 10. Januar 2018, http://roape.net/2018/01/10/david-harvey-denies-imperialism/
Siehe auch: Adam Meyer, „Dissolving Empire: David Harvey, John Smith, and the Migrant“, Links. International Journal of Socialist Renewal, 1. September, http://links.org.au/dissolving-empire-david-harvey-john-smith-migrant; James Parisot, „The Real History of Imperialism: A Comment on Recent Debates“, Review of African Political Economy, 28. Februar 2018, http://roape.net/2019/02/28/the-real-history-of-imperialism-a-comment-on-recent-debates/; Steve Ellner, „David Harvey’s New Thesis That ,Capitalism Is Too Big to Failʻ, Is It?“, 5. Juli 2020, http://links.org.au/david-harvey-new-thesis-capitalism-is-too-big-to-fail. (Anm. d. Bearb.)

[xx] Die Grupo Carso ist die Dachgesellschaft von Unternehmen des mexikanischen Milliardärs Carlos Slim; ausführlicher: https://en.wikipedia.org/wiki/Grupo_Carso. (Anm. d. Bearb.)

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